Zwischen Kognition, Homöostase, Priorisierungen und Strategie

Der Versuch einer einfachen Beschreibung des Bewusstseins

Einleitung

Über die Entwicklung und Wirklichkeit des Phänomens Bewusstsein gibt es unzählige Theorien und Geschichten, die sich in Bezug zu Inhalt und Zielsetzung fast alle in entscheidender Weise unterscheiden. Sucht man nach einer Definition des Begriffes, zum Beispiel bei Wikipedia, bekommt man schnell eine sehr lange Latte an Beispielen.



Das Inhaltsverzeichnis dazu sieht ungefähr wie nachfolgend aus:

Bewusstsein in der Philosophie: Bewusstsein als Rätsel, Das Qualiaproblem, Das Intentionalitätsproblem, Innenperspektive und Außenperspektive, Bewusstsein, Materialismus und Dualismus

Bewusstsein in den Naturwissenschaften: Neurowissenschaften, Psychologie, Kognitionswissenschaft

Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein als Bewusstsein vom Selbst, Philosophie, Psychologie, Selbstbewusstsein als Bewusstsein von mentalen Zuständen

Bewusstsein bei Tieren: keine Erkenntnisse

Bewusstsein in den Religionen: Abrahamitische Religionen, Hinduismus und Buddhismus

Nun ist eine solche Breite in der Definitionsfrage dieses Begriffes genau die Grundlage, die dazu einlädt, diesen Begriff als „undefinierbar“ zu bezeichnen. Wenn jeder Wissenschaftszweig, jede Religion und jede Sprache eine andere Definition zugrunde legt, ist sozusagen das Chaos schnell perfekt.

Erster Versuch einer Definition von Bewusstsein

Beginnen wir als bei dem uns zugänglichen einfachsten Lebewesen, den Einzellern. Nach Damasio [1. Wie wir denken, wie wir fühlen, S.14, Antonio Damasio, Hanser-Verlag.] sind sie intelligent auf eine bemerkenswerte Weise. Sie nutzen aber weder Geist noch Bewusstsein, sondern eine Art von Kognition, die es ihnen ermöglicht, mit ihrer Umwelt zurecht zu kommen und über ihr Leben und dessen Fortbestehen zu bestimmen. Damasio nennt dieses „nicht-explizite Fähigkeiten“, also eindeutig vorhandene Fähigkeiten, und bekennt im „nicht“, das sie einer mentalen Betrachtung, wie sie heute im wissenschaftlichen Denken üblich sein sollte, verborgen bleiben. Alle Lebewesen verfügen über diese Fähigkeiten. Sie sind die Grundlage für Leben. Diese sind auch beim Menschen vorhanden und zu erkennen, aber wohl mehr durch ihr Wirken als durch ihre beobachtbaren Aktivitäten. Neben diesen verwendet der Mensch weitere Fähigkeiten, die wir als Kreativität und Vernunft beschreiben könn(t)en. Diese erweisen sich deutlich besser erforschbar und sind daher, zumindest glauben das die damit beschäftigten Wissenschaften, auch explizit schon erforscht.

Spätestens mit der Entwicklung und Ausbildung eines Nervensystems beginnt der ein Prozess bei allen Lebewesen, den man gerne als „geisthaft“ beschreiben kann. Dieser stellt sich dar wie ein ständig aktualisierter Strom von Daten, die etwas über die direkte Umwelt (über die Sinnesorgane) als auch den Zustand des eigenen Organismus (über dem Körper eigene Detektionssysteme) aussagen. Dieser Strom steht mit den nicht-expliziten Fähigkeiten in einen beständigen Austausch und Abgleich und sichert auf diese Weise den Fortbestand des Lebewesens auf beeindruckende Weise. Ich werde diese Mischung aus expliziten Fähigkeiten und Sinnes-Daten erst einmal „Lebensstrom“ nennen.

Erst die darauf entwickelte Vergrößerung und Erweiterung der Nerven und Gehirn-Areale ermöglicht es, dem Lebensstrom Bilder zu entnehmen und abzuspeichern und erlaubt es dem Lebewesen, sich ihrer zu erinnern. Die sich daraus ergebende Fähigkeit, erinnernde Bilder mit dem laufenden Lebensstrom abzugleichen und daraus Nutzen zu ziehen, würde ich Geist nennen wollen. Zu finden ist dieser in allen komplexen Lebewesen, die über ein ausgebildetes Nervensystem verfügen und sich damit in ihrer Welt orientieren können/müssen. Mindestens das gesamt tierische Leben verfügt über Geist. Neuere Forschung, die auch Pflanzen und Insekten bzw. Insektenstaaten Geist zuschreiben, sind zwar spannend und interessant, bilden aber für diesen Artikel und seinem Thema wenig Nutzen.

Bewusstsein in dem gesuchten Sinn findet sich überwiegend erst in Säugetieren, zu denen auch der Mensch gehört. Vielleicht können wir das, was bisher von mir benannt wurde, als die archaische Lebenswelt bezeichnen, was aber nicht auf die Bedeutung altertümlich, vorzeitlich oder frühzeitlich, sondern auf eine prä-bewusste Kognition hindeutet. Mit dem Bewusstsein kommt eine ganz neue Weise der Orientierung eines Lebewesens in die Welt. Aus dem Bilderstrom des Geistes bilden sich verschiedene Eingrenzungen, Zusammenfassungen und Deutungen heraus, die zu perspektivischen Sichtweisen führen. Ganz herausragend in diesen Neuerungen ist die Perspektive, die den Lebewesen ein „Ich“ ermöglichen, das sich in einer Welt befindet und/oder von ihr umgeben ist. Das Wesen erkennt sich selbst (seinen Körper) letztlich als eine Einheit, die von anderen Einheiten oder Dingen umgeben ist. Dieses Ich-Erkennen ist in meiner Vorstellung die erste Form eines Bewusstseins. Weitere Perspektiven, die darauf nahezu automatisch folgen mussten, sind verbunden mit den Wesen, die neben und mit diesem Ich in der Welt sind. Wir können das die „Wir/Die“-Sichtweisen nennen. Alle Perspektiven haben die Neigung, die Welt aus einer bestimmten, zuvor festgelegten Eingrenzung zu betrachten. Dazu gehören auch die bekannten Grenzziehungen, die wir heute Freunde, Partner, Familien, Gruppen, Völker, Staaten, Ethnien und so weiter nennen, die dann alle entweder unter „Meine“ oder unter „Die Anderen“ fallen können.

Nahezu alle heute üblichen Beschreibungen über die Entwicklung von Geist, Vernunft, Verstand und Bewusstsein beschäftigen sich letztlich mit den Ausprägungen dieser perspektivischen Betrachtungsweisen. Gebser zum Beispiel betrachtet nach der archaischen Bedingung das magische, das mythische und das mentale Bewusstsein und vermutet, das unterschiedliche Raum und Zeit-Wahrnehmungen eine große Rolle spielen könnten und prognostiziert eine sich entwickelnde neue diaphane Ebene, die im Kommen sei. Andere Autoren arbeiten mit Entwicklungsstufen verschiedenster Nomenklatur und anderen Teilungen der Gesamtentwicklung in Abschnitte. Weitere andere verfolgen die Entwicklung des Bewusstseins an unseren Kindern. Ihnen allen aber, und das ist für mich der ganz mächtige Haken, ist gemeinsam, das sie sich alle auf Teile des Bewusstseinsstromes beschränken, mit anderen Worten auf die Perspektiven der Betrachtungen und vergessen dabei die drei anfangs genannten Phänomene, die ich die nicht-expliziten Fähigkeiten, den Lebensstrom und Geist genannt habe. Diese drei, die in nahezu allen Kulturen so massiv im Schatten der Perspektiven verschüttet wurden, aber hatten sich über Jahrmillionen bewährt und wären wohl auch heute noch in der Lage, auch ohne Bewusstsein, das (Über-)Leben zu meistern. Und ich denke, das diese einfachste Meisterung nicht einmal halb soviel unserer Lebensgrundlagen zerstören würde wie wir das heute mit unserem Bewusstsein und seinen Prägungen Tag für Tag tun.



Worauf will ich hinaus?

Wie wir oben gesehen haben, beruht unser Leben auf der organischen Basis des Körpers. Wir brauchen ihn, um zu leben, und wenn er stirbt, fällt auch der Geist, zumindest konnte man bisher keinen verstorbenen Geist auf unserer Welt nachweisen und in andere Welten können wir nicht vordringen. Es gibt darüber viele Theorien, große Geschichten, aber sehr sehr wenig gesicherte Substanz. Und auch die Verbindung von Lebensstrom zu Geist ist von großer Bedeutung. Das nämlich ist unsere Grundlage, unsere geistige Basis, unser Grund, der nach wie vor relativ sich gestaltet, unter den wir aber nicht werden vordringen können. Aus dem Zusammenspiel der drei bilden sich Perspektiven, die somit alle auf Auswahl und Eingrenzung beruhen. Das ist auch sinnvoll. Aber bald schon in der Ausbildung des Bewusstseins wurden diese wenigen ausgewählten Perspektiven zu einer neuen Basis, auf der weitere Perspektiven entstanden sind. Und diese wurden wiederum zur Basis von neuen Perspektiven, die weitere Perspektiven erschufen, und so weiter und so weiter. Und auf jeder dieser neuen Ebenen sieht der jeweilige Denker nur noch die ihm bekannte und zugrunde gelegten Perspektiv-Ebenen und vergisst dabei sowohl die vorausgegangenen anderen Setzungen als auch den Grund darunter. Aber diese Ebenen sind da und sie sind nach wie vor wirksam.

Die Begrifflichkeiten von Jean Gebser

Magisch: Nehmen wir uns jetzt einmal eine solche Perspektiv-Ebene vor und erkunden ihre Auswirkungen. Ich beginne zuerst mit der Ebene/Stufe, die Gebser als magisch bezeichnet hat. Die Worte Magie und magisch weisen auf auf das Adjektiv geheimnisvoll mit den Bedeutungen, über die auch rätselhaft, unergründlich oder auch dunkel (verborgen) etwas aussagen. Das wir heute auch Zauberkräfte mit diesem Wort verbinden, ist leider etwas ungeschickt, denn Magie (Geheimnis) ist nicht Zauber, sondern Zauber beruht eher auf der Voraussetzung magischen Empfindens und Handelns. Erst kommt das Geheimnis, dann der Zauber dazu und darüber. Irgendwann begann der Mensch damit, Naturphänomene und Natur-Eigenschaften mit Göttern, die in der Umwelt wohnen und sich ausdrücken, zu verbinden. Naturphänomen waren zum Beispiel die Sonne, der Mond, das Meer, Blitz und Donner, Wasser, Wetter und so weiter. Eigenschaften der Natur waren beispielhaft die nächtliche Dunkelheit, die Fruchtbarkeit der Böden, die Fruchtbarkeit und Gesundheit der Menschen oder die Mächtigkeit der Berge. Wenn diese Phänomene zuschlugen, Freunde einfach starben, die Ernte verdarb oder die Natur sich unwirklich verhielt, begannen findige Menschen zu versuchen, die damit verbundenen Götter (in Geschichten überliefert und weitergetragen…) zu besänftigen, in dem man Opfer darbrachte, Beschwörung ausrichtete oder anderen Zauber anwandte. Es bildeten sich Gruppen von Menschen heraus, die im Zaubern (Wahrsagen, Einfluss auf Götter nehmen können, Zeichen deuten…) besonders begabt erschienen und sich daher fast ausschließlich dieser Aufgabe widmeten und von den anderen dafür versorgt und entlohnt wurden. Andere Menschen waren begabt darin, zu organisieren und Gemeinschaften zu bilden, deren Zusammenhalt größere Sicherheit versprach. Andere wiederum waren begabte Kämpfer und Krieger, die große Kraft ausstrahlten, und in der Auseinandersetzung mit den Anderen größere Erfolge versprach. Unter dem Einfluss dieser Entwicklung entstanden die Phänomene Macht, Religion und Krieg, die sich in den darauf folgenden Entwicklungsebenen und weiteren Perspektiv-Bildungen eine herausragende Grundlage lieferten. Diese drei bildeten die wirk-mächtigsten Motive zur Auswahl der Perspektiven, die für die Weiterentwicklung der Kulturen heutiger Prägung von Bedeutung wurden und somit viele andere Sichtweisen in die Verborgenheit verdrängten. Auch die Ich- und Wir-Perspektiven wurden übernommen und weitergetragen, und zwar in beiden Formen: Ich/Wir auf der einen, Der/Die auf der anderen Seite. Man erkennt unschwer die Geburt dessen, was wir heute Dualismus nennen, und damit die Abschwächung der vielen Grautöne zwischen den Gegensätzen, und man erkennt die ersten Herausbildungen von Herrschaftsstrukturen, die im Dualismus gefangen auch gleichzeitig zu Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen wurden. Viele Magische Elemente (Zauber, Macht, Krieg) sind bis heute erhalten geblieben und beeinflussen uns auch heute noch. In den Erzählungen darüber wird meist von Epochen berichtet, in den Frieden herrschte und die Götter dem Volk wohlgesonnen waren und natürlich auch von den unzähligen Auseinandersetzungen zwischen den sich bildenden Gruppen.

Mythos: Wie wir oben (Magie) gesehen haben, beruht das magische Weltbild bereits auf einer Erzählung, denn irgendwoher müssen ja die Riten, die Zaubereien und Opferhandlungen, die allgemeine Gültigkeit erlangten, herstammen und sie müssen weitergetragen werden. Auch das mythische Weltbild beruht auf Erzählungen, jedoch sind diese nicht mehr ausschließlich mit Götterbildern verknüpft, sondern es gewinnen zusätzlich zu diesen auch Menschen an Bedeutung, die ich zunächst einmal als Helden bezeichnen möchte. Ganz besonders sind hier die Menschenführer genannt, die die in der magischen Zeit noch in kleinen Verbänden organisierte Menschheit zu größeren Einheiten, in Europa Fürstentümern oder sogar zu Reichen zusammenschließen konnten. Trotzdem wurden die in der magischen Epoche vorherrschenden Phänomene wie der Zauber und die Ich/Wir-Perspektiven auch in die mythische Zeit übernommen, nur eben durch vermehrtes Wissen in etwas abgeschwächteren Formen. Was ich als Mythos bezeichne ist die Zeit der Eroberer, der weisen Herrscher (z.B.: Die alten, noch heute hochverehrten Kaiser in China) und der großen reichen Städte, die ein hohes Identifikationspotential hatten. Ganz besonders beeindruckend belegen das die Inhalte der Erzählungen aus der jeweiligen Zeit; mit anderen Worten: Die Themen, die dazu ausgesucht wurden. Wie auch heute noch zu beobachten, hangeln sich diese von Ereignis zu Ereignis. In der mentalen Struktur erweitert sich das bereits ausgeformte Feld der Funktionen des Bewusstseins, wobei diese später meist nur noch von kriegerischen Auseinandersetzungen oder dem Wechsel der Epochen von Familiendynastien erzählen.

Die mentale Struktur: In der mentalen Geist/Bewusstseinsstruktur vereinzeln und spezialisieren sich die in den vergangenen Ebenen entwickelten Phänomene mehr und mehr. Religiöse Formen, herrschende Formen und kriegerische Auseinandersetzungen werden in ein Spezialistentum versetzt, was aber nicht heißt, das der Austausch zwischen ihnen, die gegenseitigen Beeinflussungen nachließen, im Gegenteil, die Verzahnungen zwischen den Funktionen wurde enger und enger, und es bildete sich Elitegruppen heraus, die diese drei Bereiche besetzt hielten. Diese wurden nach wie vor durch Familiendynastien und Verwandtschaftsbeziehungen gefüllt. Man denke dabei nur an den Begriff des „blauen Blutes“, die für eine adelige Abstammung sprach. Sowohl die Führung der Krieger/Militär, der Religion als auch der Herrscher wurde sozusagen aus einer Gruppe heraus beherrscht. Trotzdem gab es nach wie vor den Zauber in den breiten Schichten der Bevölkerung, nach wie vor waren Abstammung und Blutsverwandtschaft, waren Wir-Gruppen (…contra Die-Gruppen) in ganz entscheidender Weise am Geschehen beteiligt und sehr einflussreich. Und auch die Erzählungen haben sich im Verhältnis zum Mythos wenig verändert. Was sich veränderte, waren die Lebensräume, die durch die technischen Entwicklungen immer größere Ausmaße erreichten und daher immer größere Verwaltungen notwendig machten.

Ein kurz gefasster Zwischenstand: Was wir im großen und ganzen sehen können ist, das in der Ausbildung der Bewusstseinsebenen nicht abgeschlossene Bereiche entstanden und durch Neuerungen ersetzt wurden, sondern das sich bis zum heutigen rationalen Stand ein fließender, unregelmäßiger und nicht zu verallgemeinernder Prozess stattfand, der selbst innerhalb eines Volkes oder gar einer Familie durchaus unterschiedliche Tiefen erreichen konnte. Besonders die Elitegruppen eines Volkes besaß nahezu zu jeder Zeit deutlich mehr an Differenzierung und Bildung als das gemeine Volk oder gar die unterdrückten Schichten. Und auch heute noch zeigen sich die verschiedenen Stufen selbst innerhalb kleiner Einheiten. Ich denke daher nicht, das die Teilung in archaisch, magisch, mythisch, mental und rational in einer verallgemeinernden Form Gültigkeit haben sollte. Jede dieser genannten Stufen bildete einfach neue Perspektiven-Bündel heraus, die aus der ungeheuer großen Vielfalt der möglichen Perspektiven eine Auswahl darstellt, ohne allerdings so gradlinig bei allen Menschen anzukommen. Was wir aber immer wieder beobachten können ist die Neigung, die neu erwählten Bündel als eine neue Basis zu etablieren, unter die zu gehen als Rückschritt oder Regression angesehen wurde. Besonders deutlich ist das im letzten Schritt der Erzählung, die wir das rationale Bewusstsein nennen. Wir können diese Einteilungen in Stufen heute nur noch als ein grobes Mittel nehmen, um ohne großen Text eine Epochen-Prägung zu benennen, aber nicht als Maßstab für eine Beurteilung oder Wertung.



Das rationale Bewusstsein: Diese Stufe ist eng mit der mentalen Ebene verknüpft und stellt eine Pervertierung derselben dar. Heute ist die Welt in allen Räumen erforscht und besiedelt und es gibt nahezu keine Möglichkeiten mehr gibt, in weitere neue Räume und Abenteuer vorzustoßen. Das allgemeine Wissen und die technischen Möglichkeit sind so groß und breit, das sie von niemanden mehr überblickt werden können. Uns seien wir ehrlich, auch unsere Fortschritte in der Digitalisierung bieten da wenig Raum für mehr Übersicht. Wir haben in allen Belangen des Lebens einen so hohen Spezialisierungsgrad erreicht, das ein annähernd natürliches Leben eines Menschen zwischen Nahrungsbeschaffung, Unterkunft und Orientierung nicht mehr oder nur noch schwer möglich erscheint. Die Ich-Perspektive ist rein nur noch in wenigen privaten Räumen anzutreffen, es überwiegt das Wir-Gefühl und die Wissenschaft hoffte, mit der Globalisierung würden wir mehr und mehr die Die-Perspektiven verlieren. Aber das scheint nicht der Fall zu sein, denn eine wachsende Zahl an Menschen strebt zu ausschließenden Wir-Perspektiven zurück. Unser Wissen beziehen wir heute aus Spezial-Wissenschaften, die nicht mehr miteinander zu reden scheinen und so Techniken in die Welt setzen, die langfristig gesehen zum Scheitern verurteilt sind/sein müssen, weil sie den Bezug zur Ganzheit verloren haben. Wir streben immer mehr zu Nationalismus und Gruppendenken zurück, dabei brauchten die Probleme der Menschheit ein globales Zusammenarbeiten aller Völker. Klima und Pandemien zum Beispiel richten sich nicht nach Grenzen und Ethnien. Vielleicht ist klar geworden, was eine rationale Weltsicht bedeutet. Ich werde später noch im Detail einige der wichtigen Themen einzeln ansprechen.

Fazit: Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen wird schnell klar, das Bewusstsein im heutigen Gewand nicht etwas mit Zeit und Raumphänomen zu tun hat. Das kann nicht (mehr) in Stufen, Entfaltungen oder Entwicklungen gesehen werden, sondern das Ganze sollte als ein Prozess gelten. Der bewegt sich nicht in einer Richtung, sondern stellt aufgrund der Prägungen von Organismus und Umwelt jeweils eine Auswahl der machbaren Möglichkeiten/Perspektiven dar. Aus einer Vielzahl von Erklärungen werden die gerade in der Breite der Bevölkerung durchsetzbaren auswählt. Diese Auswahl ist dann eher mit einer Mutation vergleichbar, die nach einem zufriedenstellenden Bewältigungsmechanismus sucht, der der aktuellen Lage angemessen ist. Und dieser Prozess läuft nicht linear ab, sondern kann sich auch regressiv umkehren, wenn Organismus und Umwelt sich verändern oder das Leben sich erschwert. Ich denke, das sich heute die Menschheit schwer damit tut, vergangene Auswahlen loszulassen und/oder sich zu neuen Ufern zu bewegen. Bei Schwierigkeiten greifen wir lieber auf alte und gut bekannte sogenannte bewährte Auswahlen zurück. Wir glauben zwar, linear fortschrittlich zu denken, haben aber vergessen, das sich zyklische, regressive und selbst weiter zurückliegende Formen hervorragend geschlagen haben und vielleicht heute erneut wieder eine Lösung im neuem Gewand bieten könnten. Auf der anderen Seite bieten sich ständig neue Technologie-Ideen an, die Probleme aller Art in naher Zukunft endgültig lösen könnten. [2. Beispiele könnten sein das Herumspielen an genetischen Materialien, das Spielen mit Massenvernichtungswaffen, um Feinde zu vernichten oder die fortgesetzte rücksichtslose Plünderung der natürlichen Ressourcen, weil wir die irgendwann notwendigen Lösung schon noch rechtzeitig finden werden. Alle drei beruhen auf der Methode, das machbare auch zu tun, selbst wenn es große bis unabsehbare Risiken birgt.]. Zwischen diesen Extremen wanken wir seit Jahrzehnten hin und her, und ich denke, wir können in dieser Zeit nur Glück als Ursache dafür nennen, das es noch nicht laut geknallt hat.

Fassen wir zusammen, was bisher gesagt wurde: Das Aufkommen des Phänomens Bewusstsein beruht auf einem Prozess. Dieser ermöglicht auf der Basis eines organischen Organismus und einem Nervensystem die Ausbildung und Auswertung von perspektivischen Sichtweisen und Bildern. Durch die Vielzahl an Möglichkeiten, die sich daraus bildeten, wurde jeweils die Notwendigkeit geboren, Auswahlen zu treffen, und zwar sowohl aus der Masse der Perspektiven als auch aus der Vielzahl von Erzählungen und Techniken, die sich dann wiederum als Basis für neue Perspektiven, Erzählungen und Sichtweisen und Techniken etablierten. Dieser in vielen Zyklen ablaufender Prozess sorgt aus heutiger Sicht für die Vielfalt an Kulturen, die jeweils eine unterschiedliche kleine Zahl an auswählten Perspektiven als Grundlage für sich priorisierten. Da das Geschehen nicht linear abläuft, es niemals alle Teilnehmer der Gruppen erreichen konnte und auch nicht von allen übernommen wurde/werden konnte, entstand die Vielzahl von Sichtweisen auf Welt und Leben und deren Notwendigkeiten, die wir heute überall wahrnehmen. Selbst innerhalb der Kulturen an sich gibt es eine Vielzahl an Prägungen, die alle Bereiche der gezeigten Entwicklung umfassen können. Auch in der heutigen rationalen Weltsicht samt Aufklärung gibt es Zauber, Heldentum, sich in Ich und Wir ausdrückende Identifikationen und die allseits zu beobachtenden Dualismen, die letztlich auf ein „entweder, oder“-System hinauslaufen. Wir können eigentlich nicht sagen, auf welcher Bewusstseinsstufe wir leben (können/müssen/sollten). Das könnte sich morgen schon, durch Umweltkatastrophen, Kriege oder Seuchen oder auch durch Neuentdeckungen ausgelöst, grundlegend ändern. Letztlich aber sorgt nur das Basissystem Organismus/Umwelt für eine Form, die sich zum Überleben eignet, und nicht unsere gelebte Bewusstseinsstufe. Wir müssen erkennen, das wir (nach wie vor) nicht wissen, wie Leben entsteht und wie es geschützt werden kann. Das zu erkennen wird zur Zeit die hervorstechenste Notwendigkeit darstellen, die es zu berücksichtigen gilt. Dazu müssen wir uns nicht die Theorien und Visionen anschauen, die es in der Ratio so zahlreich gibt, sondern wir müssen uns die perspektivischen Auswahlen anschauen, die wir (sagen wir mal) in den letzten fünf Jahrtausenden getroffen haben und diese ständig neu anpassen und gestalten. Dazu gehört auch, alte Setzungen aufzuheben und neue Auswahlen zutreffen. Diese beziehen sich hauptsächlich auf die Felder Politik (Macht, Herrschaft), Wissen (Wissenschaft, Forschung, Bildung, Technik, Kultur) und Religion (Mythen, Erzählungen, Weisheit, Aufklärung), da auf Grundlage dieser Stichworte sich das Leben (samt Ernährung, Unterkunft und Beschäftigung) heute abspielt. Es wäre angesagt, sowohl die getroffenen Auswahlen und Setzungen als auch ihre Priorisierungen einer erneuten Hinterfragung zu unterziehen. Die dazu erforderlichen Gremien sollten sich aus Spezialisten dieser Themen und aus gesellschaftlich anerkannten Persönlichkeiten zusammensetzen und so gestaltet sein, das die Mitglieder während ihrer Tätigkeit nicht in aktuell anliegende Entscheidungen und Debatten involviert sein sollten. Weiterhin sollten die Gremien zumindest für eine bestimmte Zeit ihrer Arbeit abseits der medialen Aufmerksamkeit nachgehen können. Beispiel dafür könnten die unzähligen Think Tanks sein, nur das sich die Themen, die dort behandelt werden müssten, nicht im Sinne von Elitepositionen, sondern im Sinne der Menschheit und für die Erhaltung unseres Planeten und seiner Vielheit ausgearbeitet werden sollten. Dafür müssten die Gremien, um unabhängig zu sein, von der breiten Allgemeinheit finanziert werden.



Worüber wir reden sollten

Hier in diesem Abschnitt versuche ich einen Überblick zu geben, wie wir uns Bewusstsein vorstellen könnten und wie das Ganze in einem Überblick aussehen könne. Dazu verwende ich zunächst einmal Formatierungen:

Linksbündig erscheinen Begriffe, Aussagen und Definitionen, die nach heutigem Stand als belegbar oder erforschbar gelten.
Rechtsbündig erscheinen solche Begriffe…, die auch heute noch als verborgen gelten müssen und weder belegbar noch erforschbar gesetzt sind.
Mittelbündig erscheinen dann alle Begriffe…, die im Halbdunkel der Wissenschaft und Forschung stehen und daher häufig nur in Theoriebildungen vorliegen.

Über die rechtsbündig formatierten Stichworte wissen wir nichts und es ist unwahrscheinlich für die Menschheit, jemals über diese Inhalte genaueres zu erfahren. Ähnlich, aber mit einem niedrigerem Wahrscheinlichkeitsgrad verhält es sich mit den mittig formatierten Begriffen. Die linksbündig formatierten Begriffe unterliegen unserem Wissen.

Versuch einer Übersicht

Eindeutig belegbar

Sich im Halbdunkel befindend

Verborgen


HOMÖOSTASE

Nicht explizite Fähigkeiten
aller Lebenwesen


Lebewesen mit einem funktionalen
Nervensystem (Tiere)


Pflanzen ?


Speicherung, Erinnerung von Bildern zu(m)
– Eigenwahrnehmung
– Umgebung
– Nahrungsquellen
– Unterkunft und Schutzquellen


Auswertung der Bilder mit nachfolgenden
– ersten Priorisierungen
– Auswahlen für lebensnotwendige Handlungen
– erste Setzungen von Gewohnheiten


Ist das vielleicht die für das Denken des Menschen unüberwindliche Grenze ??!!


KULTUR

Weitere Setzungen aufgrund von
Gewohnheiten und Funktionalität

– Spezialisierung
– Kulturelle Grundannahmen
– Aufbau einer Herrschafts- und Machthierarchie


Weitere Setzungen, die sich aufgrund
der bisherigen Setzungen anbieten und
die Erfolg, Sicherheit und Wohlstand
versprechen


Weitere Setzungen

– dto…



Von der Homöostase zu Kultur

Wie man in dem Versuch einer Übersicht sehen konnte, gibt es zwischen der Auswahl lebensnotwendigen Handlungen, ersten Setzungen und Priorisierungen eine für dem Menschen in heutiger Gestalt überwindbare (?) Grenze. Diese Grenze zurück in Richtung Homöostase zu überschreiten würde die Bedingungen auslöschen, auf die das Mensch-Sein sich heute gründet. Wir können nicht zurück oder hinübergehen, ohne unser Bewusstsein, wie auch immer das definiert werden mag, zu verlassen, denn wir könnten dann unsere Erkenntnisse nicht zurücktragen. Hier irrt Platon mit seinem Höhlengleichnis. In der Homöostase sind die Grundlagen für unser Leben angelegt, und diese sind neben der Nahrungsbeschaffung die Aufrechterhaltung der notwendigen Handlungs- und Schutzmaßnahmen (Ruheräume, Revierabsicherung), die ein einzelnes Lebenwesen zum Überleben und die Gattung als Art (Fortpflanzung, Schutz des Nachwuchses) braucht. Diese Anlagen sind für uns heute zwar nachvollziehbar, ihr Entstehen aber entbehrt jeglicher möglicher Erklärung. Oder um es einfach auszudrücken: Wir wissen es nicht! Wir wissen weder, was das Leben an sich ist noch wie die ersten Regelungen zustande kamen, und wir sollten so ehrlich sein und das auch zugeben. Alle weiteren Ebenen würde ich einer kulturellen Entwicklung zuordnen, denn sie erfolgen aufgrund der im Abschnitt Homöostase dargestellten Grundlagen und sind damit für uns auch hinterfragbar. Irgendwo zwischen heute und dieser Grenze fanden all die Setzungen, Auswahlen und Gewohnheitsanfänge statt, denen wir uns heute ausgesetzt sehen. Und tatsächlich glaube ich, das wir so weit wie möglich dort hinabtauchen müssen, um andere und stabilere Grundlagen für unser Leben in der Zukunft zu finden. Beschäftigen wir uns daher etwas genauer mit diesem Bereich und fragen nach, ob die Entscheidungen von damals auch heute noch Gültigkeit besitzen (sollten). Und ich beginne jeden Abschnitt dieses Kapitels mit einer Frage.

Politik (Macht, Herrschaft)

Stimmt es wirklich, das das Zusammenspiel von mehreren oder vielen Menschen immer einer Führung bedarf, die sich meist in einer Person konzentriert?

Vom Familienoberhaupt über die Clanführer und Dorfältesten geht der bunte Reigen über Häuptlinge, Adelige, Fürsten und Könige bis zu heutigen Diktatoren, Präsidenten und Kanzler, die stets die Macht oder zumindest einen großen Teil davon auf sich vereinigen konnten. Und auch die Mittel und Rechtfertigungen dazu sind uns mehr als deutlich bekannt, die zur Festigung dieser Ämter verwendet wurden. Zuerst waren es immer wohl die Stärksten, die sich der Macht bemächtigen konnten, hier und da auch mal die Klügsten, dann kamen die Schlauen, die Hinterlistigen, die Brutalen und die Gierigen. Dann kamen die zur Macht, die sich gut organisieren konnten, sich verbünden konnten und/oder die größten Reichtümer besaßen. Und das hat sich nicht geändert bis zum heutigen Tag. Wollen wir das wirklich beibehalten? Brauchen wir dieses System wirklich auch heute noch, oder fällt uns da nicht doch etwas Besseres ein?

Mit der Demokratie steht uns doch ein sehr gutes und wirksames Mittel zur Verfügung, um von Missbrauch, Willkür und Gewalt Abstand zu nehmen. Trotzdem haben wir dieses Mittel immer wieder in die alte, unbrauchbare Richtung zurückgedreht. Heute werden zusehens immer mehr Demokratien (heutiger Prägung) in Richtung Oligarchie (Diktatur der Reichen), Ochlokratie (Diktatur der Mehrheit) und Faschismus (Diktatur der Rücksichtslosen) umgewandelt. Ist Demokratie einfach nicht funktional, müssen wir zurückweichen oder doch eher neue Schritte in Richtung einer größeren Beteiligung aller wagen? Und was wären eigentlich die Voraussetzungen, die letzteres zuließen? Sind wir uns als Volk dieser Aufgabe bewusst? Ich glaube: Nein. Wir müssen uns aber damit beschäftigen. Wie wollen wir sonst Kriege verhindern, das Klima retten, den Planeten erhalten und die vielen anderen Aufgaben wie Hunger, Krankheit und andere Katastrophen verhindern? Wie soll das gehen, wenn wir nicht alle gemeinsam an einem Strang ziehen? Wollen wir uns wirklich auf das Hoffen beschränken, das sagt: Es wird schon weiterhin irgendwie gutgehen?

Wissen (Wissenschaft, Forschung, Bildung, Technik, Kultur)

Unsere Zivilisation baut auf Wissen auf, das wir mittels Forschung, Entwicklung und Technik in unser Lebensgefüge einbauen. Dazu benötigt wird im heutigen Verständnis so etwas wie Bildung, das dann mit den Erstgenannten zusammen als Kultur betrachtet wird. Soweit wir zurückblicken können hat uns das wirklich sehr weit gebracht. Das stimmt, aber heute sehen wir, das wir diesen Weg so wie gewohnt nicht weiter gehen können. Unser Erfolg beruht auf der Ausbeutung der Natur. Und er beruht auf der Ausbeutung von Menschen durch den Menschen. Er wird begleitet von Not, Gewalt, Misstrauen, Angst, Aussichtslosigkeit und was sonst noch so alles. Lässt sich das wirklich nicht ändern?

Müssen wir auch hier wirklich zurückweichen in verlassene Positionen, wie das heute vielfach geschieht? Ist mehr Technik wirklich die Lösung für ein gutes Leben? Und sprechen nicht die relativ armen, mit relativ wenig Technik ausgestatteten Völker, die die Glücks-Statistiken seit deren Einführung anführen, nicht doch eine andere Sprache?

Meiner Meinung nach müssen wir die zahlreichen Setzungen, die der Wissenschaft und deren Wirken in das Leben hinein zugrunde liegen, hinterfragt werden. Wir können uns doch nicht darauf berufen, das sich irgendwann einmal in der Zukunft die passende Lösung schon finden lassen wird. Das ging früher einmal, als die Radien der Technik noch gering waren. Heute, bei globaler Reichweite, geht das nicht mehr. Beispiele gibt es reichlich. Die wichtigsten sind doch wohl die Entwicklung von Atomwaffen und die Nutzung von Atomkraftwerken, wo wir doch gar nicht wissen, wie deren Abfälle sicher entsorgt werden können. Da muss es noch nicht einmal Kriege oder Unfälle geben, die uns damit konfrontieren. Das alleinige Vorhandensein ist schon genug, um unbewältigte Probleme zu zeugen. Weitere Probleme bereitet die Herstellung von Kunststoffen, deren Entsorgung zwar möglich, aber noch immer zu teuer zu sein scheint.

Religion (Mythen, Erzählungen, Weisheit, Aufklärung)

Lange Zeit bildeten religiöse Ideen in Form von Erzählungen, Mythen und Weisheitsdichtungen das gesellschaftliche Fundament aller Menschen-Gemeinschaften. Wenn man sich heute diese Geschichten (Narrative) ansieht, wird man sehen müssen, das alle Hinweise einen Kern enthalten, der auf den Anteil der Homöostase im Geiste/Bewusstsein des Menschen hindeutet. Bis zur Aufklärung war Religion die einzige wirkliche Ordnung, die alle Bereiche des Lebens umschloss. Heute hat die Religion und ihre Verwandten nur noch einen geringen Anteil am Lebensgefüge zumindest des westlich rational geprägten Erdenbewohners. Heute sprechen wir mehr von Weltbildern, Staatstheorien oder Dogmen, wenn wir uns auf eine Ordnung beziehen wollen. Das fatale daran ist, das wir zunehmend den homöostatischen Kern vergessen (haben), der uns letztlich begründet. Wir bewegen uns sozusagen nur noch in den Bereichen der Kultur. Da es viele Kulturen gibt, gibt es immer wieder Streit und Auseinandersetzungen um den richtigen Weg. So aber ist Ganzheit in der Welt nicht möglich, denn der Bezug zur Wirklichkeit verschwindet aus dem Gesichtsfeld zugunsten einer Theorie oder eines Abbilds, welche ich weiter oben Perspektiven von Perspektiven genannt habe. Wir verlieren den Bezug zum (unbekannten) Leben.

In vielen Weisheitsdichtungen ist maßvolles Handeln, maßvolle Ausübung von Macht und eine maßvolle Auslegung von „Haben und Sein“ das grundlegende Thema. Wir können den Planeten, der uns trägt, nicht über seine Regenerationsgrenze hinaus ausbeuten. Wir können Macht und Herrschaft auf Dauer nicht so ausüben, das das Gebaren Widerstand erzeugt. Wir müssen die Themenbereiche Gleichheit und Gerechtigkeit in unsere Überlegungen einbeziehen, sonst ist Zusammenarbeit nicht möglich. Und wir müssen nicht nur dem Menschen, sondern auch den anderen Lebensformen Lebens- und Entwicklungsraum ermöglichen. Das Leben in seiner Gesamtheit ist eine Kette. Wenn wir wichtige Glieder darin zerstören, wird alles Leben in Gefahr geraten. Wir wissen zu wenig darüber, um heute schon endgültige Entscheidungen zu treffen.

Ernährung, Unterkunft und Beschäftigung

Wir erfahren heute immer mehr Informationen darüber, wie sich die Lebenswelt entwickelt, zu deren Ausbeuter wir uns aufgeschwungen haben. Und diese Berichte sagen aus, das wir zu viel und zu oft über das Maß hinaus schießen, das die Natur bräuchte, um (noch) regenerieren zu können. Wir fischen die Meere leer, zerstören unsere Anbauflächen durch Überdüngung und chemische Mittel, wir roden die Wälder und versiegeln/verzäunen immer mehr Flächen, die eigentlich Pflanzen und Tieren vorbehalten sein sollten. Und vom Abfall der Industrien, der ja auch irgendwie entsorgt werden muss, haben wir schon gesprochen. Trotzdem müssen sich nach wie vor alle Lebewesen ernähren, müssen atmen können und wollen auch die Menschen in einem natürlichen Umfeld zumindest ihre Freizeit verbringen. All das zusammen funktioniert heute schon nicht mehr, und die Zuwachsraten der Menschheit lässt auch in Zukunft keine Besserung erwarten. Hier müssen dringend Lösung gefunden werden.



Das Bewusstsein ist das Problem, aber auch die Lösung

Alle denkbaren Bewusstseinsstufen des Menschen heute sind unterwegs zur mentalen Ebene, wie sie weiter oben beschrieben wurde. Aus dem Magischen und Mythischen geht es zu mehr Breite zur mentalen Ebene, aus dem Rationalen muss es zurückgehen aus der Perversion auf die funktionale Ebene. So würde Gebser das wohl beschreiben. Und wenn die entscheidende Masse im Mentalen angekommen ist, müsste es zielstrebig weiter ins diaphane Bewusstsein gehen. Wie diese Stufe letztlich aussehen wird, wissen wir heute (noch) nicht. Angesichts der Probleme allerdings, die wir heute weltweit sehen, kann man deutlich die Perspektiven erkennen, die aus den Problemen herausführen könnten. Es gäbe viele Möglichkeiten. Neben neuen Technologien, die alle Probleme lösen, könnte zum Beispiel das Reduzieren der Menschheit eine Perspektive darstellen. In drei Generationen mit einer Einkind-Politik ließe sich das verwirklichen.

Was sich auf jeden Fall sagen lässt ist, das ein zurück in die dunkleren Phasen der Bewusstseinsgeschichte nicht funktionieren kann. Wir müssen uns als Menschen in großer Zahl auf der Ebene einfinden, auf der eine Weiterentwicklung möglich sein kann. Das ist, nach heutigem Wissen die vollständig ausgebildete mentale Bewusstseinsstruktur. Diese enthält die vorgängigen Strukturen in sich, erkennt diese auch an und erweitert so den Schatz an Erfahrung soweit, das sich neue Wege ergeben könn(t)en. Das ist der Stand der Geisteswissenschaften, der Stand der Historienforschung und der Stand der allgemeinen Naturwissenschaften heute. Und so sprechen auch viele spirituelle Traditionen seit alters her. Entwicklung benötigt die Akzeptanz und Offenheit gegenüber allen durchlaufenen Stationen unserer Geschichte. Wir können und dürfen das Alte nicht vergessen und dürfen uns nicht ausschließlich einem Neuen, sei es bekannt oder auch nur erwünscht, zuwenden. Das widerspricht allen Erfahrungen der Menschheit. Wichtig ist aus meiner Ansicht heraus, die uns zugänglichen Perspektiven und Setzungen zu hinterfragen und bessere, weitsichtigere Setzungen zu finden.

Und wozu soll das bisher geschriebene alles gut sein?

Diese Frage stellt sich eigentlich [1. Eigentlich: Sie scheint normal zu sein, ist es aber nicht?!] immer dann, wenn wir uns fragen, wie wir die sehr berühmte Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, und wir nicht zugeben wollen, das wir es weder wissen noch wissen können. Wir setzen dabei, die Philosophien von Jahrtausenden zeigen das deutlich, voraus, dass wir entweder auf der Suche nach einem wie immer beschaffenen Urgrund, nach einem außerhalb unserer Vorstellungen und Fähigkeiten liegenden Parallel-Universum (Transzendenz, Dimension) oder aber einem wie immer beschaffenen Schöpfer (Gott, Götter, Herr, Urahn) sind, der uns diese Frage zumindest „phantastisch“ beantworten wird durch Zeichen, Offenbarung, seine Vertreter auf Erden oder einem von vielen angenommenen Glauben. Und das Wort „phantastisch“ trifft diese Aktivitäten wie der Hammer den Kopf, wenn ein Nagel versenkt werden soll. Die gestellte Frage muss und kann aber nur so beantwortet werden:

„WIR WISSEN ES NICHT!“

Das ist unschön und wenig erhebend, aber trotz aller Versuche bisher die einzige richtige Antwort. Natürlich darf jeder Mensch einen Glauben haben. Ja, warum auch nicht? Das Problem dabei ist, das er verstehen muss, das es ein Glaube ist, und das ihm bewusst ist, das das sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen erheblich Schwierigkeiten bereiten wird, den Glauben zu halten und das es daneben unzählige Menschen geben wird, die einen anderen Glauben haben werden. Dieses Wissen ist wichtig, weil es verhindert, das Menschen sich ihres Glaubens wegen verfeinden, sich deshalb gegenseitig bekämpfen und umbringen. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen. Aber der Glaube ist ja nicht die einzige Unsitte der Menschheit. Da gibt es auch noch, wie zuvor schon erwähnt, die Macht und den Reichtum.

Macht hat ein Mensch nicht einfach so. Dazu gehören entweder besondere Fähigkeiten, besondere Erscheinungsformen, gehören Reichtum, der mit der Macht eng verknüpft ist oder aber ein besonderer Status, der von einer großem Mehrheit der geführten Gruppe getragen, geglaubt oder gewährt wird. Macht an sich bringt eine Gruppe von Menschen dazu, sich wie eine Person zu verhalten, die sich sozusagen im Anführer konzentriert. Große Anführer und Machtausübende waren gute Kämpfer, überragende Strategen, wunderschöne, begehrte Frauen und Menschen mit großer Ausstrahlung. Erklären lassen sich in der Aufzählung nur die ersten drei, die letzte bleibt im Dunkel des Unwissens. Was ist Ausstrahlung? Wie wird sie erworben? Worauf beruht sie? Ich halte nach wie vor diese Erscheinungsform für ungeklärt. Wir sollten Ausstrahlung aber nicht verwechseln mit „die Begeisterung einer Gruppe oder Masse wecken können“, „Begierde oder Hass erzeugen zu können“, oder einfach nur ein gut geschulter Redner zu sein. Diese drei lassen sich lernen, denn sie stellen immer nur eine geschickt vermarktete Auswahl möglicher Perspektiven dar. 2000 Jahre Christentum mit all seinen Erscheinungsformen sind ein gutes Beispiel dafür. Ausstrahlung haben nur wenige Menschen. Berühmte Beispiele aus der Neuzeit sind Ghandi, Mandela, King, Beispiele aus der Historie sind Jesus, Mohammed oder Laotse, um nur einige wenige zu nennen. Wenn wir Ausstrahlung begegnen, werden wir es daran bemerken, das weder Begierde noch Macht noch Glauben im Spiel sind. Da ist ein Mensch der strahlt, so ganz ohne Grund. Wir sehen es, können es aber nicht erklären. Und es ist nicht immer nur das Gute, das wir dabei erleben werden. Auch das Erlebnis von Ausstrahlung nämlich kann zur Begierde werden und beraubt uns damit unserer Freiheit.

Alle Phänomen dieser Art müssen uns bewusst sein, wenn wir in ein entwicklungsfähiges Bewusstsein wie das Mentale vordringen oder zurückkehren wollen. Wir müssen sie alle kennen und handhaben können: Begierde, Macht, Besitz, Hass, Ausstrahlung, Begeisterung und so weiter. Und es hilft nicht, das wir das Beachten dieser Kenntnisse dann als „LIEBE“ bezeichnen. Denn mit dieser Zusammenfassung haben schon wieder eine Auswahl getroffen, die von jedem anders interpretiert werden kann. Wir sollten es einfach so benennen, wie wir es auch erfahren. Und das Rätselraten darüber, wohin es eigentlich gehen könne, ist unsinnig. Wir wissen es nicht! Punkt.

Wir hören oft, das so eine Weltsicht Nihilismus sei, eine totale wenn nicht sogar totalitäre Verneinung, die den Menschen Angst machen wird und die daher für eine Gesellschaft schlecht wäre. Ich halte das für einen Irrtum. Ein Mensch, der jegliche Form von Sinngebung verneint, also keinen Glauben annimmt oder kein Ziel wie auch immer geartet verfolgt, ist wenig manipulierbar. Er wird keiner Versprechung nachlaufen, keiner Fahne folgen oder vor anderen aus taktischen Gründen den Bückling machen. Wozu sollte das gut sein? Und ich sage „wenig manipulierbar“, denn er wird sein eigenes Leben und das seiner Lieben beschützen wollen wie alle Wesen auf dieser Welt das so tun. Er stellt sich oder er weicht hier und da auch aus, wenn der/ein Erfolg ungewiss scheint. „Überleben wollen“ gehört zur Homöostase, vielleicht nicht um jeden Preis, aber sicherlich wird das sehr oft das entscheidende Motiv sein, das sich durchsetzt. Und verraten kann man nur einen Glauben, ein Ziel, eine Anhängerschaft oder ein Dogma, und wer diese nicht beherbergt, kann sich auch eines Verrats nicht schuldig machen. Wer kein Ziel kennt, wird auch nicht irgendwann irgendwo ankommen müssen. So einfach kann Argumentieren sein. Und was bleibt ist das Leben in all seiner Pracht und Vielheit. Wir machen Menschen, die wir lieben, gerne zum Geburtstag eine Überraschung. Warum aber lassen wir uns nicht jeden Tag überraschen, vom Leben, von der Welt und von den unbegrenzten Möglichkeiten darin. So würde ich den aus der Mode gekommenen Begriff der WEISHEIT heute definieren wollen. Vielleicht ist das ein bisschen zu einfach, aber wollen wir immer weiter mit undurchschaubaren Definitionen arbeiten? Ich denke nicht!




Wie übe ich richtig Yoga (am Beispiel der Vorwärtsbeuge)

Yogas ist heute wieder, trotz Pandemie und Kontaktbeschränkungen, in aller Munde. Wer im Netz oder Zeitungen und Magazinen unterwegs ist, also viel liest, wird immer wieder auf gut gemeinte Artikel stoßen, die Yogaübungen und -praktiken unter Faszien-Training, Therapie, Schmerztherapie oder Vorsorgemaßnahme anpreisen und dabei auf Bildern und Filmen die altbekannten Yoga-Asanas (Übungen) zeigen.



Das ist gut, fein und besser als gar keine Yoga-Praxis zu proklamieren. Aber, und dieses „aber“ ist wichtig, Yoga macht man nicht nur damit, das man die Posen einnimmt, denn diese Posen sind sozusagen erst das Eintrittstor in den Yogaraum. Nehmen wir einfach mal als Beispiel eine einfache, viel gesehene und geübte Yoga-Pose, die einfache Vorwärtsbeuge im Stehen. Was sehen wir auf den Bildern, oder, wenn Sie zu zweit üben, bei Ihrem Partner?

  • Die Füße stehen zusammen, Knöchel an Knöchel? Das stimmt nur für wenige Menschen, denn die Füße sollten, wenn sie funktional agieren sollen, so weit auseinander stehen, wie die knöcherne Hüfte breit ist. Stehen die Füße enger, wird oft das Gleichgewicht-Halten schwierig und man muss Muskulatur anspannen, um nicht umzufallen. Und die Füße stehen, jeder für sich auf drei Punkten, dem Großzehenballen, leicht auf dem Kleinzehenballen und der Ferse. Und dazwischen befindet sich ein sich selbst aufrichtendes und spürbares Fußgewölbe.
  • Dann sollen die Beine gestreckt und aufrecht gehalten werden! Nun können Beine ja auch überstreckt werden. Sie können aber auch gebeugt gehalten werden. Und aufrecht heißt doch, das die Linie der Rückseite gerade steht wie die Wand in einem Zimmer. Ist das im Spiegel oder der Wahrnehmung ihres Partners gegeben. Viele werden feststellen, das die Bedingungen nicht so sind wie sie das vermuten. Und jetzt versuchen sie, diese Bedingungen zu schaffen, in dem sie die Beine strecken und die Rücklinie anzupassen versuchen. Nur, und das ist wichtig, werden sie dazu gerade die Muskulatur verwenden, die sie entspannen müssten, um die ideale Haltung zu bekommen. Sie machen also gerade die Muskulatur fest, die sie lockern wollen. Und so schließt sich die Tür zum Yoga und sie sind ins Krafttraining, genauer gesagt in isometrische Übungen gefallen. Besser wäre es doch, die Muskulatur, die die Beine eben nicht sich strecken lassen, in Ruhe zu lassen und zum Beispiel von den Füßen oder vom Gesäß her zu arbeiten. Dafür aber dürfen die Muskel- und Faszienketten nicht blockiert sein, die das zu tun vermögen. Das ist aber oftmals nicht der Fall. Also müssen doch erst einmal die Blockaden entfernt werden. Aber wie geht das?
  • Blockaden können entfernt werden, wenn Muskeln und Gewebe wie Faszien, Sehnen und Bindegewebe wieder einen so großen Bewegungsspielraum haben, wie das zum Beispiel in der Medizin (Orthopädie) als normal-beweglich ausgewiesen ist. In der VWB ist eine normal Beweglichkeit dann gegeben, wenn wir bei der sitzenden Version dieser Übung bei gestreckten Beinen mit den Langfingergrundgelenken die Zehen erreichen können. Bei der stehenden Version, die ich hier bespreche, sollten zumindest die Fingerspitzen den Boden berühren können, ohne sich anstrengen zu müssen. Weiter unten zähle ich die Übungen auf, die zumindest in Fachbüchern, die für den Breitensport bestimmt sind, als solche ausgewiesen werden.
  • Dann gibt es noch im mittleren bzw. oberen Rücken die Möglichkeit, sich durch eine buckelnde Bewegung mit gebeugten Rücken nach vorne zu schaffen. Aber diese Maßnahme wirkt nur bedingt, denn die runde gebeugte Wirbelsäule (WS) beugt sich nicht besonders weit und sehr schnell stockt der ganze Bewegungslauf und alle Muskeln machen dicht, fangen an zu blockieren. Und sie tun das dann über die bereits erwähnten Faszien- und Muskelketten. Wir brauchen also einen weitestgehenden geraden Rücken, um über die Vorwärtsbeuge die langen Muskelketten an den Beinrückseiten, am unteren Rücken und entlang der WS bis zum Hals/Nacken hinauf zu öffnen. Und öffnen heißt hier, so zu arbeiten, das keine Blockaden entstehen können und bereits etablierte Blockaden sich lösen.
  • Dann haben wir in der Beuge der Vorwärtsbewegung im Bauch eine große Muskelplatte, deren Aufgabe es ist, die Organe an ihrem Platz zu halten. Da sie einer fortgeschrittenen Beuge in Wege ist, muss sie entspannt und nach innen zur WS hin zurückgenommen werden, um Platz zu schaffen. Nun kann sie nicht permanent mit Kraft zurückgehalten werden, weil über die Verbindungen auch andere Muskel- und Gewebepartien in die Anspannung folgen. Wenn ich aber über die große Kette im Ansatz der Beuge, also bei etwa 45° über gestreckten Beinen das Gesäß etwas anzuheben versuche, wird der entspannte Bauch wie von Zauberhand in die gewünschte Form gebracht und die Beuge geht, der Schwerkraft folgend, tief und leicht nach unten.
  • Und dann haben wir ja auch noch Hals, Nacken und den schweren Kopf. Gehe ich mit soweit als möglich geradem Rücken nach vorne, wird der Kopf nach unten fallen und Hals und Nacken in eine Enge ziehen, was sich nicht nur schräg anfühlt, sondern auch die Übung der Vorwärtsbeuge (VWB) behindert. Also muss der Kopf an der richtigen Stelle gehalten oder verankert werden. Dazu ist ein fundiertes Wissen darüber notwendig, wie das geschehen kann. Vereinfacht geschrieben wird dazu das Kinn etwas näher am Kehlkopf gehalten und der Nacken etwas entgegen der Beugerichtung sanft aufgerichtet. Kopf und Rumpf beugen sich nach vorne, der Nacken aber geht leicht in die Gegenrichtung. Das Ganze nennt man im Yoga Bandha, Verschluss oder Siegel. Den genauen Ablauf kann man nur in der Arbeit mit einem ausgebildeten Lehrer erarbeiten. Die individuellen Unterschiede bei Teilnehmern sind zu groß, um hier ein für alle gültigen Ablauf beschreiben zu können.
  • Dann haben wir noch Arme, die mit ausgebreiteten Händen auf dem Boden stehen. Diese sollen, das Bild erscheint eindeutig, den Körper nicht am Fallen durch die Schwerkraft hindern. Sie dienen lediglich dazu, die Schlüsselbeinregionen daran zu hindern, über den Hals in die Enge zu fallen. Auch das würde die VWB behindern, und das schon durch das Gefühl am Hals, wie abgeschnitten zu sein. Wir stützen also nur die Schultern samt Schlüsselbeinen, aber nicht den Rumpf mit unseren Armen ab. Geht der Rumpf tiefer, müssen aber auch die Schlüsselbeine tiefer gehalten werden. Wird die Beuge tiefer, müssen die Arme gebeugt werden, denn sie sind dann zu lang. Dafür gehen die Hände außen an den Füßen vorbei nach hinten. Ein gutes Maß, wie das geschehen kann, stellt die Ausrichtung der Unterarme dar. Sie stehen stets nach allen Richtungen senkrecht zum Boden und stützen nur die Schlüsselbeinregionen so ab, das keine Enge am Hals entstehen kann.



So, und jetzt, wenn alle diese Vorbedingungen erfüllt sind, stehen wir in der Grundhaltung der VWB und die Arbeit des Yoga kann beginnen. Jetzt erst haben wir den Eingang, von dem am Anfang des Artikels die Rede war, erreicht. Jetzt beginnt Yoga.
Aus der optimal ausgerichteten Pose wird jetzt eine Haltung. Diese versucht zunächst einmal, alle noch vorhandenen Spannungen zu lösen. Dabei wird die Haltung so locker und leicht, das wir spüren, wie der Körper auf den wenigen Punkten, die das Hauptgewicht tragen, ausbalanciert werden muss. Diese Balance-Bewegungen gehen unregelmäßig und sind nur bei absoluter Stille der Haltung zu spüren. Je länger wir in der Haltung verweilen, desto mehr überflüssige Haltearbeit kann von uns bemerkt werden. Und dann beginnt das Lösen dieser unseligen Spannungen, die wir in der Alltagssprache gerne Verspannungen nennen. Wir alle haben viele davon, und sie entstehen immer wieder neu. Yoga in der Arbeit mit dem Körper ist, diese immer wieder aufzuspüren und zu lösen. Hilfreich dabei sein können ganz sanft und superkleine Bewegungen an den Rändern der detektierten Spannung. Wenn sie aufgelöst sind, wird die WS vom Becken aus wie ein dicker Strick gerade zum Boden herunterhängen. Der Kopf kommt dabei den Füßen sehr nahe und je nach Körperbau stehen dann die Hände komplett hinter oder neben den Füßen auf dem Boden mit ausgebreiteter Hand.

Nach diesem Ausflug in die kleinteiligen Details einer Asana (Haltung) komme ich zurück zum Yoga im Allgemeinen. Jede Asana hat genau betrachtet wie die VWB eine große Anzahl von Motiven, Einrichtungen, Korrekturen und Intensionen, die für ein wirkungsvolles Yoga in die Haltung einfließen können und sollen. Wie bereits angemerkt, ist das Lösen überflüssiger und schädlicher Spannung das Hauptmotiv in der Arbeit mit Asana. Genau betrachtet haben wir also beim Einnehmen einer Asana drei Stufen zu bewältigen. Diese sind:

  • Die Bewegung in die Grundpose hinein, welche durchaus einige spezielle Bewegungen erfordern kann, wie in der VWB gezeigt (Bauch zurücknehmen).
  • Die Korrektur der eingenommenen Pose mit dem Wissen, über das wir bereits durch Erfahrung oder Korrektur durch einen Lehrer verfügen.
  • Das Verweilen und Lösen des überflüssigen Ballastes.
  • Das Verweilen in der Stille (Bewegung, Atem und Gedanken).

Weiter oben hatte ich Übungen erwähnt, mit der in der Orthopädie eine Beweglichkeitsprüfung durchgeführt werden kann. Aufgezählt sind hier aber nur Übungen, die jeder für sich allein und ohne Hilfe von Therapeuten und Gerätschaften durchführen kann. Ich persönlich halte diese Vorbedingung für verbindlich, wenn auch für Übende im Alter von 60+ durchaus leichte Abstriche gemacht werden sollten. Und ich muss zusätzlich für meinen Yoga-Unterricht erwähnen, das sich ohne diese Normalbeweglichkeit Yoga nur sehr eingeschränkt üben lässt. Ich betrachte also meinen Unterricht bei Einsteigern und Neuzugängen zunächst einmal unter dem Aspekt, ob Normalität vorliegt oder erst zurückgewonnen werden muss und gehe dann erst in die energetischen Feinheiten, wenn die Voraussetzungen dafür zumindest annähernd erreicht sind.

Die Übung sind:

  1. Nackenmuskulatur
    Kopfbeuge nach vorne: Der Kopf kann mit den Händen soweit nach vorne geführt werden, das die Kinnspitze das Brustbein erreicht.
  2. Lendenbereich und Kniebeuger
    Die sitzende VWB: Bei gestreckten Beinen können die Zehen mit den Langfingergrundgelenken erreicht werden.
  3. Lendenwirbelsäule und Archillessehne Die sitzende Hocke kann eingenommen werden mit vollem Bodenkontakt beider Füße.
  4. Beugeseitige Schultermuskulatur
    Die Langfinger beider Hände können sich hinter den Rücken berühren, wenn ein Arm von unten und der andere über die Schulter hinter den Rücken geführt werden.
  5. Oberschenkelstrecker
    Im einbeinigen Stand, gebeugtem Knie und der Berührung der Ferse zum Gesäß sollten beide Knie direkt nebeneinander stehen können.
  6. Hüftbeuger
    In der Bauchlage kann der Oberschenkel eines Beines vom Boden angehoben werden. Bei Hilfestellung durch einen Partner solle das Knie locker eine Handbreit Abstand zum Boden erhalten.



Kommen wir jetzt zu einigen Grundsätzen, mit denen Yoga in der Regel arbeitet.

  1. Da ist zunächst einmal der zeitliche Ablauf oder die Art und Weise, wie man an die Grenze seiner Beweglichkeit herangeht. Um den Schutzmechanismus (Antistreckreflex) eines zu öffnenden Muskels zu umgehen, gehen wir stets langsam, ruhig und hochkonzentriert an die Haltung heran. Das heißt im Besonderen, das übertriebene Kraftanstrengungen (z.B: Mit den Händen in die VWB ziehen), Schleuderbewegungen (z.B.: Heftiges und schnelles Armkreisen), Wippbewegungen (z.B.: Schmetterling mit Wippen der Beine) und Ausweichmöglichkeiten zu nutzen (z.B.: Bei Rückbeugen nur den unteren Rücken zu beugen) nicht den Vorgaben für Yoga folgen und daher vermieden werden müssen.
  2. Ein weiteres Motiv ist darin gegeben, das wir stets an der Grenze unserer Beweglichkeit arbeiten. Das ist dort, wo sich eine spürbare Streckung bereits deutlich wahrnehmen lässt, aber die Grenze zum Schmerz noch nicht angekratzt ist. Durch die Wahrnehmung des Zuges auf Muskeln, Sehnen und Bänder lernen wir nicht nur unseren Körper kennen, sondern sorgen auch dafür, das der Körper reagiert und mehr Bewegungsraum zur Verfügung stellt. Weiterhin werden die Muskeln dazu befähigt mehr Energie aufzunehmen, zu tragen und zu verarbeiten, was durch größere Beweglichkeit, mehr Kraft und Ausdauer belohnt wird. Die höhere Beweglichkeit vermeidet oder lindert Krankheiten wie Rheuma, Arteriosklerose und die Ablagerung von Kalk (z.B.: Kalkschulter). Kraft und Ausdauer sprechen eigentlich für sich. Sie sorgen medizinisch gesehen für einen ausgewogenen Blutdruck, entlasten das Herz und erhöhen die Leistung beim Gehen und/oder Treppensteigen.
  3. Während die erstgenannten Motive für den Breitensport und ein durchaus fortgeschrittenes Alter der Teilnehmer gelten sollten, sind für geübte und trainierte Sportler und jüngere Menschen durchaus weiterführende Möglichkeiten, in Yoga zu arbeiten, gegeben. Hier bilden aber die Anforderungen des ausgeübten Sportarten sowie der Allgemeinzustand des Übenden sind dann die Ausgangslage für Erläuterungen. Diese sind vielfältig und müssen einzeln, besser gesagt individuelll abgestimmt werden. Eine junge Turnerin sollte hier anders eingestellt werden als zum Beispiel ein Tennisspieler oder eine Fußballerin. Von daher gehe ich hier an dieser Stelle nicht weiter in Details.

Die vorangestellten Seiten und Erläuterungen sind nur ein winzig kleiner Teil, der bei eine intensiven Nutzung von Yoga von Bedeutung ist. Sie dienen dazu, die immer selben Erläuterungen innerhalb der Übungsstunden zu vermeiden und so Raum zu schaffen für weitere nützliche Tips und Tricks. Das gesamte Kompendium, das über Yoga gesagt werden könnte, füllt mehrere Bücher. Stück für Stück wird das alles, wenn die Zeit reif ist, in den Yoga-Unterricht einfließen.

Der vorliegende Artikel beschreibt die grundlegenden Anforderungen, die ein Neueinsteiger beim Besuch einer Yoga-Übungsstunde berücksichtigen sollte. Nicht immer kann der Übungsleiter oder Lehrer diese allgemeinen Motive erläutern, da in Gruppen sonst sehr viel Zeit mit diesen grundlegenden Fragen verbracht werden müsste.

Ich wünsche allen Übenden viel Spaß und ein gutes und erfolgreiches Gelingen ihrer Yogapraxis!




Yoga – Versuch einer traditionsfreieren Sichtweise

Eine andere, etwas philosophischere Lebens-Sichtweise auf die Körper-, Atem- und Meditationsarbeit mit Yoga. Was Yoga und die Essenz der anderen Praktiken heute ist und sein kann, sein soll und wie die Übungen gesehen, praktiziert und verstanden werden können ist in unzähligen Büchern, Schriften und Veröffentlichungen mehr als überdeutlich belegt. Wie nimmt man zum Beispiel Asanas wie Drehsitz oder Kopfstand ein, welche Körperpartien werden dabei bearbeitet, welches Energiegefüge wird dabei angesprochen und was sind die überwiegend positiven Wirkungen der Übung ist in vielfältigen Quellen mehr als ausführlich dargelegt und braucht keine weiteren Versuche.



Es gibt zwar immer wieder kleine Neuerungen, aber in Großen und Ganzen gesehen ist die Arbeit des Beschreibens weitestgehend getan. Gut, es gibt immer wieder neue, warnende Hinweise, die Übungen nicht zu übertreiben, nicht alle einfach so anzunehmen und diverse Vorsichtsmaßnahmen, besonders für Menschen mit den üblichen Zivilisationsleiden [1. Bluthochdruck, Rückenleiden, Gefäßerkrankungen, Herzschwächen, Übergewicht, Diabetes, usw.] zu beachten. Weiterhin werden immer mehr Verknüpfungen vorgenommen, die aus unterschiedlichen Traditionen stammende Übungen, Motive und Praktiken zusammenfügen [2. Tao-Yoga, Hormon-Yoga, Thai-Yoga] und die Möglichkeiten, etwas für sich selbst zu tun, immer stärker erweitern. Und ich möchte diese Trends auch gar nicht angreifen oder relativieren, auch wenn ich für mich persönlich nicht alle Kombinationen für sinnvoll erachte. Im Gegenteil, ich bin froh darüber, das immer mehr Menschen erkennen, das körperliche, geistige und seelische Gesundheit einen großen Wert besitzen. Ich möchte auch niemanden davon abhalten, sich einer der genannten Praktiken zu verschreiben. Allerdings muss ich der Möglichkeit warnen, die immer vielfältigeren Praktiken wie Romane zu konsumieren und regelrecht in ein Stil-Hopping zu verfallen, anstatt sich einer einzigen Praxis anzunehmen, sich darin immer mehr zu verfeinern und zu wachsen. Es geht nicht um Masse und das übliche „immer mehr Desselben“, sondern dem Gedanken, das man immer nur einem Weg zielführend folgen kann. Diverse Wegkreuzungen und Gabelungen gibt es im Yoga immer mehr, und im Versuch, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, bleibt der Übende beim Hopping im Grunde in einem permanenten Anfängerdasein gefangen. Nun ist es schon gut sich viele Stile anzuschauen, aber das kann und darf in meiner Überzeugung nicht in einem stetigen Wechsel der Praxis-Grundlagen enden. Ich habe mir selbst auch viele Stile angesehen, habe einige Lehrer konsultiert und mit Fragen genervt, aber diese Neigung hat nie dazu geführt, den Weg zu verlassen, zu dem ich mich entschlossen hatte. Ich war und bin heute immer noch der Ansicht, das Neugierde eine gute Eigenschaft des Menschen ist und daher auch im Yoga seinen Platz hat. Und ich möchte im folgenden den Versuch wagen zu erklären, wie ich das heute, nach 30 Jahren Praxis, noch immer sehe.

Zunächst einmal sei grundsätzlich gesagt, das es für mich im Yoga mehr um „Sein“ geht und nicht so sehr um „Haben“. Das führt dazu, das ich auf der einen Seite nicht alles wissen muss, was über Yoga und seine Intensionen gesagt, geschrieben und berichtet wird. Ich muss auch nicht alle Muskeln kennen, die eine Asana anspricht, nicht alle Wirkungen auf Organe und Psyche kennen, alles verstehen und darüber auch noch dozieren können. Das alles ist das, was mehr zur Kategorie Haben gehört. Auf der anderen Seite geht es, obwohl Yoga im Unterricht, besonders für mich als Lehrer, nicht ganz ohne Haben-Inhalte zu präsentieren geht, tatsächlich viel mehr um Erleben und Erkennen in der Praxis. Und die Aufgabe als Lehrer ist es, seine Teilnehmer im Unterricht dorthin zu führen, wo erleben, erkennen und wahrnehmen möglich ist. Das ist nicht immer einfach, nicht immer nach Vorgaben zu erreichen und bedarf viel Ausdauer und Geduld auf beiden Seiten. Zum einen muss der Lehrer die notwendige Zeit erhalten, um seine Teilnehmer einschätzen zu können und das notwendige Vertrauen aufzubauen, zum anderen muss der Teilnehmer dem Lehrer das Kennenlernen ermöglichen und warten können, bis der Vertrauenspegel die notwendige Stärke erreicht hat. Nur unter Bedingungen des Vertrauens können Lehrer und Teilnehmer eine für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit bewirken.



Und eine weitere Schwierigkeit tritt auf, wenn man mit Yoga beginnt: Yoga beginnt dort, wo der/die Übende in der eingenommenen Haltung, ob vollständige Asana oder Vorübung ist dabei unerheblich, entspannen kann. Mit Entspannung ist hier gemeint, den Körper in seiner Gesamtheit aus jeglichen unnötigen Spannungen zu befreien. Gerne wird das mit dem Wort „loslassen“ eingefordert. Dazu muss man wissen, das eine Haltung, und Asana ist Haltung, immer irgendwo gehalten werden muss. Selbst das Stehen in Tadasana, ja sogar das Liegen in Shavasana benötigt hier und da im Körper eine Haltespannung, sonst fällt der Körper aus der sicheren Haltung heraus und/oder bedroht sogar seine lebenswichtigen Funktionen wie Atmung und Kreislauf. Schon in der Hatha-Yoga-Pradipika ist diese Bedingung beschrieben. Das bedeutet, das die/der Übende unterscheiden können muss, was notwendig ist und was überflüssig zu sein scheint. Hier kann der Lehrer nur bedingt helfen und muss den Aussagen seiner Teilnehmer vertrauen können. Nach der Entspannung des Körpers in besagter Weise folgt nach der Pradipika das Einrichten und anschließende Loslassens des Atems. Darauf erfolgt dann nach einer Gewöhnungszeit die Stille des Geistes, was zu den Yoga-Stufen 5-8 die Zugänge öffnen wird. So sieht der Weg des Yoga ungefähr aus, wie er in den Schriften von alters her beschrieben wird. Rekapitulieren wir, was als Einstiegsbedingung für den Yogaweg gefordert wurde und auch heute noch erforderlich ist:

  • Die größtmögliche Entspannung des Körpers in Asana, …
  • … gefolgt von einem eingerichteten und losgelassenem Atem und …
  • … der darauf folgende Stille des Geistes, die zur Meditation den Zugang öffnet.
  • Meditatives Verweilen in Asana öffnet somit die Wirkungen des Yoga.

Und an dieser Stelle beginnt Yoga erst zu einem Weg zu werden. Davor werden lediglich die Grundbedingungen geschaffen. Das Yogaübungen auch ohne das Betreten des Weges begangen werden, hier und da Fehlhaltungen beseitigen können und der Gesundheit ganz generell dienlich sind, steht damit nicht in Frage. Aber seine wirklich Pracht entfaltet Yoga erst nach Erreichen der genannten Bedingungen. Was sind die Wirkungen, was entfaltet sich dann in der Übung? Nun ist das so einfach und leicht nicht zu beschreiben. Nahezu alle Schriften verweisen darauf, das die geheimen Wirkungen nicht preisgegeben werden sollen, denn sie können den unvorbereiteten Menschen nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern sogar schädigen. Nun sind nicht alle Wirkungen Siddhis, wie die geheimen Fähigkeiten im Yoga genannt werden. Einige der wenige spektakulären Wirkungen sind durchaus beschreibbar.

Beginnen wir zunächst einmal, den übenden Menschen unter genannten Vorbedingen zu beschreiben. Nehmen wir dazu als Asana einen Menschen im Drehsitz. Mit einer ausreichenden körperlichen Beweglichkeit [3. Auch ein sinnvoll verwendetes Hilfsmittel wie ein Gurt kann die Haltung vervollständigen. Besonders korpulente Menschen können die Bindung des Drehsitzes mit den Armen nur selten bewerkstelligen.] ist der Drehsitz für den Übenden nahezu mühelos. Bei gelungener Bindung ist lediglich für den aufrecht gehaltenen Kopf etwas Spannung nötig. Die Atmung kann mühelos ihre Bahnen ziehen und der Sitz an sich ist vollständig eingebettet, so das die Teile des Körpers wie im Aufbau einer Pyramide ein festes, mühe- und reglos gestaltetes Sitzen ermöglichen. Und dann alles unnötige entfernen und für eine Minute lang Stille aufkommen lassen: Ein Genuss ohne gleichen. So oder ähnlich können nahezu alle Asana praktiziert werden, auch Gleichgewichtsübungen und Haltungen, die hier und da einen Krafteinsatz fordern. Das Zuviel entfernen ist loslassen, den Atem einrichten und ziehen lassen und dann die Stille des Geistes genießen, so erfolgt der Weg des Yoga in der Körperübung. Ähnlich, allerdings im Detail den Haltungen angepasst erfolgt auch Pranayama (Atemübung) und Meditation. Immer ist eine Haltung zu stehen, sitzen oder liegen, immer ist zu atmen, immer ist Ruhe zu halten im Geist. Und so geübt werden die Wirkungen des Yoga sich entfalten.



Nun werde ich nicht die besonderen übermenschlichen Fähigkeiten beschreiben, die verschiedene Autoren dem erfolgreichen Yoga zuschreiben. Das ist, ich hatte es erwähnt, nicht sinnvoll. Aber ich kann über Wirkungen berichten, die sich ergeben können, wenn Menschen mit Defiziten beginnen mit Yoga zu arbeiten. Und seien wir ehrlich: Defizite haben wir in Europa alle, seien es körperliche, organische oder psychische. Stress, falsche Ernährung, Überlastung, falsche Vorstellungen und überzogene Wünsche seien hier beispielhaft genannt. Und ich nehme mich selbst dabei nicht aus. Ich finde solche Defizite bei mir nahezu regelmäßig beim Üben auch noch nach 30 Jahren Yoga. Und das ist auch ganz normal, denn ich werde älter und kämpfe wie alle Menschen mit körperlichem Verschleiß, den Wirkungen schlechter Gewohnheiten und den Übeln der Überflussgesellschaft. Lassen wir das mal so stehen. Welche Wirkungen zeitigen das richtige Üben?

Jeder, der mit Yoga beginnt, es übt oder praktiziert, [4. …nicht „macht“, Yoga machen ist Unsinn, denn machen kann man nur etwas in einer materieller Umgebung. Der Mensch aber sollte als organisch aufgefasst werden…], wird in Sachen Beweglichkeit an seine Grenzen stoßen. Dann wäre es notwendig, den ein oder anderen Körperradius durch Dehnungen zu vergrößern. Nun habe ich festgestellt, das Dehnungen, zum Beispiel Richtung Grätsche, viel leichter von Statten gehen, wenn man im Modus „Loslassen, Entspannen und Still-Werden“ an der Grenze seiner Beweglichkeit verharrt, anstatt mit Kraft über die ungeliebte Schwelle hinauszustreben. Die Grenze der Beweglichkeit ist dort, wo man gerade noch ohne Anstrengung hin gelangt. Das heißt auch, das man diese Grenze spürt, was bedeutet, das man sie schon mal leicht zu überschreiten versucht haben muss. In der Dunkelheit erkennt man ein festes Möbelstück dann, wenn man dagegen stößt und seinen Widerstand erfährt. Und dann vermag das Möbelstück, gegen das wir uns im Loslassen lehnen können, uns in der Dunkelheit Sicherheit zu geben. In Asana ermöglicht uns die Grenze, die wir erfahren, in Sicherheit eingebettet zu sein, wodurch Entspannung möglich wird und die Übung die zur Zeit mögliche Wirkung zeitigt. Verharrt man dicht an der Grenze, wird der Körper versuchen, dort für künftige Begebenheiten Raum zu schaffen. Er tut das auf seine ganz eigene Art und Weise, und kein Wissen kann uns dabei nützlich sein. Es können Wochen vergehen, und nichts geschieht. Und dann plötzlich macht der Körper einen Sprung, und siehe da, der Radius hat sich über Nacht erweitert. Und er machte das ohne die schmerzhaften Begleiterscheinungen, die sportliche Dehnungen gewöhnlich so an sich haben. Der Körper hat sozusagen durch die ständige Wiederholung der Anforderung – an der Grenze verharren – diese aufgenommen, die Bedingungen für Erweiterung geschaffen und dann wirksam umgesetzt.

Eine andere Art von Wirkung können Yoga-Übungen erzeugen, wenn der Körper oder seine Teile von unseeligen Verspannungen durchzogen wird. Meist macht sich dieses Beschwernis dann als schmerzhafte Äußerung in dem einen oder anderen Muskel bemerkbar, den wir dann als „verspannt“ bezeichnen. Das aber greift meist deutlich zu kurz. Im Grunde ist nicht der schmerzhafte Muskel verspannt, sondern das ganze System Mensch leistet sich Verspannung. Wer an seine erste klassische Thai-Massage zurückdenkt, wird wissen, was damit gemeint ist. Wo der Massage-Therapeut damals bei mir alles Verspannungen zu finden vermochte, werde ich niemals vergessen. Das zog sich von der Fußsohle bis zum Nacken hinauf und es wurde eine sehr lange Stunde. Im Grunde ist, wenn Schmerzen irgendwo auftreten, zum Beispiel Knie, das ganze System Mensch in Unordnung. Und entsprechend genügt es nicht, nur das Knie zu bearbeiten. Wichtig sind auch alle direkten und indirekten Mit- und Gegenspieler in diesem Körper, der genau genommen mehr einem Netzwerk von Funktionen ähnelt als einer Ansammlung von nicht austauschbaren Teilen. Kommt ein Mensch mit schmerzendem Knie in eine Übungsstunde, bleibt meist das Knie selbst unbearbeitet. Zunächst einmal müssen seine Nachbarn geöffnet, entspannt werden, und die betroffene Nachbarschaft kann sehr weit gehen in einem Netz. Weiterhin ist der Schmerz gepeinigte Mensch auch psychisch betroffen, sei es durch genervt, sei es ungeduldig, sei es verbittert sein. Und auch diese Verspannungen müssen gelöst werden, bevor lindernde Wirkungen zustande kommen können. Beim Thema Knie kam in der Vergangenheit oft heraus, das das Knie wie auch der Geist nur das Opfer waren eines Täters, der in der Wade, im Oberschenkel, in der Fußsohle oder gar in der Hüfte seine Platz hat. Irgendwann spürt eine Übung den Täter auf, und siehe da, nach seiner Beruhigung verschwanden dann auch die Schmerzen im Knie. Und natürlich kann die Ursache, die einen Täter erst gemacht hat, auch in der Psyche gelegen haben. Grundsätzlich gilt, Schmerzen hat nicht ein Teil, sondern immer der ganze Mensch. Und somit muss auch der ganze Mensch Ziel einer Behandlung sein, im genanten Fall als Beispiel mit Therapie-Übungsstunden.



Die Stufen 5-8 des Patanjali-Yoga-Systems beschäftigen sich mit Meditation. Und auch wenn die bisher beschriebenen „Turnstunden“ nur ganz kurz Meditationseinheiten ermöglichen – Ich bleibe zur Zeit insgesamt 2 Minuten in jeder Asana – braucht es für Meditation in Sinne von Dhyana schon etwas längere Übungszeiten. In der Regel werden für eine Sitzung in Meditation etwas zwischen 20 und 30 Minuten angesetzt, und empfohlen werden zumindest zwei Sitzungen pro Tag. Das ist auch sinnvoll, denn zum Beispiel in den Lotushaltungen, die für die Meditation sicher die Besten aller Sitzhaltungen sind, sollten die Beinseiten schon gleichmäßig belastet werden. Kreuzbeinige Sitzhaltungen zeigen immer eine einseitige Belastung. Ein Bein liegt unten, ein Bein oben, und das führt bei längerer einseitiger Belastung zu Fehlhaltungen im Becken- und Hüftbereich, im Oberschenkel und im Knie bis zum Fuß hinunter. Irgendwann dann ist entspanntes Sitzen so nicht mehr möglich. Jede Sitzhaltung ist eine Asana, und zu deren Einrichtung, Haltung und Vorbedingungen gelten daher auch die bereits vorgestellten Aussagen. Und auch hier ist es oftmals notwendig, längere Zeit für der Ausformung der Sitzhaltung zu investieren. Die Stille der Gedanken im Geist ist nur möglich in einem entspannten Körper und in Begleitung eines ruhig und mühelos fließenden Atems. Die Stille des Geistes führt ohne unser Zutun zu Samadhi, der Versenkung. Das einmal zu erreichen ist der erste Meilenstein auf dem Weg der Meditation. Der zweite Meilenstein finden wir in der Aussage, Samadhi öfters zu erreichen oder sogar regelmäßig zu erfahren. Hier aber gehe ich jetzt nicht mehr weiter, denn ich sollte nur von Dingen schreiben, die ich auch durch bestätigte Erfahrung belegen und somit bezeugen kann. Weiter bin ich bisher nicht vorgedrungen.

Soweit zunächst einmal eine Beschreibung meiner Ansichten über die Praxis des Yoga, so wie ich es selbst praktiziere und auch unterrichte. Das die Wirkungen des Yoga wie gelesen nur erlebt, nicht aber erlernt werden kann, ist die Maxime der Weitergabe der Techniken immer Hilfe zur Selbsthilfe, oder anders formuliert ist es das Ziel der Weitergabe, zu regelmäßiger selbstständiger Praxis zu ermuntern. Und regelmäßig heißt täglich, und selbstständig heißt „allein für sich zu Hause“. Die Arbeit in der Gruppe und/oder mit einem Lehrer ist lediglich eine zusätzliche Ergänzung, die zu neuen Ideen und neuer Motivation beitragen kann. Allein zu Hause zu üben, ohne Anleitung, ohne Kritik, ohne fachliche Betreuung, ohne Lehrer, Guru oder Meister, bedarf in meinen Augen aber einer weltanschaulichen, philosophischen und ontologisch geschulten Basis, mit der der Übende aus der oftmals Schicksal-verliebten, Regel-hörigen, Traditions-verstrickten, oder mit anderen Worten gesagt dogmatisch verhärteten Sichtweise über Yoga und Körperarbeit auszusteigen vermag. Yoga als Praxis bedarf keiner Symbole, keiner besonderen Lebensweise, keinerlei Lifestil und auch keiner besonderen Atmosphäre, und das besonders dann nicht, wenn man allein zu Hause für sich übt. Es genügt eine rutschfeste Matte, ein ruhiges Umfeld und etwas Zeit. Mehr nicht!

Die Yogaschriften sind sehr alt, mindestens 1000 Jahre, und niemand weiß wirklich genau, wer dort alles geschrieben hat und welche Intention die Autoren verfolgt haben. Eindeutig und klar sind die Hintergründe wirklich nicht, und viele Beschreibungen und Verfahren muten uns heute etwas archaisch an. Besonders der in neueren Büchern stets rot bezeichnete Abschnitt der Pradipika zum Beispiel spricht dafür mehr als deutlich. Ich bin der Ansicht, das man die Zeit der Verfasser berücksichtigen muss, in der die Werke entstanden. Die Religion und Kultur spielen eine sehr große Rolle, die Vorstellungen über Körper, Krankheit und Auswirkungen des Todes (Wiedergeburt, Nirvana, Fegefeuer, Paradies) spielen Rollen, und viele möglich andere, aber weniger prägnante Vorstellungen sollten ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Dann ist Yoga und seine Übungen für Männer als Übende ausgelegt. Frauen spielten in den Kulturen der damaligen Zeit keine oder vielleicht nur eine sehr kleine Rolle, besonders in Indien. Summa sumarum erfolgt daraus die Schlussfolgerung, das die besagten Schriften heute nach und mit den bestehenden Kulturvoraussetzungen überarbeitet und neu ausgelegt werden müssen. Eine Arbeit, von der sich viele moderne Autoren gerne drücken. Yoga ist nach den Beschreibungen der alten Schriften aus heutiger Sicht mit vielen religiösen und spektakulären Facetten ausgelegt, ist voller Übertreibungen und ausgeschmückten Geschichten. Da finden sich oftmals Anweisungen, die nur geübte Fakire ausführen können, da wirken Wunderheiler und übermächtige Gurus, da werden übermenschliche Wundertaten wie Selbstverständlichkeiten gesehen und dem lesenden Publikum angedient. Nun findet man Solcherlei in allen Religionen und Kulturen, aber gerade Indien ist bekannt dafür, in Erzählungen gerne maßlos zu übertreiben. Wer sich weiterhin einmal die Krankheiten angesehen hat, die heute noch in auf klassische Schriften sich beziehenden Yogabüchern ausgewiesen werden, wird feststellen, das viele davon heute in der Volksgesundheit nahezu keine Rolle mehr spielen. Und wirklich wichtige Krankheiten heute, wie Übergewicht, Diabetis, Bluthochdruck, Krebs, MS, Alergien, Psychisch-Ausgebrannt-Sein (Burnout), fehlen dafür vollkommen. Nur orthopädische Leiden wie Rückenschmerzen, verkürzte oder verspannte Muskelpartien und die üblichen körperlichen Überlastungsstörungen durch zu viel und zu harte Arbeit ziehen sich durch von der Antike bis heute in nahezu allen Traditionen.



Was Yoga und eine mögliche Auslegung betrifft, sind aber nicht alle Inhalte der klassischen Schriften wo zuvor ausgewiesen für die Moderne nicht verwendbar. Interessant sind aber dann nicht die vielen Details, sondern viel mehr die Prinzipien, die dort beschrieben werden. So schreibt die Pradipika zum Beispiel, das ein entspannter Körper, ein sanfter natürlicher Atem und die Stille des Geistes eine hervorragende Ausgangslage bieten, um heilsame Veränderungen im Körper-Geist-(Seele)-System Mensch zu bewirken. Und das stimmt exakt und ist auf den Punkt getroffen. Ich will in den nachfolgenden Zeilen einmal versuchen, etwas näher auf solche Prinzipien einzugehen.

  • Zunächst einmal muss festgehalten werden, das ich als Mensch keinen Körper habe, sondern einer bin. Dann, wenn wir diese Beobachtung wahrnehmen, haben wir auch keine Schmerzen, keine Krankheiten, sondern wir sind diese Schmerzen und verursachen damit die Krankheit selbst. Unfälle, Vergiftungen und Gewaltanwendungen, die von außen an uns herangetragen werden, müssen dabei logischerweise unberücksichtigt bleiben.
  • Dann leben und denken wir ja sehr überzeugt in einer Ursache-Wirkung-Erzählung. Selten aber wird dabei berücksichtigt, das eine Wirkung auch zwei oder mehr Ursachen haben kann, das eine Ursache auch viele Wirkung haben kann, und das auch viele Ursachen für viele Wirkungen am Anfang stehen können. So eindeutig und klar, wie so manche Beschreibung das sieht, ist das Prinzip Kausalität daher leider nicht zu verstehen. Und allein schon die Tatsache, das es hoch entwickelte Kulturen gibt (China, Taoismus, Konfuzianismus), die vollkommen auf dieses Prinzip verzichten und trotzdem sich sehr hoch entwickeln konnten und das auch heute noch fortgesetzt tun, spricht dafür, diesem Prinzip nicht den Stellenwert einzuräumen, der ihm in der Philosophie europäischer Prägung zugestanden wird. Überhaupt hält die Suche nach den Ursachen eines Motivs selten einer Überprüfung auf Vollzähligkeit stand. Sehr oft wird in den Wissenschaften, selbst in der Medizin heutiger Prägung, das erste sich bietende Motiv als Ursache deklariert, angenommen und dann einer Behandlung unterzogen. Die oft zu hörenden Geschichten von Menschen, die monate- und jahrelang von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie irren, ohne wirkliche Hilfe zu bekommen, sprechen hier eine eindeutige Sprache. Und die vielen Irrtümer der Wissenschaften, von der Erde als Scheibe bis zur Ignoranz der Gefährlichkeit der Radioaktivität, die viele dieser auch heute noch nicht zuschreiben, gibt es Unmengen an Beispielen.
  • Weiterhin leben wir in einer Kultur, die Moralvorstellungen in der Form von Narrativen als ihre Basis betrachtet, die weniger die vielfältigen Möglichkeiten eines glücklichen Lebens in Sinne hat, sondern sich vielmehr ein Leben angefüllt mit Tugenden, Pflichten und Passionen vorstellt und dieses als grundlegend voraussetzt. Nur sind Passionen selten mit einem guten Leben vereinbar, Pflichten selten mit Erfüllung bedacht und Tugenden selten freudvoll. Wollen wir wirklich nur noch in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft leben, nur noch das Beste aus allem machen, oder ist nicht immer auch schon die Möglichkeit gegeben, einfach zufrieden zu sein mit dem, was ist.
  • Dazu kommt, das sehr viele Weltsichten und Religionen Europas und Indiens darauf ausgerichtet sind, einen möglichst guten Start ins Jenseits sprich Paradies zu erwirtschaften oder eine bessere Ausgangsbasis für die wie immer auch ausgestaltete Wiedergeburt zu erlangen. Das verlangt Opfer im hier und jetzt und auch das kann selten als frei und freudvoll angesehen werden. Das geht von einem Verzicht auf jegliche sinnliche Erfüllung bis zu einem zwanghaft aufgerichtetem Leben in Einsamkeit (Kloster) oder sogar unter Martyrien (wie Asketen im Hinduismus). Wer aber kennt die Antwort auf die Frage: Was passiert nach dem Ableben wirklich? Wiedergeburt, Paradies oder Hölle, die Unterwelt, Nirvana, Himmlische Freuden oder Höchstes Gericht? Warum leben wir nicht einfach unser Leben und lassen uns überraschen? Zu einfach?
  • Dann leben und denken wir seit mehr als 2000 Jahren einen Dualismus, der sich definiert als eine absolute Vorgabe der Widerspruchsfreiheit innerhalb einer Aussage. Das heißt, es gibt nur noch ein Entweder-Oder, und alles wird radikal reduziert auf zwei Möglichkeiten. Dabei übersehen werden meist drei weitere Möglichkeiten einer Entscheidung bei einer Wahl zwischen zweier Motiven: Da gibt es doch auch das Weder-Noch, da gibt es ein Sowohl-Als-Auch und es bieten sich sogar noch zwei weitere Lösungen an, die da heißen, Offenheit oder „Ich entscheide mich jetzt nicht…“ und die Skepsis, die da sagt „Die Frage ist falsch gestellt. Sie ist für mich daher so nicht relevant“. Und warum sollte es immer nur zwei Möglichkeiten geben. Vielleicht gibt es drei, vier oder unendlich viele Varianten. Warum hat man eigentlich mal Brainstorming erfunden? Damit alles auf Zwei reduziert bleibt, zwischen denen man sich entscheiden kann? Eigentlich Unsinn…



In meiner Vorstellung angesichts einer Absicht, Problemstellung, Entscheidung oder Zielvorgabe, die es zu erreichen, zu lösen oder zu entscheiden gilt, sollten alle Möglichkeiten erwogen oder abgeschätzt werden. Meist bleiben aus der Vielzahl dann sowieso nur wenige gängige und heilsam dienende Varianten bestehen. Selten sind es mal gerade Zwei oder gar nur eine Einzige. Oftmals werden dabei schnell Varianten in Betracht gezogen, die sich bereits bewährt haben in der eigenen Geschichte, die aus Erzählungen anderer bekannt geworden sind oder die eine große Sicherheit versprechen, um dann schnell darauf zu drängen, umgesetzt zu werden. Sie beginnen häufig mit „Man“. Bemerke ich diese Motive, reagiere ich vorsichtig. Was einmal oder mehrmals geklappt hat, kann und muss nicht beim nächsten Mal ebenfalls gelingen. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit, die aber oft in der Hetze der Zeit vernachlässigt wird. Gerade in der Körperarbeit ist das häufig zu beobachten. Der Satz von 60 Asanas hat sich in 1000 Jahren immer wieder bewährt. Wir sollten ihn nicht ändern, und die Anweisungen des/der Lehrer unbedingt folgen, denn er/sie unterrichtet aus einer sehr alte Tradition. Leider kennen alte, sehr alte Traditionen keinen Acht-Stunden-Büro-Job mit Bildschirm und Tastatur. Auch gibt es in den alten Traditionen kein ADHS, keine Depressionen, kein Borderline-Syndrom und auch keinen Burnout. Auch waren Bewegungsmangel, Übergewicht und andere Hoch-Zivilisationskrankheiten in den alten Zeiten seltener zu beobachten. Dafür gab es andere Erschwernisse, die heute gar fast keine Rolle mehr spielen. Warum sollten daher die guten alten Yogaübungen dieser Zeit also gegen unsere schlechten Gewohnheiten helfen. Sicherlich gibt es im weit fortgeschrittenen Yoga-Milieu, besonders in den Meditationsanleitungen, gewisse Übereinstimmungen in allen Zeiten. Aber die körperlichen Voraussetzungen dazu sind auf jeden Fall verschieden. Ich plädiere daher auf jeden Fall für ein ganz besonders genaues Hinschauen, welche Yamas, Niyamas, Asanas, Pranayamas und Meditationen den neuen Anforderungen noch gerecht werden. Selten muss ja zum Beispiel bei Asana und Pranayama die ganze Übung verändert werden, es sind mehr die Intensität der Übung, die Intensionen und die kurzzeitigen Zielvorstellungen, die an die Moderne angepasst werden sollten. Die alten Yamas und Niyamas im besonderen berühren die philosophischen, ontologischen und gesellschaftlichen Zustände und Erfordernisse der heutigen Zeit in Mitteleuropa nur wenig. Dazu sind die Formulierungen für die Komplexität unserer Zivilisation zu oberflächlich und nicht differenziert genug.

Im Grunde kann und muss heute für das Üben von Yoga eine andere Grundausstattung an Vorbedingungen präsentiert werden. Das beginnt damit, das Yoga für ein Leben konzipiert werden sollte, das heute, hier und jetzt und in einer Lebenserwartungs-nahen Zukunft geschehen soll. Für eine Wiedergeburt vorzuarbeiten oder vorgegebenen Regeln zu folgen, die ein paradiesisches Weiterleben nach dem Tod ermöglichen könnten, wird unserer heutigen Erwartung ans Yoga nicht mehr oder nur noch selten gerecht. Fünf Erscheinungsbilder für Yoga können heute beobachtet werden:

  • Da gibt es Yoga als Freude an Sport und Bewegung.
  • Dann Yoga als Vorsorgepraxis bezüglich der körperlichen Gesundheit.
  • Dann wird Yoga als Therapieform verwendet, um Zivilationsbelastungen zu kurieren.
  • Dann gibt es Yoga als eine Steigerungsform im Selbstgestaltungsprozess. Das gilt sowohl für körperliche (z.B. Beweglichkeit) als auch mentale (z.B. Konzentration) und meditative (z.B. Bewusstseinserweiterung) Formen.
  • Weiterhin kann Yoga als spirituelles Narrativ (Wir Yogi(ni)s…) praktiziert werden.

Alle fünf Formen besitzen ihren Charme und gelten als sehr beliebt. Und sie haben ihre Berechtigungen. Trotzdem können eigentlich nur „die Freude an Bewegung“ und eine „Vorsorgepraxis“ den vollen Yoga-Ansprüchen genügen. Die Therapieformen benötigen Erweiterungen, zu nennen sind da bevorzugt Ayurveda, Thai-Massage und natürlich ärztliche Begleitung [1. Das ist schon aus rechtlicher Sicht unbedingt erforderlich.]. Als Selbstgestaltung-Praxis müsste geklärt werden, wo denn die Zielvorstellung derselben eigentlich liegen sollte. Wenn man sich in der Yoga-Literatur umschaut, gibt es dafür eigentlich nur Warnungen. Große Kundalini-Erfahrungen zum Beispiel gehen oftmals mit langwierigen körperlichen Krankheitsbildern einher, kleinere Energie-Erfahrungen lassen die Fragen offen, welcher Nutzen daraus abgeleitet werden kann. Nur langjährige Erfahrungen und intensive Übungspraxis könnten eine solide Grundlage dafür schaffen. Sicherheitshalber aber keine Energie-Erfahrungen mehr zu machen aber werden dem Yoga einfach auch nicht gerecht, da diese gebraucht würden, um seine Gestaltungsabsicht kontrollieren und leiten zu können. Die in den Schriften beschriebene yogische Meditationspraxis dann ist eine sehr eingeschränkte Form und lässt viele Motive unangesprochen. Hier sind zum Beispiel Zen und und die Zinn‘schen Stressreduktionsmethoden deutlich weiter. Und die Identifizierung mit der Gruppe, die das eigentliche Motiv der häufigen Identifikation mit der Yoga-Lehre ist, ist auch nur ein Narrativ unter vielen anderen. Nicht-Identifikation wäre eher statt dessen angesagt: „Ich lebe in Unabhängigkeit, Unbedingtheit und Freiheit“. Es sind ja gerade die Identifikationen mit irgendwelchen Vorstellungen, die das moderne Leben so belastend machen. Als Fazit bleiben nur „Freude an Bewegung“ und die Vorsorge als Motive übrig, die in der Breite der Gesellschaft praktiziert werden und als fördernd angesehen werden könnten. Seien wir ehrlich: Wer hat heute noch Zeit und Muße, um täglich zwei Stunden Yoga und Meditation über einen langen, in Jahren auszudrückenden Zeitraum, üben zu können. Und das ist sozusagen vom Aufwand her das Minimum, das erbracht werden müsste, um zumindest eine solide Grunderfahrungen des Yoga vermitteln zu können.



Kommen wir jetzt, nachdem der Status „heute“ ausreichend dargelegt wurde, zu den Voraussetzungen im Denken und in der Lebensgestaltung, die Yoga als fördernd ausstatten können.

Yoga, ob als Freude an Bewegung oder als Technik auf ein Ziel ausgerichtet ist immer Arbeit an sich selbst. Es kann nicht gemacht werden, was nur den körperlichen Aspekt einschließen würde, es kann auch nicht mal so als Ausgleich für irgendetwas Belastendes angesehen werden, weil das den ganzheitlichen Aspekt, der immer da ist, nicht einschließen würde, noch kann es mal so einfach mitgenommen werden, weil zum Beispiel meine Freunde das auch machen. Yoga ist Arbeit an sich selbst. Man kann nicht ins Wasser springen, ohne nass zu werden. Wenn ich an mir selbst arbeite, verändert sich das Sein, unmerklich vielleicht, aber nachhaltig. Und ohne Erfahrung oder fachliche Anleitung weiß der Übende nicht, was da so alles betroffen sein wird. Yoga arbeitet, kann somit ein Lebensgefüge verändern. Ob das Ergebnis dann als gewünscht betrachtet oder eher betroffen machend erlebt wird, ist ungewiss. Wohlgemerkt, ich spreche von einer vollen Yoga-Praxis, das heißt täglich zwei Stunden als Minimum in einem in Jahren zu rechnenden Zeitraum.

Yoga-Übungen, ob Asana, Pranayama oder Meditation, müssen, um wirksam sein zu können, angemessen ausgeführt werden. Zuviel oder zu wenig Intension, ohne Konzentration ausgeführt, ohne Maß oder mit zu viel Ehrgeiz ausgeführt wirken sie gar nicht oder gehen sogar in eine unerwünschte Richtung, sprich: So können sie sogar Schaden anrichten! Yoga arbeitet körperlich immer an der Grenze zwischen der Wahrnehmung von „da tut sich was“ und beginnendem Schmerz. In diesem schmalen Fenster erscheinen energetische Wahrnehmungen, sind leichte Anspannungen und auch Entspannungen wirksam möglich. Innerhalb dieser Begrenzungen zu bleiben erfordert einen maßvollen Einsatz von Willen, erfordert ein hohes Maß an Konzentration und Vertrauen in die eigene Beständigkeit. Die Arbeit mit dem Atem, Pranayama, erfordert zusätzlich die Gewissheit, das der Atem nicht falsch ist oder Veränderungen bedarf, um gut zu sein, sondern das man sich nur weitere Möglichkeit erschließt, die der Atem gehen kann und die ihn dann zu einem vielseitigerem Wirken in die Lage versetzen. Bei den Meditationsübungen wird der Übende schrittweise an die Wahrnehmung der Wirklichkeit herangeführt. Das ist nicht immer nur wunderschön, sondern geht tief in die eigene Konzeptionierung hinein und konfrontiert den Übenden mit seinem wirklichen Sein. Er wird Gedanken, Wünsche und Triebe in sich entdecken, die ihm bisher nicht bewusst geworden sind und die oftmals mit den gesellschaftlichen Normen im Widerstreit stehen. Die Wanderung durch „das dunkle Tal der Seele“, wie Eckhardt das nannte, erst führt mit der Meditation dann ins heller werdende Licht. Darauf sollte man sich gefasst machen und das sollte man auch durchstehen wollen, bevor man auf die große Reise geht.

Yoga-Praxis hat nichts mit Fitness zu tun, nichts mit Sport oder Akrobatik. Auch muss für Yoga nicht unbedingt eine große Flexibilität vorausgesetzt werden. Im Gegenteil, je weniger Raum der Körper eines Übenden zur Verfügung stellt, desto eher wird er in den schmalen Korridor zwischen Wahrnehmung und Schmerz gelangen. Das Problem allerdings, das diese Aussage beinhaltet, ist, das die alt-bekannten und auch wirkungsvollen Yoga-Haltungen schon im Vorfeld eine recht hohe Flexibilität voraussetzen. Ist diese nicht begeben, müssen diese großen Übungen zugunsten von Vorübungen hinten angestellt werden. Grundsätzlich gilt, das die Ausgangshaltungen einer Yogaübungen leicht und bequem eingenommen werden müssen. Das gilt für den Meditationssitz, das Sitzen im Pranayama als auch für die Asanas. Beginnt die Übung bereits mit einer Anspannung, ist der Korridor der Wirksamkeit verschoben und der Übende kämpft dann nur noch gegen seinen Ehrgeiz. Aus der bequemen Ausgangshaltung beginnt das Vortasten in den beschriebenen Korridor, in dem letztlich verharrt wird. Das gilt für alle Haltungen gleichermaßen. Bei Übungen, die wie im Handstand natürlich eine Anspannung getragen werden muss, wird diese auf die notwendigen Regionen begrenzt, beim Handstand zum Beispiel sind das die haltenden Arme und Schultern. Woran aber erkennt der Übende bei anstrengenden Übungen, das die Haltung korrekt eingenommen wurde? Bei wenig erfahrenen Übungsteilnehmern wird diese Aufgabe vom Lehrer übernommen. Bei geübten Teilnehmern, die auch schon allein praktizieren, erfüllt diese Aufgabe Maha-Bandha. In allen Übungen ist die Wahrnehmung dieses Bandes, mehr oder weniger deutlich, möglich. Wie dieses Band gesetzt wird und wie es wirkt, übersteigt die Thematik dieses Artikels. Es wird dazu bald einen eigenen Artikel geben.

Zusammengefasst kann über Yoga gesagt werden, das wir es als eine Methode zur Arbeit am eigenen Lebendig-Sein ansehen sollten. Es hat weder religiöse noch esoterische oder mystische Hintergründe, schreibt weder eine spezielle Art sich zu kleiden, zu kommunizieren noch zu essen vor, braucht weder Hingabe an einen Guru noch Anbetung irgendwelcher Götter und kann somit von jedem Menschen praktiziert werden. Was er dazu braucht ist lediglich etwas Aufmerksamkeit, ein wenig guten Willen, viel Geduld und etwas Zeit zum Üben. Der notwendige Zeitaufwand beginnt bei etwa 20 Minuten täglich und steigert sich nach und nach auf eine Stunde. Unter Einbindung von Pranayama und Meditation erweitert sich das dann auf etwa zwei Stunden täglich. Weniger geht meiner Ansicht nach für eine volle Praxis, was ich den Yoga-Weg nenne, nicht. Dieser Weg kann nicht gültig für Alle beschrieben werden, der er erfordert individuelle Ausführungen und Intensionen, die nur mit dem Wort Selbsterfahrung ausreichend beschrieben sein können. Wer den Weg gehen will, muss bereit sein, Erfahrungen selbst, an eigenem Leib und Wesen, zu machen.




Anpassung

Ich möchte mich jetzt einmal mit dem Wort „Anpassung“ beschäftigen. Ich weiß, das Wort hat in spirituellen Kreisen keinen guten Ruf. Die Notwendigkeit, sich anzupassen, das heißt mit anderen Worten gesagt die Reaktion auf die tagtägliche Beobachtung, das sich unser Lebensgefüge fast unaufhörlich verändert, manchmal schleichend und wahrnehmungslos, manchmal aber auch überraschend, blitzartig und oftmals zusätzlich mit großem Nachhall versehen.



Die beschriebenen Wirkungsweisen erscheinen zunächst konträr und stellen sich auf den ersten Blick dar wie Gegenteile, vielleicht auch als zwei Extreme in den vielfältigen Ausprägungen der Veränderungen, denen wir Menschen unterworfen sind. Aber das stimmt so nicht, denn die Extreme sind nur die Eckpunkte in einer eindimensionalen Linie, auf der sich menschliches Leben und seine Veränderungen abspielen kann. Die Linie beginnt mit der Wahrnehmung kleinster Veränderungen, die nahezu keinerlei Auswirkung zu haben scheint, selten vollständig wahrgenommen wird und endet im gegenüberliegenden Punkt in der blitzartigen Veränderung des gesamten Lebensgefüges, sei es durch schicksalhafte Wandlungen der Gesundheit, sei es durch Tod oder Geburt von Bezugspersonen oder einer Revolution des Gesellschaftsgefüges. Irgendwo auf dieser Linie sind alle Wandlungen eines Lebens in ihrer wirkmächtigen Stärke abgebildet. Und ich spreche hier nicht im Sinne von positiv oder negativ bewerteten Umständen. Sowohl das Auftreten eines neuen Leidens als auch die Heilung eines solchen der Vergangenheit sind wesentliche Veränderungen. Auch kann der Tod eines nahestehenden Menschen als auch die Geburt oder Bekanntschaft eines neuen Menschen ein Lebensgefüge verändern. Und auch die vielen Revolutionen der Geschichte haben nicht immer nur in eine Richtung geführt, auch wenn das nicht gleich in den ersten Folgejahren deutlich wurde.

Stellen wir uns einfach mal zu Beginn ein gegenteiliges Gefüge vor. Alle Tagesabläufe und Ereignisse sind streng, unwiederbringlich und in optimalster Weise geregelt. Vom Aufstehen über das Familienleben, die Tagesarbeit, die Ruhephasen, die Essenszeiten, über das gesellschaftliche Leben bis zur nächtlichen Ruhezeit ist alles vorgefertigt. Wir bekommen ausreichend Schlaf, essen und trinken nur gesunde und wohlschmeckende Lebensmittel, haben eine unseren Fähigkeiten angepasste Arbeit und nur Mitmenschen in unserer Umgebung, die unsere Ansichten teilen, vielleicht sogar genau so leben wir wir, und wir leben in diesem Paradies tagein, tagaus ohne plötzliche Leiden und Qualen, aber auch ohne unerwartete Freude und Erfüllung. Wer würde tauschen wollen ? Alle? Keiner? Ich weiß es nicht. Ich für meinen Teil würde mein jetziges Leben wahrscheinlich doch vorziehen.

Aber das sind ja nur Träume? Nein, auch das stimmt so nicht, denn genau so stellen sich liberale und fortschrittlich denkende Visionäre eine wünschenswerte Entwicklung in der Zukunft vor. Hat das selbstfahrende Auto der Zukunft noch so etwas zu bieten wie Fahrfreude? Ist mit der sofortigen Erreichbarkeit jeder Information so etwas wie eine aufregende Recherche noch möglich? Was wäre eine Abenteuerreise noch wert ohne Abenteuer, weil wirklich nichts mehr unerwartet passieren kann, oder vielleicht sogar erst vor gebucht werden müsste, um überhaupt passieren zu können? Und was wäre Erotik noch wert mit einem Kopfhörer auf dem Kopf, einem Bildschirm vor den Augen, einem berührungsaktiven Anzug am Leib, der eine vorgebuchte erotische Begegnung abspielt wie einen Kinofilm über das eigene Zuhause, weil ich ja stets weiß, was geschehen wird, weil ich es gebucht habe? Aber das ist ja alles nur Zukunftsmusik? Nein, das alles gibt es schon, zumindest in weiten Teilen. Wir haben unsere Freunde in Facebook, treffen uns mit Mitmenschen in Zoom, tauschen Profile aus, um passende Partner für Freizeit, Hobby oder Leben zu finden. Alles ist passend, genau zugeschnitten, genau abgestimmt. Nichts ist und bleibt dem Zufall überlassen. Jeder bekommt genau das, was er möchte, sich wünscht und begehrt, keine Überraschungen, keine Zufälle, keine ungeplanten Ereignisse. Super, oder?



Wie lange haben es, um der christlichen Erzählung zu folgen, Adam und Eva im Paradies ausgehalten? Sind sie nicht der allerersten Versuchung schon erlegen? Wie würde es uns wohl ergehen? Und doch wünschen sich die meisten Menschen wohl die Rückkehr ins wie immer geartete Paradies, und das wohl nur, um erneut von dort ausbrechen zu können? Aber ausbrechen können wir doch immer. Wir müssten dazu gar nicht erst ins Paradies zurück. Warum tun wir es dann nicht öfters mal? Das ist die Frage, die mich seit langer Zeit beschäftigt. Ich konnte sie bisher nur nicht in aller Fülle formulieren.

Kommen wir zurück in die aktuelle Realität. Und ich beginne zunächst einmal mit einem Rückblick, der mir sicher erscheint, in meine ureigene Erinnerung. Sie beginnt mit einem Bild im Alter von vielleicht 5 Jahren mit einem spielenden Kind zwischen Maler-Utensilien (Kalkwanne, Sandhaufen). Mein leiblicher Vater verputze damals einen Neubau von innen und nahm mich mit zu seiner Arbeit. Das nächste Bild zeigt mich am Grabe meines Vaters, den ich mit 8 Jahren verlor. Trauernde Menschen und strenge Regeln gab es an diesem Tag, und eine verzweifelte Mutter. Dann erinnere ich mich an meine Spielstätte vor der gemieteten Garage am Parkplatz vor dem Ortsbahnhof, in dem wir wohnten. Wie gesagt, bis zum zehnten Lebensjahr nur einige wenige Bilder von Ereignissen, die mir zum Zeitpunkt ihres Geschehens wahrscheinlich gar nicht recht bewusst waren, zumindest, was sie für meine Zukunft bedeuten werden. Gab es damals für mich irgendwie mal einen Anfang? Ich denke eher nicht. Wahrscheinlicher ist mir, das ich in eine Welt hineingeboren wurde und schlicht und einfach zu nehmen hatte, was Zeit, Ort und Menschen in meinem Umfeld mir boten. Eine Wahl hatte ich ohne Zweifel nicht. Hat diese Zeit trotzdem mein Denken, Fühlen und Sein beeinflusst? Ja, ganz bestimmt, und es hat Jahrzehnte gebraucht, mich davon zu befreien. Vielleicht hatte ich trotzdem Glück, weil meine Mutter oft keine Zeit für mich hatte und so konnte ich früh zu Selbstständigkeit wachsen. Vielleicht war es auch Glück, das ich nicht so gut Freunde und Verbündete finden konnte. So lernte ich, mich in einer meist feindlichen gesonnenen Welt zu behaupten. Spätestens mit 15 Jahren war mir klar, das ich ausbrechen musste. Ich bewarb mich entgegen dem Willen meiner Eltern in einer Großstadt für eine Lehrstelle und konnte mich durchsetzen. Ein erster Bruch, und eine folgenschwere Entscheidung. Wusste ich das damals? Ich denke, nein. Folgenschwer war, das meine Entwicklung, mein Denken und Wollen eine andere Richtung einschlug und ich dabei den letzten Rest meiner Heimatanbindung an das Dorf verlor. 1970 als 15 Jähriger Dörfler allein ohne Familie in Frankfurt, die Heimatlosigkeit im Gepäck. Mehr muss dazu wohl nicht gesagt werden.

Halten wir fest, was daraus folgernd wichtig erscheint: Es gibt keinen wirklichen Anfang. Man wird in eine bestehende Welt hineingeboren. Und es ist schwer, ohne Folgen diese hinter sich zu lassen. Und was ist mit dem weiteren Leben? War das festgefügt oder sich wandelnd? War der Wandel schleichend oder ruppig? Ich könnte jetzt weitermachen mit der Beschreibung. Der Ort wandelt sich dann, die Zeit ist eine andere. Die Menschen sind andere. Aber das Prinzip bleibt. Jede Wohnung, jeder Arbeitsplatz, jede Beziehung, jeder Abschied und jeder Neuanfang zeitigte Folgen. Sie alle waren nicht planbar, waren nicht absehbar oder konnten als vorbestimmt gelten. Das Leben zeigte sich als ein Labyrinth mit tausenden von Gängen, Winkeln und Abzweigungen. Jede davon brauchte eine Entscheidung, jede hatte Folgen und jede lenkte das Leben in eine andere Richtung. Im Grunde genommen waren mit jeder Entscheidung eine Anpassung notwendig. Jede Anpassung führt weg von einer gefühlten Sicherheit hinüber in ein neues, unbekanntes Terrain. Und selbst jetzt, mit 66 Jahren und im Ruhestand, war und ist Anpassung noch immer eine Aufgabe der Tage, Wochen und Monate, die seither hinter mir liegen und die noch kommen werden. Und ja, das ist gut so. Und ja, ich freue mich darauf, auch morgen noch neue Wege zu beschreiten, auch wenn die Möglichkeiten dafür mit jedem weiteren Lebensjahr schwinden werden. Und vielleicht erlebe ich auch meinen letzten Tag so wie Hesse ihn beschreibt:

Wohl an denn, Herz, nimm Abschied, und gesunde!

So, zurück zum Thema und die Augen trockenwischen… Das Leben bleibt nicht stehen und wartet. Das Leben fordert ständig Entscheidungen und Anpassungen an das Umfeld einer Wirkungsstätte, ob als Handwerker, Angestellter oder als Rentner, ob als Lebenspartner, als Freund oder sogar als Feind. Leben ist diese Fähigkeit zur Anpassung. Wer sich nicht anpassen kann, verwirkt sein Leben. Und eine Grundlage für kommende Anpassungen ist die Wahrnehmung der Welt, jetzt, hier, wie sie ist, wie sie wirklich ist. Dabei hat Wunscherfüllung, Traum und Vorstellung nur wenig Platz. Wirkliches wirkt direkt! Das ist der Schlüssel.



Schauen wir uns diesen Schlüssel einmal an Beispielen genauer an: Wirkliches wirkt direkt. Was bedeutet das? Betrachten wir zunächst eine Banalität. In der heutigen Zeit ist der Kauf eines neuen Computers eine stets wiederkehrende neue Aufgabe. Man geht in ein Geschäft, sieht neue toll aussehende Geräte und ist begeistert von der Innovation, der Neuerungen, der sich weiter entwickelnden Technik. Und dann, man steht vor dem Traum seiner Vorstellung, ein Gerät wie aus dem Bilderbuch. Es kommt Begeisterung auf. Und jetzt heißt es: kaufen… Sicher?

Anderes Beispiel: Man ist seit 30 Jahren in einer Firma, stets am gleichen Arbeitsplatz und kennt seine Wirkungsstätte wie seine Westentasche. Dann neue Kollegen, ein neuer Chef, und schon bald zeitigt der tägliche Umgang eine Wandlung. Die Kollegen nämlich formieren sich zu einem Mob, haben den Chef an ihrer Seite und piesacken unaufhörlich. Man hat offenbar beschlossen, dich loszuwerden. Und das heißt jetzt, sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, sogar kündigen vielleicht, und ganz neu irgendwo anders anfangen… Sicher?

Nun, ich bin und war da etwas anderer Meinung. Und meine Erfahrung in 50 Jahren bewusstem Leben gibt mir dabei recht. Begeisterung ist ein Ergriffensein von einem Geist, der, wie kann es anders sein, nicht immer auf dem eigenen Mist gewachsen ist. Der Hersteller einer Ware kennt die Feinheiten von Verkaufsstrategien bis ins kleinste Detail. Die magere technische Qualität wird durch ansprechendes Äußeres verdeckt, und wirkliche Mängel erscheinen erst dann, wenn das neue Gerät bereits in Betrieb und voll eingerichtet ist. Ein wenig Abstand von der Begeisterung und etwas Recherche sind oft hilfreich bei einer Neubeschaffung. Mein jetziges Gerät ist unscheinbar, punktet aber mit toller Qualität und Kapazität. Selten ist hohe technische Qualität von tollem Design begleitet. Wozu auch? Das kostet nur viel und bringt nur wenig. Ich zumindest bin bisher gut mit dieser Erkenntnis gefahren.

Und im zweiten Beispiel ist der Schlüssel die lange Erfahrung am Arbeitsplatz, die aufzugeben auch unter Mobbing-Aktivitäten nicht immer die beste Lösung ist. Ich selbst stand mindestens zweimal vor dieser Entscheidung, und diese hieß stets: Ich kämpfe. 30 Jahre Erfahrung sind große Waffen, denen Neuzugänge selten etwas entgegensetzen können. Man muss diese nur mit Geschick einsetzen. Dabei muss man nicht einmal gegen die Angreifer vorgehen, im Gegenteil, sich kollegial verhalten, helfen, sich nicht aufhetzen lassen, das sind die Waffen des Erfahrenen gegen einen Mob. Und selbst wenn die aktuelle Situation, vielleicht sogar nach einer Eskalation, niemand ist perfekt, mit Vorgesetzten zu besprechen ist, ist Kollegialität angesagt. Anschuldigungen können meist einfach widerlegt werden. Und nur wenig Vorgesetzte verzichten gerne auf einen erfahrenen Mitarbeiter, der eine gute Arbeitsleistung zeigt. Und Gleiches mit Gleichem zu vergelten, also seine Kollegen zu beschuldigen, ist ungeschickt. Meine Aussage diesbezüglich war stets: Ich verpfeife keine Kollegen. Und damit bin ich immer gut gefahren.

Wir haben heute die Situation, das nahezu alle Entscheidungen im Grunde von wissenschaftlicher Seite mit Ratschlägen versehen sind. Das mag hier und da auch helfen, aber es ersetzt nicht den sogenannten gesunden Menschenverstand, der sich mit einer Situation, einem Ereignis oder einer Wandlung direkt und bezogen auseinandersetzt. In Ratgebern werden vorgestellte Situationen mit Standardlösung bearbeitet, gelöst oder entschieden. Selten trifft das auf Situationen in der Realität zu. Und manchmal zeitigen selbst „vollkommen falsche“ Reaktionen einen glücklichen Ausgang. Leben kann nicht vorentschieden sein. Es lohnt sich oftmals, seinen Geist zu gebrauchen und hier und da auch mal etwas durchzustehen. Geschick, Mut und oftmals auch Aushalten sind große Werkzeuge mit weitreichender Wirkung. Wer sich traut, sie zu gebrauchen, schafft viele Wandlungen eines Lebensgefüges wie im Traum. Und auch aufzugeben ist oftmals ein Schritt in eine bedeutende Zukunft. Warum wohl heißt es wohl: ein Aufgabe lösen? Eine Aufgabe lösen heißt oftmals, sich anzupassen und endlich aufzugeben, am Erwünschten, Alten und Gewohnten festzuhalten, oder im extrem, alles hinzuschmeißen und neu zu beginnen. Weglaufen, so nannte man es früher mal auf dem Schulhof, ist oft keine Lösung, manchmal aber die einzig mögliche.



Leben ist ein Prozess aus Wandlungen, Sprüngen und Einschnitten. Es kann nicht vorausgesehen, geplant oder vorbestimmt werden. Es ist ein empfindliches Pflänzchen in einem großen Wald. Das Werkzeug zum Überleben heißt ANPASSUNG. Anpassung ist das Gegenteil des Resignierens. Sie ist erforderlich jeden Tag, jede Minute, zu allen Zeiten und an allen Orten. Sich anzupassen heißt reagieren, heißt, etwas Altes aufzugeben, etwas auszuhalten oder Neues zu beginnen. Und solange ein Leben diese Aufgabe bewältigt, ist es lebenswert und kostbar. Und selbst wenn es in hohem Alter nur noch dazu reicht, ein Lächeln auf dem Gesicht eines anderen Menschen zu erzeugen, ist Leben immer noch wertvoll und von Wirkung durchströmt. Leben ist Anpassung.

Exkurs: Betrachten wir in diesem Kontext einen Begriff, der oft gebraucht und selten verstanden wird. Betrachten möchte ich das Wort: Existenz. Wenn wir die Existenz zur Grundlage unseres Denkens und Handelns machen, heißt das in wörtlicher Übersetzung, sich herauszuhalten, sich außerhalb zu halten, sich anzupassen. Was aber in westlichen Philosophien selten gesehen wird, ist, das es eben nicht die eine Anpassung ist, die vorgenommen dann ein Leben erfüllt. Wir haben entschieden, mit dem Strom zu gehen, richten dieses ein und folgen dann der Entscheidung passiv und ohne nachzujustieren? Das ist etwa so, wie sich für einen Anführer entscheiden und diesem dann kritiklos nachzulaufen. Das ist so nicht gemeint mit Anpassung. Anpassung ist ein Prozess. Vorgestern habe ich geschaut und folge dem Anführer. Auch gestern noch folgte ich seiner Entscheidung. Heute aber könnte ich nachgedacht haben und bleibe stehen, folge nicht mehr nach. Und morgen könnt ich mich wieder entscheiden, zu folgen. Es ist niemals fertig. Wer kennt nicht die Entstehung eines Feindbildes. Heute hat sich jemand wie ein Feind verhalten, gestern auch und vorgestern ebenfalls, aber morgen könnte es anders sein. Ist dann mein Feindbild auch morgen noch gültig? Ich muss entscheiden, immer wieder, immer wieder neu. Anpassen ist ein laufender Prozess. Das gestaltet sich nicht ganz so einfach, ist oftmals auch das, was man chaotisch nennt. Sei es drum. Menschen suchen, sofern sie suchen, solange sie auf einer Suche sind, doch nicht letztlich nach Führung, sondern sie suchen nach Freiheit. Freiheit ist nicht immer gleich sein, nicht immer anders sein, sondern jetzt und hier eine Entscheidung, eine Anpassung seines Lebensgefüges gestalten zu können. Und das frei und ohne Vorgaben. Leben in diesem Sinn ist ständige Erneuerung. Wie meine Freiheit aussehen könnte, ist nie entschieden. Es ist eben nicht diese Freiheit, sondern: FREIHEIT.

Exkurs: Ein anderer Satz, der oft zu hören ist: Am Anfang war das Wort… Wie viele Menschen haben diesen Satz ohne umfangreiche Recherche jemals verstanden? Und der Satz geht ja noch weiter: …und das Wort war bei Gott… und Gott war das Wort… Hä? Ich habe Stunden und Tage gebraucht, um das auch nur annähernd überhaupt denken zu können. Und bis heute kenne ich nur die vielfältigen Auslegungen und Interpretationen dazu. Eine endgültige Erklärung dazu gab es für mich nicht. Das beginnt schon mit dem Anfang, der ein Wort gewesen sein soll? Welchen Anfang beschreibt das? Die meisten Interpretationen dazu scheitern doch schon an der Frage: Woher kam denn das Wort am Anfang? Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Wenn doch am Anfang schon etwas war, wo kam das dann her? Damit beschäftigen sich tausende von Philosophen seit Anbeginn der Geschichtsschreibung. Sie schrieben darüber dicke Bücher und erfanden Erklärungen, die immer denselben Makel haben: Sie benutzen eine Dialektik. Sie erklären damit in meinem Verständnis nach etwas, was nicht erklärt werden kann, denn die Logik kann nur auf etwas aufbauen, das bereits da ist. Und da ist die Henne schon wieder da. Oder war es doch das Ei?
„Am Anfang war das Wort…“ kann doch nur bedeuten, das wir den Beginn nur dort setzen können/müssen, wo der erste Namen eine Trennung beschreibt, die nicht real sein kann. Wir sehen somit etwas stur als getrennt an im Wissen, das diese Trennung gar nicht sein kann. Dieser erste Gedanke ist offensichtlich wohl nur ein großer Irrtum. Und auf diesem bauen wir dann die Welt, wie wir sie kennen. Das ist, gelinde gesagt, eine sehr wackelige Angelegenheit und für mein Denken ein permanenter, sehr schmerzhafter Stachel.



Man könnte Regale mit Büchern füllen, die immer neue Beispiele des Unvermögens beschreiben, das wir Menschen mit der Sucht nach dem Grund, der Ursache, der Basis, dem Absoluten, dem Unzerstörbaren, dem Unendlichen, dem Zeitlosen, dem Wirkmächtigen, dem Alle-Fragen- Beantwortenden oder wie immer der/die/das auch genannt wird, verbringen. In meinem Verständnis heute, nach dem Studium vieler Bücher und dem Hören vieler Geschichten und Erzählungen muss jeder irgendwann damit aufhören, damit ein Leben lebendig sein kann. Ich beschäftige mich heute ausschließlich nur mit der Frage, wie dieses Aufhören möglich ist, das Ende des Fragen-Stellens.

Oberflächlich betrachtet stellen wir Fragen, um Antworten zu bekommen. Das mag für viele Fragen des täglichen Lebens auch zutreffen. Aber die entscheidenden Fragen eines Lebens, bei mir zum Beispiel die Frage: „Was soll das alles (Welt, Leben, Existenz) eigentlich?“, können diese beantwortet werden, ohne zu betrügen? Und dabei ist es ohne Belang, ob ich mich selbst betrüge oder betrogen werde. Wie oben beschrieben bräuchten wir für eine klare Antwort einen festen Grund (Basis). Aber den gibt es nicht. Und da hilft es auch nicht weiter, wenn ich einen imaginären Grund erfinde wie zum Beispiel: „Da gibt es nichts…“, das ganze dann substantiviere und es „Leerheit“ nenne, nur um einen Namen dafür zu haben, um mit anderen darüber reden zu können. Nichts ist nicht. Wenn ich darüber nicht reden will, brauche ich auch keinen Namen dafür. Und warum will ich darüber nicht reden? Was, frage ich, könnte denn der Inhalt eines Gesprächs sein über nichts? Jeder, der sich mit Spiritualität beschäftigt, weiß, wo meine Beschreibung gerade sich befindet. Ich schreibe über das „Nichts“ der Buddhisten, über die Leerheit, die anstelle von Gott den buddhistischen Glauben begründet. Der Buddhismus als Religion, als Weltsicht, begründet sich darauf, das er im Gegensatz zu dem meisten anderen Religionen nicht an einen Grund, eine Absolutheit oder Transzendenz, sondern an Immanenz glaubt und die dabei aufspringende Lücke mit dem Adjektiv „leer“ oder dem Substantiv „Leer-Sein“ füllt. Und schon kann ich wieder, wie schon gehabt, ein wirkmächtiges Gedankengebäude errichten, wo real nichts ist. So ist das Denken.

Exkurs: Nun ist das Wissen bzw. die Beschreibungen der Hintergründe gerade im Buddhismus natürlich wichtig. Dieses Wissen dient zur Heranführung an die buddhistische Weltsicht bzw. zur Ablösung von Vorstellungen, die durch Kulturen und andere mehr dogmatische Vorstellungen sich eingeprägt haben. Allerdings bin ich der Ansicht, das neuen Ideen, die in ein Leben eindringen, wie die Pflanzen im Garten eine Zeit des Wachstums und der Betreuung bedürfen. Dazu wurden im Altertum nahezu aller großen Kulturen Schulen eingerichtet, in denen sich Menschen abseits von Alltag und den gesellschaftlichen Machtgefügen in geschützter Umgebung den neuen Herausforderungen nähern konnten. Eine solche Lebensweise gibt es heute eigentlich nur noch in der Form eines Klosters, in den sich Adepten, Suchende und Verlorene zeitweise einbringen können. Die übliche Vorgehensweise heute, eine Workshop zu besuchen oder in einer Einrichtung wie einem Studio regelmäßig Unterricht zu nehmen, aber die größte Zeit weiterhin im Alltäglichen zu verbringen, wird eher solchen Anforderungen nicht gerecht. Das dann neben der einen Thematik heute leicht noch viele andere Schulungen in Traditionen angeboten werden und man dann sozusagen ein Workshop-Hopping machen kann, ist zusätzlich noch ein Erschwernis der heutigen Zeit. Wenn man mich also fragen würde, wie eine Transformation in Spiritualität heute zu handhaben sein könnte, würde ich vorschlagen, sich eine der vielen Möglichkeiten herauszusuchen und sich dann durchzubeißen, lange dabeizubleiben und es durchzustehen. Es werden Hindernisse auftauchen, es wird Ärgernisse und Missverständnisse geben, und da darf man nicht vorschnell die Flinte ins Korn werfen und sich einfach anderen Schulungen widmen. Ich zum Beispiel habe 18 Jahre lang Karate geübt, bin seit 30 Jahren im Yoga unterwegs und habe nach einer ersten, etwa zehn Jahre langen Kontakt zu einem Zen-Kloster jetzt einen zweiten Anlauf in dieser asiatischen Meditationsform genommen, imdem ich mich jetzt seit mehr als sieben Jahren einer Zen-Sangha angeschlossen habe. Und ich übe noch immer hier und da mal eine Karate-Kata, und ich übe seit Jahren täglich Yoga und Zazen.

Der Weise sagt: „Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen“. So, ich glaube, das Reden sollte jetzt auch hier ein Ende haben. Aber was will ich eigentlich bezwecken mit dem Schreiber über etwas, worüber man weder reden noch schreiben kann? Wir sind Menschen. Menschen können über Dinge reden, die es nicht gibt, über Dinge nachdenken, die nur in der Phantasie existieren, uns vorstellen, jemand oder etwas anderes zu sein. Wir können heute uns hier begeistern, morgen irgendwo anders, und übermorgen schon wieder etwas neues beginnen. Allerdings wird diese Art der Schulung, so fürchte ich, wenig Erfolg bringen. Wir sind im Denken frei und ohne Festlegung. Das sollten wir wissen und das dürfen wir, trotz aller Formen und Vorgaben, niemals vergessen. Und wir müssen uns anpassen, immerzu, fortwährend, um dem Strom, dem Prozess des Lebens zu folgen. Und manchmal müssen sogar heraustreten aus dem Strom, den Prozess neu regulieren, um lebendig, um frei zu bleiben.

Was für ein Abenteuer das Leben doch ist!




Das Problem mit der „Rückkehr zum Urgrund“

Oftmals, wenn ich ein Buch oder eine Schrift mir vornehme, mit der ich Informationen und Anstöße zum Lebensgefüge meiner Selbst zu bekommen hoffe, stoße ich auf einen Vorschlag, eine Anweisung oder eine Idee, die soviel ausdrückt, als müsse ich eine Handlung verfolgen, die zurück zum Uranfang, zum Ursprung oder zum Urgrund führen könne. „Zurück“ ist der erste Begriff, der mich stört, denn ein Zurück kann es doch nur in Gedanken, innerhalb von Vorstellung und Geschichten, geben. Und die zweite Störung empfinde ich bei der Vorsilbe „Ur“, die mir zu suggerieren scheint, es gebe so etwas wie den einen Ausgangspunkt der Entwicklung, den einen Anfang, das Ereignis des Anfangs, der heute in mein aktuelles Leben mündet.



Gedanken zum Verzweifeln – 001

Beginnen wir also mit der Begrifflichkeit „zurück“. Also mir ist im Grunde genommen keine Handlung bekannt, die dazu in der Lage wäre, einen Gedanken und der damit verbundenen Handlung, der in der Vergangenheit liegt, rückgängig, ungeschehen zu machen oder in „nicht stattgefunden“, „nicht wirklich gewesen“ zu verwandeln. Selbst ein reiner Gedanke, der mir in den Kopf steigt und aufgrund seiner Seltsamkeit [1. Seltsamkeit = passt nicht in mein gelebtes Gefüge] sofort wieder verworfen wurde, wurde gedacht und bleibt somit wirklich. Denn wie oft geschieht es mir, das in einer späteren stillen Minute dieser seltsame Gedanke wieder erscheint, um erneut anzufragen, ob er nicht doch irgendwie zu berücksichtigen sei. Und auch eine Handlung, die begangen, aber nicht von irgend jemand bemerkt wurde, ist begangen und damit auch vorhanden. Wir wissen als einzelne Menschen doch gar nicht, was Gedanken und Handlungen in die Welt zu setzen vermögen. Das alles zu überblicken würde uns unserer ganzen Kraft berauben und lähmen für alle Zeit. Es ist doch gerade das Geheimnis des Menschen, das er in der Lage ist, ohne wirklich zu wissen, was zu tun sei, in Angesicht des Flusses des Erscheinenden, einfach gehen kann. Es ist seine Stärke, das er, ohne grundsätzlich von Programm, Instinkt oder Trieb gesteuert zu sein, in vielfältiger und oft auch seltsamer Weise handeln kann. Er macht einfach. Das ist ja auch das Problem, das menschliches Dasein seinem eigenen Selbstgefühl stellt. Wir wissen oft nicht, versichern uns oft nicht, schützen uns oft nicht und tun trotzdem ständig etwas. Was, um zum Thema zurückzukehren, bedeutet dann „zurückgehen zur Quelle“, zum Anfang, als ob die Quelle jemals der eine Anfang gewesen sei. Haben wir nämlich die Quelle gefunden, fragen wir doch weiter, wo das Wasser herkommt, das diese Quelle speist. Und haben wir den Grund gefunden, aus dem das Wasser zur Quelle fließt, fragen wir weiter, wie es denn dort hinkommen konnte. Und was mit dem Fluss, der Quelle und dem Wasser sich nicht lösen lässt, lässt sich auch mit Gott und meinem Selbst nicht lösen. Das Ausschließen, Transzendieren oder Einrahmen, das wir in nahezu jeder Schrift irgendwo finden, ist doch auch keine Lösung, sondern die Fragen bleiben. Und was wir im Grunde dann tun, ist, irgendwann aus der puren Verzweiflung heraus ein Ende zu setzen, das jeder Logik unseres Denkens widerspricht. [2. Was in der Bibel steht, stimmt! Woher weiß ich das? Es steht in der Bibel!] Das Fragen wird so niemals zu einem Ende kommen können, das ist in meiner Vorstellung einfach sicher, denn ein Ende zu setzen heißt doch, mit Glauben beginnen zu müssen. Und mit Glauben habe zumindest ich so mein Problem.



Betrachten wir, um weiterzukommen, dann einfach den zweiten Störenfried, die Vorsilbe „Ur“. Laut Wikipedia dient die Vorsilbe Ur… dem Bezug auf eine lang vergangene, alte oder ursprüngliche Sache. Einen weiteren Bezug findet diese Vorsilbe in Bezug zu einem Ausgangspunkt und als Steigerungsform (Augmentativbildung) wie bei „urgermanisch“ zum Beispiel. Der nächste Bezug ist die Verwendung bei Ahnenreihen, wo sowohl zukünftige als auch vergangene Verwandte mit Ur… beginnen wie bei Urenkel und Urahnen. Und natürlich gibt es diese Steigerungsform auch bei Jugendsprachen, wo sie wie bei „urcool oder urgeil“ als ins Exzessiv gesteigert verwendet werden.

Was ist also jetzt der Uranfang? Wahrscheinlich ist meiner Einschätzung nach damit der Ausgangspunkt gemeint, den der Sprecher als letzten oder öfters auch mal als ersten Punkt seiner Befragungsreihe festgelegt hat. Wir finden solche Punkte in der Astronomie als Urknall, in der zum Beispiel christlichen Theologie als der Urahn (Adam), in der Chemie als der Urstoff (Wasserstoff als Element). In der Spiritualität finden wir solche End- oder Anfangspunkte als Atman oder das Selbst, wobei beide als die letzte oder erste Ebene angesehen werden. Wir können das dann zielführend den Urgrund nennen. Nun sind die europäischen und indischen Systeme ja alle auf der Kausalität, dem Ursache-Wirkungsprinzip aufgebaut. Hier liegt wie bei nahezu allen europäisch orientierten Religionen und Anschauungen [3. Die Wissenschaften westlichen Stils sind hier ebenfalls dabei.] entweder ein oder mehrere Götter oder ein synthetisches Prinzip (Transzendenz, Existenz, Universum) zugrunde. Kurz gesagt ist die Befragungsreihe ja nicht abgeschlossen an den genannten Punkten, sie wird aber einfach so, sozusagen willkürlich, unterbrochen, weil die Menschen der Gesellschaft sich in Glauben und Wissen und in Bezug zu entsprechenden Definitionen darauf geeinigt haben, das so zu tun.

Was wir bis jetzt vorfinden, ist doch folgender Sachverhalt: Bei den zusammengesetzten Wörtern aus den Eingangszeilen, gibt es einen gesetzten Punkt, der nur aufgrund einer Vereinbarung nicht überschritten werden sollte. Diesen Punkt nennen wir Grund, Urgrund. Zurück zu ihm können wir nicht gehen, das haben wir schnell eingesehen. Wir können ihn uns nur vorstellen. Und in dieser Vorstellung kreierten, erfanden Menschen jeglicher Tradition in allen Zeiten ihren ureigenen (im Modus der Verstärkung) Beginn. Ich sehe das heute so wie zum Beispiel bei den alltäglichen Beurteilungen der Spezialisten an den Börsen. Jeder reimt sich dort irgend etwas zusammen, proklamiert das öffentlich und hofft, das viele Andere dieser Argumentation folgen und mit Taten unterfüttern, wobei mit zunehmenden Erfolg das Erratene immer mehr Wahrnehmung und somit mehr Wirklichkeit bekommt. Das besonders die erfolgreichen Treiber dieser Wirklichkeit in Wahrheit am Anfang ihrer Tätigkeit eigentlich Lügner und Betrüger waren, spielt dann schon bald keine Rolle mehr. Und hier haben wir dann auch die spezifische Eigenschaft des Menschen, die diese Lebensform vor allen anderen Wesen auszeichnet: Menschen sind unter allen Tieren die am höchsten entwickeltesten Lügner und Betrüger [4. Darüber in einem anderen, späteren Artikel mehr…]. Ihren Erfolg verdanken sie in weiten Teilen der überragenden Fähigkeiten zur Täuschung und Überlistung ihrer Feinde und Opfer, und weitergehend sogar noch gegenüber sich selbst. Und natürlich spielt auch Ausbeutung in allen Belangen eine Rolle. Aber das ist dann eine ganz andere Gedankenlinie. Nun gelten diese Ausführungen für alle der Kausalität folgenden Systeme. Aber es gibt ja auch solche, die weder diesem Prinzip folgen (Das klassische China wäre ein Beispiel) noch so etwas wie einen Urgrund kennen. Der Buddhismus sieht eine Leere als so etwas wie den Grund an, aber „leer“ ist ja ein Eigenschaftswort, das so etwas bedeutet wie „nicht gefüllt mit etwas“. Da ist also bezüglich der Füllung kein Etwas, kein Subjekt zu erkennen. Und da die Metapher eines Gefäßes im buddhistischen Theoriegebäude ja auch bestritten wird, das Gefäß Universum ist unendlich und wird sogar als zeitlos gedacht, kann es somit gar nicht leer sein. Leer-Sein-Können bedarf immer eines abgegrenzten Raumes, eines Rahmens. Den gibt es für das Universum aber nicht. Im Mahayana [5. Der Mahayana ist die vorherrschende Form des Buddhismus] wird das sogar noch weitergeführt und als „Leerheit“ bezeichnet, also als ein Substantiv eines ursprünglichen Adjektivs. Für uns Europäer ist das vollkommen unlogisch. Im Leeren ist keine Substanz, kein Anfang, kein Ereignis, das sich eingrenzen ließe, möglich. Wo etwas leer ist, da ist nichts drinnen. Und wie kann etwas Unbegrenztes, Unendliches und sogar zeitlich nicht Eingrenzbares, als sozusagen „Alles, was ist“, leer sein.



Es stellt sich doch stets die Frage, was es mit dem Urgrund, den wir finden sollen und wollen und der so wichtig scheint, eigentlich verbinden. Was erreichen wir eigentlich, wenn wir den Urgrund erreichen? Was gibt es dort, was es hier und jetzt nicht zu geben scheint? Häufig wird dieses Erreichen als eine Erleuchtung angesehen, als ein Ankommen in Vollendung, eine Erfahrung, die alles andere in den Schatten stellt. Aber betrachten wir das einmal nüchtern. Das dort zu Erreichende wird ja nicht erst jetzt für uns geschaffen. Es ist ja schon da, war schon da vor meiner Geburt, und wird mein kurzes Leben auch überdauern. Darin sind sich sich alle einig, die zurück zum Ursprung wollen. Was erreichen, erleben, erfahren wir also, wenn wir ankommen? Ist es nicht eher das Erlebnis der Erfahrung, sich über Jahre hinweg stets geirrt zu haben, herumgeirrt zu sein in Geschichten und Setzungen, die nicht einmal die Spur einer Realität aufweisen. Und ist das Ergebnis der Brillensuche, das beschreibt, das ich dieses gesuchte Objekt schon die ganze Zeit auf der Nase sitzen habe und ich ich nicht in der Lage war, das zu bemerken, nicht eher ernüchternd und nicht als erhaben zu betrachten. Im Buddhismus sind Gier, Hass und Verblendung die drei großen Übel, die den Menschen auszeichnen. Weniger zu begehren, weniger zu hassen und weniger verblendet zu sein wäre also ein Schritt auf dem Weg zum Ziel. Aber ist die Suche nach einem Ziel nicht auch Begehren. Ist unsere Verblendung, die wir bemerken müssen, um ans Ziel zu gelangen, nicht gleichzeitig auch zumindest etwas Hass auf uns selbst, zumindest in der Form, in der wir uns gerade jetzt sehen. Und ist Verblendet-Sein nicht immer mit „einem Wissen, das…“ verknüpft. Ist also, um exakt weiter zu fragen, ein Ziel zu haben nicht Verblendung? Somit wäre auch das Zurückkehren wollen zum Ursprung also auch Verblendung? Kompliziert? Nein, Logik!

Betrachten wir daher das ganze Dilemma mal aus einer weiteren Perspektive. Gibt es einen Anfang? War am Anfang meiner Existenz wirklich meine Zeugung oder Geburt? Für mich als Mensch betrachtet mag das aus allgemein gültiger Sichtweise ja folgerichtig sein. Für mich persönlich aber finde ich diesen Anfangspunkt nicht. Viel eher erscheint mir das Erlebnis eines Aufwachens in einer bereits vor-ausgebildeten Existenz viel wahrscheinlicher zu sein. Der erste und älteste Punkt in meiner Erinnerung liegt in etwa im Alter von vier Jahren und besteht nur aus einer sehr kurzen Sequenz. Bereits der nächste Punkt liegt Jahre später, bei etwa acht Jahren und war ein sehr einschneidendes Erlebnis. Dazwischen ist, bis auf sehr kleine Zwischentöne, überwiegend Bilder, absolute Leere, in der Definition „keine Erinnerung“. Trotzdem kommt es mir vor, als wäre diese Leere doch irgendwie von mir durchlebt, durchlitten worden. Da ist kein Bruch durch die fehlenden Erinnerungen. Treiben wir es jetzt einfach mal auf die Spitze. Was wäre, wenn wir uns generell an Vergangenes nicht erinnern könnten? Wie würden wir denken, wie leben? Ich bin mir sicher, das wir als Menschen so in freier Wildbahn nicht hätten überleben können. Die Erinnerung gebiert in meiner Vorstellung ja gerade die Fähigkeiten, mit denen der körperlich eigentlich so schwache Mensch sich in der Natur gegen viele Neider und gefräßige Feinde hat durchsetzen können. Sollte die Erinnerung also nicht eine besondere Rolle spielen auch in der Planung einer Zukunft?

Es gibt im Chinesischen die schöne Geschichte mit dem Boot, das bei einer Wanderung zur Überfahrt eines gefährlichen Stromes benötigt wurde. Am anderen Ufer angekommen allerdings, ist es dann nicht mehr von Nöten. Es kann getrost zurückgelassen werden. Wenn unsere Erinnerungen wie das Boot gesehen werden, müssten wir dann nicht zu einer Schlussfolgerung kommen, die besagt, das Erinnerungen der Vergangenheit hier und da mal von Nutzen, überwiegend aber eher zu einer Last zu werden drohen, wenn sie nicht wirksam ausgedünnt werden. Die Frage ist doch, wie kann so ausgedünnt werden, das verschwindet, was wir nicht brauchen, und bleibt, was in naher Zukunft eventuell noch benötigt wird. Ich weiß nicht, wie das geschehen kann. Und damit bin ich wieder an der Stelle angekommen, die ich am Anfang des Artikels schon einmal gestreift habe. Ich weiß nicht und gehe trotzdem. Und wieder einmal bin ich gedanklich im Kreis gelaufen.



Oftmals müssen wir raten, müssen einfach tun auch ohne Wissen, ohne Nachdenken, ohne Sicherheit. Ist es nicht das, was ein Leben so richtig spannend und aufregend macht. Was ich allerdings einschränkend konstatieren muss ist der Ratschlag, das bei allem Mut trotzdem immer etwas im Hintergrund eine Rollen spielen sollte, das sinnvolle Maß. Daher unterscheiden wir auch zwischen den Begriffen Mut und Wagemut. Wir müssen viel riskieren, um recht zu leben, ja, aber das gilt eben nicht für alles und nicht zu jeder Zeit. Maß-Halten ist somit nicht nur ein Begriff für das Langweilige in einem, sondern sogar eine absolut notwendige Bestrebung für das Leben. Ein rechtes Leben enthält daher in meiner Vision immer einen gut durchdachten Anteil von Maß. Das gilt das für den Umgang mit Menschen, mit Tieren und Pflanzen, mit der Technik und auch innerhalb von kulturellen Systemen. Die Frage, die ich mir häufig stelle, ist: Muss das wirklich sein? Und sehr häufig und mit zunehmenden Alter immer öfter lautet die Antwort: Nein. Und manchmal wird auch schnell „nein“ gedacht und es trotzdem unmittelbar in eine Tat umgesetzt. So ist das eben mit mir als Mensch. Vollkommen-Sein geht wohl doch anders.

Wie am Anfang in der Überschrift ausgeführt, sind diese Zeilen der Versuch 001. Es werden weitere Versuche folgen müssen, wie das dreistellige Format das schon in der Überschrift, durchaus pessimistisch vorgeprägt, vorzugeben scheint. Vielleicht mit einem anderen Einstieg, vielleicht mit anderen, konträren Gedanken, vielleicht auch mit anderen Schlussfolgerungen. Ich denke, es müssen im Denken noch viele Versuche zum Scheitern gebracht werden, um wirksam vorwärts zu kommen. Es bleibt, zumindest für mich als Schreiber, spannend. Und das ist es auch, was mich auch in Zukunft hoffentlich zum Denken-Wollen beflügeln wird.




Wir brauchen eine andere Weltsicht für den Gebrauch von Yoga

Wann immer wir uns, ob das mit einer uns fremden Religion, einer uns fremden Technik, Weltsicht oder Sichtweise auf das Leben zu tun bekommen, sollten oder müssen wir uns sogar darüber klar zu werden versuchen, wo wir eigentlich selbst in dieser Frage stehen.



Wenn wir uns zum Beispiel mit Yoga beschäftigen und uns mit den Hintergründen der Techniken, Konzentrationen und Meditationen beschäftigen, treten wir ein in eine uns fremde Denkweise, die für uns, das ist meine Ansicht, erst erschlossen werden kann, wenn wir unseren eigenen Standort kennen oder zumindest als Umriss zu erkennen in der Lage sind. Ein entsprechendes Bild werden wir vorfinden, wenn wir uns, in der westlichen Denkweise verhaftet, mit Zen, Vipassana, TCM oder Thai-Techniken beschäftigen und in deren Grundlagen einzudringen versuchen. Ich möchte daher hier einmal kurz versuchen, den typisch westlichen Standort zu umreißen.

Alle indo-europäischen Sprachen und Kulturen, zu denen wir in Europa gehören, besitzen ein für diese Gruppe an Sichtweisen eine ganz typische Struktur. Beginnend damit, das hier immer auf ein transzendentales Wesen (Gott) ausgerichtet gedacht wird, nimmt die Basisbewegung dieses Denkens zumeist eine Form an, in der die Wirkung einer Ursache folgt. Wir nennen das Kausalität. Eine weitere sehr wesentliche Grundlage indo-europäischen Denkens sind die logischen Grundsätze, die von Aristoteles sehr detailliert ausgearbeitet wurden und die bis heute unsere Denken bestimmen. Einer der wesentlichsten Sätze dabei ist die Feststellung, das Sein und Nicht-Sein nicht gleichzeitig eine Sache begründen können. Gerne wird bei dieser Sicht schon übersehen, das Sein und Nicht-Sein selbst bereits Setzungen sind, das heißt somit, aus meiner Sicht, das Setzungen mit Setzungen festgelegt werden sollen. Die Wissenschaften, die sich mit den daraus resultieren Problemen beschäftigen, die zu einer Formulierung derartiger Grundsetzungen führen, nennen wir Philosophie, die Liebe zur Weisheit, und die Fachrichtung innerhalb der Philosophie dabei nennt sich Ontologie, die Wissenschaft vom Sein.

Neben den indo-europäischen Denkweisen gibt es viele andere Varianten einer Grundlegung für das Denken. Verbreitet sind diese bei vielen Naturvölkern, wie den indianischen Völkern auf dem amerikanischen Kontinent oder den Aborigines in Australien. Eine weitere für uns sehr wichtige Sichtweise finden wir in einer großen Kulturnation, China, namentlich Taoismus genannt und den auf dieser Tradition aufbauenden Formen wie den Konfuzianismus und Chan. Der in der chinesischen Kultur auftretende Taoismus, mit dem ich mich erst später im folgenden Text etwas näher beschäftige, besetzt eine ganz andere Grundhaltung des Denkens. Allerdings müssen wir, um diese zu verstehen, uns in das klassische China zurückversetzen, da die relevanten Texte dieses Taoismus in der klassischen chinesischen Schrift überliefert sind, die sehr viele heute übliche und durch die Europäer ins Chinesische eingebrachte Sprachwendungen nicht kannte. So gibt es in der klassischen chinesischen Schrift keine Verben, es gibt kein Sein und keine seiner Abwandlungen, und es gibt kein Ich, zumindest nicht so, wie es in Europa gewöhnlich verwendet wird. Daher sind die klassischen Schriften wie das Daodejing, das Iging oder der Zwuangzi sehr schwer in eine europäische Sprache zu übersetzen. Weiterhin kennt diese Schrift und die ihr zugrunde liegende Denkweise keine Transzendenz, kennt keinen Gott und verwendet keine Kausalität. Die Denkweise ist also dezidiert Immanenz-Sichtig, verwendet kein Selbst und Sein als Bodensatz, ist rein prozessorientiert, kennt aber, und das macht es für uns interessant, als Verfahren die Dauer, die Neigung und die Wandlung und ist auch in der Lage, diese zu beschreiben. Vielleicht soviel zunächst einmal als Hintergrund.

Wenden wir uns jetzt, nach diesem winzig kleinen Ausflug in die Geisteswissenschaften, den Sichtweisen zu, die erforderlich sind, um zum Beispiel mit Yoga zu arbeiten. Yoga ist so aufgebaut, das es der Gesunderhaltung des Körpers und des Geistes dient. Dazu werden Übungen und Praktiken geübt und ausgeführt, die zu Prävention und Heilung dienlich sind. Auch Ayurveda, die indische Medizin, dient in diesem Sinne, wobei die Ernährung und die bekannten Anwendungen eine große Rolle spielen. Das große Prinzip des Yoga-Übens und Yoga-Sich-Verhaltens ist Vorbeugen, ist Prävention. Wir merken das, wenn wir Yoga-Übende beobachten, sehr schnell, denn der gesunde, entspannte und unverbrauchte Mensch wird mit den meisten Übungen schnell und gut zurecht kommen. Gut, in Europa sind entspannte und unverbrauchte Menschen schwer zu finden. Daher wird zunächst bei den Einführungen von Yoga auch auf Entspannung und Erholung sehr großen Wert gelegt. Leider muss aber trotzdem immer darauf hingewiesen werden, das unsere hier in Europa übliche Lebensweise nicht viel zu Entspannung und gesundem Sein beisteuern kann. Hektik, Zeitmangel, Anspruchsdenken und Stress sind mittlerweile allgegenwärtig. Und ein weiteres Manko kommt einer schnellen Einführung ins Yoga, zu dem auch die Meditation gehört, meiner Ansicht nach hinzu. Die Motive wurden bereits weiter oben genannt. Es sind zu nennen das Prinzip Kausalität, das typisch europäische Anspruchsdenken sowie das Fehlen der Prinzipien eines Prozess-Verständnisses, das mit den Begriffen Wandlung, Neigung und Dauer gut beschrieben werden kann. Denn, Heilung und Gesunderhaltung sind immer Prozess.



Beginnen wir mit dem Anspruchsdenken. Sehr oft sehe ich Menschen in den Yoga-Unterricht kommen, die sich aus den bereits benannten Gründen verspannt, verletzt oder schon geschädigt haben. Ihr Ziel ist, den Körper durch die Übungen zu reparieren, um dann ihr gewohntes Verhalten wieder aufnehmen und fortführen zu können. Das Wundern ist dann aber groß, wenn sie feststellen, das selbst nach gelungener „Reparatur“ die alten Störungen schon bald wieder auftreten und sogar noch stärker sich ausbilden als zuvor. Das nenne ich Anspruchsdenken, denn das ist in etwa so, als wenn ich ein Auto nach Grabenfahrt und Reparatur wieder in den selben Graben steuere und erwarte, also den Anspruch habe, das dieses Mal keine Reparatur erforderlich sein wird. Vielmehr wäre hier und da eine Änderung in der Lebensplanung anzugehen, um weitere Erkrankungen zu verhindern.

Gehen wir zügig zum nächsten Punkten, dem Fehlen des Prozess-Verständnisses. Nach der zuletzt genannten „Reparatur“ wäre es angesagt gewesen, die Übungen in vollem Umfang weiterzuführen, um zumindest in Zukunft größere Schädigungen zu meiden, wenn ich schon weiter mache wie zuvor, ich also meinen Anspruch nicht aufgeben kann. Eine einmal aufgetretene Störung, die durch Stress oder Überforderung verursacht wurde, wird immer in der Form eines Prozesses hervorgebracht, der sozusagen ein Muster generiert. Dieses Muster wird dauerhaft gespeichert und kann jederzeit bei gleichen oder ähnlichen Belastungen wieder aufgerufen werden. Daher müssen, zumindest für eine gewisse Zeit, die befreienden Übungen fortgesetzt werden, selbst wenn eine Genesung bereits eingetreten ist. Mit einfachen Worten ausgedrückt: Reparatur abgeschlossen, Yoga beendet? Das geht so ohne weiteres nicht. Um eine Wandlung herbeizuführen, die von Dauer geprägt ist, müssen diese falschen Muster sozusagen „überschrieben“ werden. Diese Veränderung braucht viele Wiederholungen, viele zielführende Impulse und somit einen langen Atem. Ich selbst würde den Zeitraum für diesen Prozess in Jahren ausdrücken.

Und kommen wir zu letzten Punkt in der oben aufgeführten Liste, der Kausalität. Für das Üben von Yoga würde das bedeuten, das ich immer fragen müsste, wozu eine Übung denn eigentlich gut sei. Nun betrachte ich zumindest das Yoga als ein Übungssystem, wobei die verschiedenen Übungen sich ergänzen, sich begründen oder sich gegenseitig fördern können. Selbstverständlich können bestimmte Übungen bestimmte Reaktionen hervorrufen. Aber eine Ursache/Übung hat eine Wirkung? So einfach ist es selten, auch wenn unsere Mediziner das anscheinend immerzu anzunehmen pflegen. Auch viele Ursachen können nur eine Wirkung haben, oder eine Ursache kann viele Wirkungen hervorrufen, oder viele Ursachen führen zu vielen Wirkungen? Was von alledem ist richtig? Und auch aus dem Blickwinkel einer bestehenden Störung ist die Forschung nach der Ursache doch mit der gleichen Problematik behaftet. Eine Yoga-Therapie ist immer mit dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ verbunden. Welche Übung hilft? Welche mögliche Ursache muss beseitigt werden? Welche Kombination führt auf den Weg zur Heilung? Das sind die Fragen, die zu beantworten sind. Grundsätzlich gilt, was zur Heilung/Gesundheit beiträgt, ist gut und sinnvoll. Und diese Fragen können nur durch „Ausprobieren“ beantwortet werden. Das heißt auch, das manch falscher Schritt korrigiert werden muss, manch sinnvoller Schritt ständig zu wiederholen ist und eventuell auch hier und da Anpassungen notwendig werden können.

Viel sinnvoller für das Erhalten von Gesundheit mit Yoga ist der Ansatz, bereit zu gesunden Zeiten mit den Yoga-Übungen zu beginnen. Zunächst einmal werden so bereits Impulse in eine gute Richtung gesetzt, bevor überhaupt Störungen auftreten. Und sollten dann wirklich mal Störungen auftreten, sind die Übungen, die zur Reparatur beitragen können, bereits eingeübt und als Muster verfügbar, nur ist dieses Muster jetzt förderlich und nicht mehr schädigend. Und dann gibt es einen sehr großen Vorteil gegenüber den oben genannten Reparaturen: Gesund Yoga zu üben macht Spaß und ist extrem entspannend. Und Yoga zu üben ist sparsam: Man braucht nur eine Matte und etwas Zeit.



Kommen wir jetzt zu einer Sichtweise, einer Weltsicht, die in der Lage ist, die nachfolgenden Sichtweisen zu vereinen und diese auch in der Gesamtsicht zu verstehen. Für einen Heilungs-Prozess ist dieses Verstehen elementar. Ich beschreibe hierfür zunächst einmal das abrahamitisch geprägte westliche Weltverständnis, das in meinen Augen das Verstehen von Yoga erschwert und das alle darauf gründenden Religionen umfasst: Christentum, Judentum, Islam. Auch unsere Wissenschaften sind leider diesem Denken verhaftet. Ähnlich, aber im Detail anders begründet und mit einer etwas anders laufenden Dialektik versehen sind die hinduistischen Anschauungen. Alle Genannten gründen auf Kausalität. Dieses Prinzip ist für die Wissenschaften und deren Entwicklung besonders wertvoll, zeigt aber auch massive Schwächen wie zum Beispiel bei Einsatz in hoch komplexen Systemen. Nun ist der Mensch und seine Art zu funktionieren, zu denken, das komplexeste System, das wir Menschen selbst kennen. Hier also kausal an die Problematik heran zu gehen, wäre also nicht ratsam. Der Taoismus, den ich bereits erwähnt habe, bietet für das Denken eine Alternative zur Kausalität. Wir beschreiben diese mit den Worten Wandlung, Dauer, Neigung und Prozess. Wenn ich also Kausalitäts-Denken für den Heilungs- oder Gesundheitsprozess eines Menschen nicht verwenden möchte, ich also nicht bevorzugt nach der Ursache, sondern der Möglichkeiten zur Heilung suche und fahnde, bieten sich diese Begriffe sehr schnell an. Es ist in diesem Denken gar nicht wichtig, aus welcher Ursache heraus etwas ist, wie es ist. Sondern wir befinden und immerzu in einem Prozess (des Lebens), und um zu einer Heilung zu kommen, müssen wir Krank-Machendes durch Heilsames ersetzen, müssen wir uns selbst wandeln, müssen dann dieses Heilsame mit Dauer (dauerhaft) einbringen und einüben und somit dem Prozess, in dem wir uns immerzu befinden, eine andere, bessere Neigung zu geben. Das bedeutet, das wir mit Yoga zum Beispiel, das, wie oben bereits gesehen, ein komplexes Übungssystem ist, breitgefächert Üben oder aber uns der langjährigen Erfahrung eines Lehrers bedienen, um in einer bestimmten Zeitspanne ganz gezielt an Motiven arbeiten. Trotzdem wird auch unter einem Lehrer später ein breitgefächertes Üben notwendig sein, um dem System gerecht zu werden.

Langer Rede, kurzer Sinn:
Wenn wir Yoga verstehen wollen und uns des Yoga zur Prävention oder Heilung bedienen, müssen wir unser Kausalitäts-Denken zur Seite legen und uns dauerhaft eines Prozess-Denkens bedienen. Der bei uns übliche „Mach-mich-wieder-Ganz-Gedanke“ ist hier vollkommen unsinnig. Unser Körper ist kein Besitz, kein Auto, keine Maschine, die repariert werden kann. Er ist Ich und Welt! Er ist genau gesagt eine Einheit aus Körper, Geist und Welt. Ich werde bei den Erklärungen zum Yoga immerzu mit der Problematik konfrontiert, die mit dem oben beschriebenen Anspruchs- und Kausalitätsdenken direkt zu tun haben. Diese verhindern oftmals die Wirkungen des Yoga-Systems durch eine falsche Herangehensweise. Meine vordringliche Aufgabe als Yoga-Lehrer ist daher, diese Gedankenwelt zu durchbrechen und auf andere Bahnen zu führen. Denn mit einem falschem Denken ist Yoga weder zu verstehen noch zu gebrauchen.




Padmasana und Meditation (Sitzen im Lotussitz)

Um Padmasana, das Sitzen im vollen Lotussitz, ranken sich viele Geschichten und Beschreibungen. Diese gehen von „für einen Europäer fast unmöglich“ bis zu „in wenigen Wochen erlernbar“. Viele Meditierende möchten gerne diese Sitzhaltung für ihr Zazen / Sitzen in Meditation nutzen, jedoch scheitern viele dabei, da sie entweder zu wenig über diese Asana wissen, diese mit unzureichenden Vorübungen oder gar mit Gewalt zu erreichen suchen und/oder einige Anpreisungen oder Beschreibungen nicht oder nur ungenügend verstehen. Ich habe mich daher entschlossen, ein wenig Licht ins Dunkel dieser Asana zu bringen.

Der komplette Artikel steht auf Parimoksa, meiner Seite für Themen der Meditation. Über “ mehr “ wird diese Seite geöffnet.

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Gelingende spirituelle Praxis – Unterricht vs. Übungsstunde

Wir erleben gerade jetzt in den Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und der Schließungen von Studios und Praxen, wie wichtig es ist, das spirituelle Praktiken wie Yoga und Meditation in ihren vielfältigen Formen nicht nur unter gruppendynamischen Voraussetzungen praktiziert werden können, sondern das jeder Einzelne in seiner ganzen Individualität in der Lage sein muss, für sich und zu Hause zu üben. Dazu wäre es notwendig, die Praxis der Spiritualität nicht nur als Übungsstunden in Studios anzubieten, sondern diese wunderbaren Erkenntnisse der Meister der Vergangenheit immer auch zu unterrichten und dafür Sorge zu tragen, das wirklich jeder zu jeder Zeit seinen spirituellen Sehnsüchten nachgehen kann. Vielleicht bestätigt die Pandemie-Zeit, die wir gerade erleben, diese meine Ansicht.



Unterrichten heißt konkret, nicht nur die oberflächliche Praxis weiterzugeben, also Übungsstunden anzubieten, sondern auch über Hintergründe, über Methoden, über Aufbau und Abfolgen und die Möglichkeiten, Informationen zu recherchieren und Erkenntnisse zu schöpfen gesprochen werden muss. Wie baut sich zum Beispiel eine Übungspraxis im Yoga auf, worauf ist bei Zusammenstellungen von Übungsreihen für die eigene Praxis zu Hause zu achten und wie kann ich mich selbst dazu motivieren, um, wie beim Beispiel Yoga, auf die Matte zu gehen, oder beim Beispiel Meditation sich aus sein Kissen zu setzen und zu üben. Und gerade diese Informationen müssen nicht nur in Lehrer(innen)-Ausbildungen, sondern auch und ganz besonders und von Anfang an in der ganzen Breite der Teilnehmer(innen) gestreut werden. Das erfordert Aufwand, Geduld und großen Einsatz in der Ausbildung von Lehrer(inne)n, erfordert Geduld und Einsatz im alltäglichen Unterricht von den Lehrer(inne)n und viel Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft einschließlich Geduld, besonders wegen häufiger Wiederholungen des Stoffes, bei den Übenden. Und vielleicht ist es eine Überlegung wert, sich einmal Gedanken zu machen über die Grundlagen, die wir mitbringen müssen, um überhaupt eine spirituelle Praxis beginnen zu können. In meiner Beobachtung sind viele seltsame Vorstellungen, Erwartungen und Einstellungen zu diesen Themen in der Breite der übenden Menschen zu verzeichnen, die sich, etwas kabarettistisch ausgedrückt, auch oftmals aus wissenschaftlicher Sichtweise in Phantasie- und Märchenwelten bewegen und die in ihren Aussagen durch nichts zu belegen sind. Das macht sie aber nicht deshalb allein schon falsch. Jede Ansicht, auch wenn sie den Wissenschaften, den Traditionen und den allgemein als anerkannt geltenden Möglichkeiten widersprechen, sind ernst zu nehmende Wirklichkeiten eines Menschen.



Weiterhin werden im Grunde in üblichen Übungsstunden nur die Vorzüge und ganz tollen Ziele und Möglichkeiten einer Praxis betont, selten aber wird vor den Gefahren und den unvermeidlichen Folgeerscheinungen gewarnt, die eine Praxis immer, und das nicht nur bei falscher körperlichen Anwendung, heraufbeschwören kann. Jede Körperarbeit birgt auch Gefahren, jede Vorstellungswelt beeinflusst das alltägliche Leben und jeder neu geweckte Wunsch nach Verbesserung, Bewusstseinsweitung, Optimierung oder Spezialisierung der persönlichen Möglichkeiten birgt Konsequenzen. Und jede Konsequenz verändert das alltägliche Leben.

  • Nahezu jeder Mensch unserer Gesellschaft lebt in einer Beziehungsstruktur, hat Freunde, Verwandte, Kollegen, Nachbarn und Tätigkeitskreise privater Natur, die stets ihre Sicherheit dadurch erhalten, ihre Mitglieder in gewohnter Weise zu erleben. Verändert sich Verhalten und/oder Ansichten eines Mitglieds, steht dessen Teilhabe an den gewohnten Strukturen in Frage. Besonders dann, wenn die spirituelle Praxis greift und mehr und mehr nicht nur als Ausgleichssport betrachtet wird, sind Auswirkungen auf das private Umfeld unabwendbar.
  • Körperliche Übung jeder Prägung verändern die Struktur und das Verhaltensmuster unserer Körper, verändern die Art und Weise des Fühlens und Erlebens. Außerdem verändern sie ebenfalls die Struktur unserer physischen Hülle. So wird beim Yoga die Muskulatur weicher, die Bewegungsmöglichkeiten weiten sich, oftmals auch ungewollt, und stellen damit ganz andere Anforderungen an die Belastungen des Lebens. Mit weicher Muskulatur und hoch-beweglichen Gelenken muss einfach anders umgegangen werden. Sie brauchen zur Sicherung der Stabilität andere Trainingsinhalte und hier und da natürlich auch Schutz vor übergroßer Belastung. Besonders die Saisonsportarten wie Skifahren sind hier ohne ausreichendes Vorbereitungstraining in der Ausübung problembehaftet.
  • Weiterhin seien hier Praktiken wie die Meditation oder das Pranayama angesprochen, die die Sensibilität und Wahrnehmung des Übenden deutlich erweitern können. Man muss dabei wissen, das dieses eben nicht nur in der Richtung „positiv“ stattfindet, sondern das dieses immer für das ganze Spektrum gilt. Auch als negativ geltende Wahrnehmungsmöglichkeiten werden erweitert und nicht jedem Menschen gefällt das auf Anhieb. Die beiden genannten Praktiken verändern aber nicht nur die Wahrnehmung des Übenden, sondern dieser wird in der Folge auch von seiner Umgebung anders wahrgenommen. Auch das muss man mögen und verarbeiten, und manchmal habe ich den Eindruck, das viele darauf einfach schlecht vorbereitet sind.

Es sei noch einmal angemerkt, das ich hier in diesem Artikel nicht von den Übenden spreche, die spirituell wirksame Übungen wie Yoga als Ausgleich für Berufsbelastungen, als Vorbeugung vor Krankheiten oder als Gesundheitspflege praktizieren. Ich spreche vielmehr von den Übenden, die gepackt werden von der Sehnsucht nach Veränderung des eigenen Seins, sei es die gefühlte eigene Rolle in der Gesellschaft, sei es die eigene Wahrnehmung oder auch die erlebte Wahrnehmung durch andere [1. Ich zum Beispiel war, solange ich zurückdenken kann, d.h. schon in der Familie, in der Schule, im Beruf und hier und da auch bei Freizeitaktivitäten, Mobbing-Aktivitäten anderer ausgesetzt und habe mich daher zu einem Einzelgänger entwickelt, was weitere Probleme mit sich brachte, da unsere Gesellschaft das Einsiedeln generell skeptisch betrachtet. Um zurückzufinden bzw. die größten Problemfelder meines Lebens zu begrenzen, habe ich mit Karate-Do, Yoga und wenig später mit einer Meditationspraxis begonnen. Heute bin ich zwar gefühlt immer noch Einsiedler, aber ich habe durch diese Praxen gelernt, mich relativ problemlos in sozialen Umfeldern zu bewegen, zumindest, ohne groß anzuecken oder aufzufallen.].

Woran arbeitet eine spirituelle Praxis eigentlich? Was sind dabei Zielvorstellungen und wie sind diese zu erreichen? Was an den Beschreibungen ist Mythos und was ist erreichbar? Und welche Voraussetzungen muss ich mitbringen, damit eine Praxis dieser Art gelingen kann? Das sind die Fragen und Felder, die einer Antwort bedürfen.



Was den Menschen auszeichnet und vor vielen anderen Lebensformen unterscheidet, ist seine Neigung, Beziehungen aufzubauen und so mit anderen zusammen zu arbeiten, das sich auch große Aufgaben bewältigen lassen. Wir haben heute in der Menschenwelt eine hoch differenzierte Arbeitsteilung, so das nahezu jeder hochspezialisierte Leistungen zu erbringen vermag. Diese werden dann allen anderen zur Verfügung gestellt, so das schlecht erfüllte Aufgaben wie die Herstellung von Waren oder die mangelhafte Bereitschaft zu Dienstleistungen nur selten in Erscheinung tritt. Wie jeder nachvollziehen kann, beschreibt dieses einen Idealzustand. Aber auf diese Weise hat der Mensch tatsächlich seine Vorherrschaft und seine Räume in der Welt geschaffen und diese gegenüber anderen Lebensformen dauerhaft verteidigt. Allerdings befeuern die Systeme und Einrichtungen, die dafür notwendigerweise geschaffen wurden, auch große Verwerfungen innerhalb der Menschenwelt. Genannt seien Armut und Reichtum, Macht, Ohnmacht und Krieg, Krankheit, Schwäche und Siechtum sowie die allgegenwärtige Angst, innerhalb der Menschenorganisationen durch den Rost zu fallen, sprich allein zu sein und keine Hilfe bzw. Teilhabe durch andere mehr zu erhalten. Was wir heute als vordringliche Beschränkung des Menschen in westlichen Gesellschaften erkennen können, ist, das Angst mehr und mehr einem Grundmotiv des Denkens wird. Die Angst vor den Paketen Krankheit, Armut, Ohnmacht und dem Alleinsein sind die Grundängste, die dann zu Gier, Hass und Verblendung [5. Wie das z.B. in der buddhistischen Terminologie genannt wird.] führen. Diese werden, um aktiv sein und wirken zu können, stets begleitet von einer gehörigen Portion Nichtwissen, den sich daran anschließenden Irrtümern und somit von einer falscher Selbsteinschätzung. Und genau hier setzt jede spirituelle Arbeit zunächst einmal an. Die richtige Einschätzung der Stärke seines Körpers, Erkenntnisse über dessen Funktion und Möglichkeiten sind ein Grundpfeiler jeder spirituellen Arbeit. Ein weiterer Grundpfeiler ist im Erkennen seines Nichtwissens angelegt, das in seiner Folge ja die vielen Irrtümer erst möglich macht und die dann zu zusätzlichen Problemen des Lebens führen. Jede spirituelle Arbeit beginnt daher damit, eine richtige Selbsteinschätzung zu generieren. Ein weiteres Feld sind Erkenntnisse über die vielfältigen Konzepte und Konventionen, die dem Einzelnen vorschreiben, wie und in welcher Form er zu leben habe und die häufig einer spirituellen Öffnung im Wege stehen. Aber auch jede spirituelle Tradition schreibt eine spezielle Form vor, in der das „richtige“ Denken sich einzufinden habe, um dabei sein zu können/dürfen. Das ist zeitweise notwendig und wichtig, darf aber nicht zu einem neuen Dogma gerinnen. Dann wäre es keine Öffnung mehr, sondern nur ein Wechsel in eine andere Anschauung. Und dann seien noch die vielen Gruppendynamiken erwähnt, die gerne dazu führen, das der Einzelne eben nur noch genau das macht und für möglich hält, was seine Freunde, Mitstreiter und was alle anderen, durch die Medien dargestellt, auch machen.

Eine Selbsteinschätzung und/oder eine eigenständige Entscheidung, die zu einem spirituell wirksamen Weg führt, kann aber nicht in Wort, Schrift, Bild oder Film weitergegeben werden. Man erkennt das daran, das viele Bücher von vielen Menschen gelesen werden, aber nur wenig des Inhalts jemals umgesetzt haben. Das ist in der Arbeit mit Büchern menschlich und durchaus normal. Ganz anders ist die Arbeit mit kompetenten Lehrern. Sie erfolgt hier fast ausschließlich aus der Zwiesprache zwischen Lehrer und Schüler und über den Umweg von „Erfahrungen machen können“. Der Lehrer hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen und Übungen zu schaffen, diese auszuwählen, diese so zusammenzustellen, das sie einem Schüler die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu machen, dieser also etwas bemerkt, erkennt, realisiert, was ihn direkt angeht. Aus dieses Erfahrungen heraus generieren Körper und Geist das Wissen, das dann zu einer anderen Selbsteinschätzung führt. Es sind also Erfahrungen, die das Rad der Veränderungen in Gang setzen. Und wer jemals einem Kind beim „Laufen lernen“ zugesehen hat, versteht, was ich hier auszudrücken versuche. Sind erste Erfahrungen eingetreten, wirken diese als Motiv für das Weitermachen. Das Rad dreht sich weiter und weiter. Neugierde, wie weit das noch gehen kann, sich das noch öffnen wird, kommt bald hinzu und lässt das Rad sich immer weiter und weiter drehen.

Dieses Rad setzt die spirituelle Entwicklung in Gang, körperlich, mental und geistig. Sie wird oftmals als Sehnsucht ausgedrückt, Sehnsucht nach einer Veränderung meines Seins, welche sich in Ruhe, Gewissheit, Mut und Gelassenheit ausdrückt und als innerer Frieden wahrgenommen werden kann. Die Angst weicht dann der mutigen Gelassenheit, der Aufschrei verhallt in der Stille, und vieles von dem, was ein Leben erstickt hat, weicht vor der Freude am Leben zurück, die im Raum von Stille und Gelassenheit langsam aber stetig sich immer weiter ausbreitet. Und plötzlich hat sich das Leben gewandelt, die frühere Selbsteinschätzung verliert ihre Wichtigkeit, denn allem voran bestimmt jetzt die Freude am eigenen Sein die Abläufe des Tages. Widerstände werden aufgeben, die Ansichten anderer sind und bleiben zwar wichtig, berühren aber mein Sein innerlich nur wenig. Ich stehe dann fest und sicher auf dem Boden des Lebens, spüre Freude und Stille in mir und bin begeistert angesichts der wiederentdeckten Buntheit der Welt. Ich habe mein Leben zurück gewonnen.



Kommen wir nach diesem kleinen Ausflug zurück zur Praxis. Wir müssen als erstes einmal uns über Motivation und die Hintergründe unseres spirituellen Übens klar werden. Dazu kommt dann die Selbsteinschätzung, von der ich oben bereits gesprochen habe, die uns bewusst sein muss, um überhaupt Veränderungen zu bewirken und diese dann auch erkennen zu können. Dann muss ich mir, um zu verstehen, Einblick und Zugang in die Systematik der begonnenen Übungen erarbeiten, um zu begreifen, was ich da eigentlich tue, weil nur Verstehen Wissen erzeugt und mir das ein gewisses Maß an Sicherheit bietet. Wenn ich dann alles zusammenstelle, ich also weiß, warum und weshalb ich übe, wenn ich weiß, wie mein Üben wirkt und was es zu erreichen im Stande ist, kann ich mich auch selbst motivieren zu üben und bin erstmals in der Lage, einerseits für mich eine Entscheidung zu treffen, darauf folgend mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und dieses vielleicht sogar zum Positiven zu wenden, sei es bezüglich Gesundheit, Mut, Gewissheit oder Sicherheit. Wie geschieht das alles in der alltäglichen Praxis? Wie bereits angeführt, brauche ich von Zeit zu Zeit einen kompetenten Lehrer(in) als Gesprächspartner [4. Das kann auch ein(e) Freund(in) sein, der neben mir seine spirituelle Praxis übt, die gleichen Stunden besucht oder unter der gleichen oder einer vergleichbaren Tradition für sich arbeitet.], mit dem ich Zwiesprache halten kann und mir so hilft, zu verstehen. Dazu bedarf es eben nicht nur der Übung, sondern des Unterrichts oder zumindest eines Blickes von außen. Dieses wird mich in die Lage versetzen, eigenständig und ohne Aufforderung von Seiten einer Autorität [2. Diese kann auch Krankheit sein, Überlastung oder Stress…, weil mich auch diese unter Druck setzen können.] meine Übungen durchzuziehen. Ich empfehle dazu in etwa die nachfolgende Konfiguration. Wichtig ist es, täglich zu üben. Dazu genügt eine sinnvolle und meinen jeweiligen Anforderungen genügende Kurzübungspraxis von 10 bis 30 Minuten bei Körperübungen und/oder zwei Standardrunden [3. Standardrunden in der Meditation sind so viele Minuten lang, wie ich dies mir vorgenommen habe oder wie es mein Lehrer(in) mir empfiehlt. Das können 5 Minuten sein, aber auch die klassischen 25 oder sogar länger…] in der Meditation. Dann sollte ich mindestens einmal pro Woche bei den Körperübungen eine allgemeine Praxis durchführen, die alle Körperpartien arbeiten lässt und im Falle von Yoga mindestens 90 Minuten andauert. Entsprechend wären in der Meditation dann dreimal zwei Runden zu meistern. Und dann ist es notwendig , innerhalb von zwei bis vier Wochen einmal mit einem Lehrer(in) oder einem Freund zusammen zu arbeiten. [3. Das kann in Zeiten von Pandemien auch über Telefon, Skype oder Zoom erfolgen, wenn ein direktes Zusammentreffen nicht möglich ist.] Mit diesem(r) sollte ich meine Fragen besprechen, mir die Richtigkeit und Wirksamkeit meiner Praxis bestätigen lassen und er/sie gibt mir Ratschläge und Anregungen für mein weiteres Vorgehen. Und natürlich erhöht diese Bestätigung meine Motivation, auch in Zukunft weiter zu machen.

Sollten Sie also die Sehnsucht verspüren, ihre spirituelle Praxis auch in der Zeit einer Pandemie weiterzuführen, empfehle ich die oben beschriebene Vorgehensweise. Machen Sie eine kurze tägliche Praxis, nehmen Sie sich einmal in der Woche die Zeit, grundlegend zu üben und halten Sie den regelmäßigen Kontakt zu einem/ihrem Lehrer(in) aufrecht oder versuchen Sie, einen solchen aufzubauen. Stellen Sie sich und anderen Fragen, lesen sie nach, recherchieren Sie und versuchen Sie zu verstehen, was Sie da und wofür Sie das eigentlich tun wollen. Ihre Sehnsucht [4. Sehnsucht: inniges, schmerzliches Verlangen…] hat einen Grund. Sie bezeichnet eine Lücke, einen Mangel oder oft sogar eine Möglichkeit, die sich gerade offenbart und die Sie wahrnehmen sollten. Der Sehnsucht zu folgen und damit auf einem ihrem Inneren entsprechenden Weg zu sein macht Sie glücklich und zufrieden. Nutzen Sie die Chance, die sich gerade jetzt bietet, wo mögliche gesellschaftliche Ablenkungen auf ein Minimum geschrumpft sind!




Spirituelle Suche und Weisheit

Bei der spirituellen
Suche sprechen wir gerne, ausgelöst durch eine große wahrgenommene
Sehnsucht, von der Suche nach Einheit, Befreiung, Erlösung,
Erleuchtung, um durch deren Verwirklichung ins Wahre, Schöne, Gute
oder auch nur in eine friedvolle Stimmung und Lebensführung zu
kommen, die die Angst vor dem Tod oder dem Vergehen endgültig zu
besiegen und so der Welt, dem Lebendigen und uns selbst das wie immer
gestaltete Paradies zurückzuerobern verspricht. Das ist die Vision
nahezu aller Befreiungs-Theorien, die die Welt und deren umfangreiche
Literatur zu bieten hat. Ich möchte nachfolgend einmal versuchen,
etwas Struktur in diese Formen zu bringen und werde mich dann trauen,
einige Begriffe und Annahmen kritisch zu hinterfragen.



Zunächst bedeutet
spirituell zunächst einmal „Geistigkeit“, also eine
Lebenshaltung, die der geistigen und fein-stofflichen den Vorzug vor
der materiellen Welt einräumt. Diese Ausrichtung erfolgt in dem
festen Glauben, eine Sehnsucht zu verspüren, die nach dieser als
Priorität angesehenen Fähigkeit Ausschau halten lässt. Nun ist
eine Sehnsucht in normalen Fällen ein Gefühl, das uns uns nach
einem bekannten und als wohlfühlend erkannten Umfeld zurücksehnen
lässt, also einer Umgebung oder Ausrichtung, die uns gewohnt war und
die wir verloren haben. Die Sehnsucht nach dem Zuhause oder auch
einer bestimmten Menschengruppe, nach bestimmten Orten oder
klimatischen Verhältnissen, nach bestimmten Essen oder einer
Tätigkeit ist nahezu jedem hinlänglich bekannt und auch
verständlich. Die Sehnsucht nach Befreiung allerdings würde, im
selben sprachlichen Kontext gebraucht, bedeuten, das wir einmal frei
waren, diese Freiheit verloren haben und uns dahin zurücksehnen. Ein
verständliches Gefühl. Wie aber würde es sein, wenn wir vollkommen
sicher sein müssten, das wir die so ersehnte Freiheit noch niemals
haben genießen können, zumindest nicht in diesem unserem Leben seit
unserer Geburt?

Das würde bedeuten,
das wir diese Sehnsucht nicht aus uns heraus, also aufgrund einer
eigenen erlebten Erfahrung, sondern auch einem anderen Grunde in uns
aufleuchten sehend erkennen müssten. Diese anderen Gründe könnte
die Geschichten sein, die uns Religionen, deren Bräuche und
Überlieferungen, also Erzählungen vermitteln. Das Paradies zum
Beispiel ist so eine Geschichte, die uns den Verlust der perfekten
Welt vermittelt und uns anhält, ja nur alles so zu tun, wie es
verlangt wird, um den Einzug in diese schöne Welt nicht zu verpassen
oder zu verspielen. Andere Geschichten erzählen von einem Raum des
endlosen Lebens, in dem es weder Not noch Angst gibt und in der alle
Wesen in Glückseligkeit verharren. Das Nirvana des Hinduismus ist so
ein Raum, der über die Realisierung von Atman/Brahman gewonnen und
die leidensreichen Wiedergeburten ein für allemal beenden würde.
Andere Wege der Sehnsucht-weckenden Geschichten sprechen davon, das
es Mittel und Wege gibt, uns vom Leiden in der Welt zu befreien und
was uns ermöglicht, ein glückliches und einfachen eben zu führen
im Einklang mit der Natur und seinen Schönheiten. Viele sogenannte
Aussteiger und sogar eine ganze Generation der westlich-zivilisierten
Welt in den 70er Jahren sind diesen Rufen gefolgt. Diese Geschichten
sind bekannt, verbreitet und heute jedem zugänglich. Die moderne
Geisteswissenschaft nennt sie Narrative, Kultur-begründende
Erzählungen, die unser Denken und Streben zu begründen vermögen.
Was wäre also, wenn sich die wahrgenommene spirituelle Sehnsucht auf
diesen Narrativen begründen würde? Würden wir einen oder den
wichtigen Unterschied bemerken?



Gehen wir in der
Eingangsbeschreibung einen Schritt weiter und beschäftigen wir uns
mit den Zielen, denen unser Aufbruch zugrunde liegen könnte. Ich
meine die Suche nach Einheit, Befreiung, Erlösung, Erleuchtung, oder
um eine Verwirklichung ins Wahre, Schöne, Gute oder auch nur in eine
friedvolle Stimmung und Lebensführung. Wie kann ich mir das
vorstellen? In den meisten Theorien um Befreiung überhaupt geht es
doch um die Erringung einer Haltung, die als Einheit, Das Eine, Das
All-Eine oder Gott, Atman, oder Monade beschrieben wird. Auch die
altbekannte Seele, die es stets und immerzu zu retten gilt in
christlichen Religionen, gehört hier in die Sammlung hinein. Keines
dieser Begriffe, alle als Substantiv angelegt, liegt in irgend einer
Form eine materiell oder wissenschaftlich zu begründende Substanz
zugrunde. Substantive beschreiben Lebewesen, Gegenstände und
Begriffe, so will es deren Definition. Begriffe wiederum beruhen auf
hierarchischen Systemen, die sich aus Einzelbegriffen zusammensetzen
und so komplizierte Vorgänge in einem Wort zu beschreiben vermögen.
Ein schönes Beispiel hierfür ist Kants „Kategorischer Imperativ“,
dessen Verständnis-Voraussetzungen ganze Bücher zu füllen vermag.
Auch die Eingangs genannten Begriffe Einheit, Atman und so fort sind
solche Begriffsbündel, die so leicht und einfach nicht zu verstehen
sind. Erschwerend kommt hinzu, das verschiedene spirituelle
Traditionen in Bezug auf den Inhalt dieser Begriffe sehr
unterschiedliche Bündel benützen und diese als Begriff dann auch
anders definiert sehen wollen. Die Befreiungen des Hinduismus, des
Buddhismus und des Christentums haben, hört man in deren Erzählungen
genau hinein, nicht viel miteinander gemein. Was allerdings wäre mit
all diesen Begriffen, die ja auch alle auf eine absolute Einheit
zielen, wenn Platon recht hätte und seine Behauptung sich als
richtig erweisen würde, das der Mensch als Wesen und mithilfe der
Sprache, die er pflegt, Einheit gar nicht denken kann. Was wäre
also, wenn es Einheit zwar gäbe, aber der Mensch sie nicht erfassen
könnte? Würde er sie trotzdem weiter anstreben wollen, anstreben
können?

Wer sich dann etwa
intensiver mit dem Thema beschäftigt, findet heraus, das sich sei
nahezu 2500 Jahren unzählige Menschen mit diesem Problem beschäftigt
haben und daraus eine unendlich Vielfalt an Zugängen geschaffen
wurde, mit denen das Undenkbare denkbar gemacht werden kann, soll
oder sollte. Jeder Religionsgründer, jeder Philosoph, jeder Weise,
sie alle sind sogar in verschiedenen Weltgegenden und Kulturgebäuden
zu Hause, beschreibt im Grunde seinen Zugang zu dieser
Problemstellung. Es gibt Streit darüber, Disput genannt, es gibt
verschiedenen Grundstrukturen, in denen diese Abhandlungen
beschritten werden und fast ein jeder glaubte sich selbst mit seinen
Ausführungen im Zenit des Universums angesiedelt zu haben.
Grundsätzlich aber gibt es zwei große Strömungen, zwei Wege der
Lösung. Die eine und am weitesten verbreitete Lösung erkennt einen
Bereich des Begrifflichen als gegeben an, den der Mensch weder
begreifen, denken noch erkennen kann, der damit transzendental ist
und als gegeben, gesetzt verstanden werden muss. Transzendentalien
sind Begriffe wie Gott, das Wahre, das Schöne, das Gute, die
Vernunft, die Idee usw, die allem Seienden als Modus zukommen. Sie
sind nicht jenseits des Begriffes, sondern sozusagen als Grundlage,
Font im Begriff als Voraussetzung enthalten.

Die zweite Grundlage
baut auf der Begrifflichkeit der Immanenz auf. Diese bezieht sich
nicht auf Begriffe, sondern auf den Gegenstand, den der Begriff
beschreibt und weist diesem eine innewohnende Eigenschaft zu, die
weder durch Folgerung noch durch Interpretation abgeleitet oder
begründet werden kann. Spinoza zum Beispiel beschreibt Gott als die
eine Ursache aller Wirkungen, die allerdings auch andere Ursachen
zwangsläufig mit einschließt. Immanenz bedeutet immer einen
Einschluss aller Gegenstände und Bedingungen, die Leben und Welt
hervorbringen. Eines der schönsten und weitreichendsten Beispiele
für Immanenz-Denken und dies bezüglich allen Seins zeigt sich im
Taoismus, in dem das „Tao des Himmels“ die rechte Beschreibung
des Wegs benennt, der zum Heil und zum Gelingen führt. Immanenz wird
allerdings in der heute federführenden westlich-orientierten
Philosophie immer nur als Unterkategorie gesehen, wird mit
Naturalismus oder als Einschluss ins Absolute angesehen,
gleichgesetzt und wie eine Vorbedingung behandelt, die dann doch
letztlich ins Gegenteil, also ins Transzendente hinüber führt.
Schelling ist hierfür ein leuchtendes Beispiel.



Alle bisher
genannten spirituellen Begriffe und Erscheinungen beruhen letztlich
auf der Suche nach dem Einen, das alles andere einschließt und somit
dem Fragen ein Ende bereitet in der Hoffnung, damit das Leiden zu
beenden und in Glück und Frieden leben zu können. Was aber, wenn
wir damit einer Täuschung aufgesessen sind und einsehen müssten,
das diese ganzen dialektischen Gebäude sich schon mit einer einzigen
Frage zum Einsturz bringen ließen? Wenn wir das Gute, das Glück und
den Frieden, die Freiheit und die Erlösung anstreben und dieses
alles auch erreichen, wo blieben das Schlechte, das Unglück und der
Unfrieden, die doch mit ihrem Gegenteil auch in die Welt gesetzt
wurden und die es es nun zurückzulassen gilt? Was ist dann mit
denen? Verschwinden die einfach? Wenn sie verschwinden, gibt es
Glück, Frieden und das Gute dann überhaupt noch und was haben wir
dann letztlich erreicht? Der Positivist würde es wahrscheinlich
Glückseligkeit nennen, der Pessimist würde wohl Langeweile dazu
sagen, und was sagt der Weise dazu? Würde der Weise nicht sagen, das
sowohl ein Nachdenken als auch ein Ignorieren dieser Fragen nicht zu
einem Ergebnis kommen kann? Der Weise sagt dazu, das Suchen nicht zum
Finden führt, und meint damit, das die ganze Mühe niemals zum Ziel
führen kann, weil… Und auch hier gibt es wieder viele
Begründungen, aber diese gelten entweder nur für jetzt oder nur für
dich oder beides oder keines von beiden. Was aber meint der Weise
aber damit?

Weisheit ganz
allgemein gesagt, das sich der Mensch am Lauf der Welt, die sich in
Immanenz (Tao, Gott) äußert, orientieren müsse. Da alles
„von-selbst-so-ist, wie es ist“ ist, alles ständig im Wandel
gegriffen ist, sind Natürlichkeit, Spontanität und
Wandlungsbereitschaft die Grundlage für rechtes Handeln und Denken.
In dem wir Harmonie bevorzugen und zurücktreten, bescheiden sind und
ohne ein Ziel zu verfolgen unser Leben leben, kommt alles zu einem
guten Ende. Für den Taoismus, der diese Grundsätze pflegt, gibt es
die Unterscheidungen und Begriffspaare wie Gut und Schlecht, Glück
und Unglück, Frieden und Unfrieden nicht, sondern diese treten im
beständigen Wandel stets gemeinsam auf, werden in der Schrift auch
oftmals zusammen in einem Zeichen verbunden und es gilt, diese
Gegensätze zu überwinden, oder anders gesagt nicht in diesen
Gegensätzen zu denken. Und der Weise begründet das damit, das diese
Paare zwar zunächst kurzfristig zwecks Unterscheidung als hilfreich
ansehen werden können, aber durch den Wandel keinem Wesen oder Ding
dauerhaft zugeschrieben werden können. Damit wird eine Zuweisung
grundsätzlich verhindert. Nichts ist daher von Dauer und so wird
auch nichts als grundlegend betrachtet. Es kann auf diesem Grund
keine Lehre aufgebaut und gesichert werden. Was bedeutet diese
Sichtweise aber für ein Leben in einem westlichen Industriestaat, in
Arbeitsteilung, Sozialverbund und einem kapitalistisch organisierten
Wirtschaftssystem? Das ist eine sehr berechtigte Frage, und darauf
gibt es bis heute wenige Antworten.

Zunächst einmal ist
zu entscheiden, was wir definitiv erfahren haben und somit als Wissen
aus eigenem Erleben zur Verfügung haben und Wissen, das wir nur
gehört und erlesen oder uns nur vermittelt wurde. So ist zum
Beispiel das Gros des Erlebens der Kindheit in der Regel erzähltes
Wissen. Meine erste klare Erinnerung verweist auf das vierte
Lebensjahr und besteht nur aus ein paar Bildern, die als Video nur
Sekunden lang wäre. Die nächsten Erinnerungen verweisen bereits auf
den Schulhof der Grundschule, weitere Erinnerungen gehen meist auf
sehr einschneidende Erlebnisse (Beerdigung, Streit, Strafe) zurück.
Der ganze Rest ist eher dunkel, unscharf und kaum zu einer Geschichte
zusammensetzbar. Mit anderen Worten ausgedrückt ist meine
Kindheitserinnerung entweder mir erzählt worden oder besteht aus
sehr dezenten Fragmenten. Mit dieser Erkenntnis im Gepäck kann ich
aus heutiger Sicht eigentlich nur sagen, das ich irgendwann mit 12
oder 13 Jahren wie aus einem Traum aufgewacht bin. Im Grunde war zu
diesem Zeitpunkt bereits alles fertig, der Status in der Familie, die
Ausbildungsrichtung und auch die Freundes- und Bekanntenkreise sowie
das Gros der Interessen. Selbst die Schule samt meiner Leistungen
darin entzog sich demnach so vollkommen meiner Einwirkung. Ich wurde
in ein Leben geworfen, das seine Bestimmung bereits erhalten hatte.
Die erste wirkliche Freie Gestaltung meinerseits bestand aus der Wahl
meines Ausbildungsplatzes, der gegen den Willen meiner Eltern
erfolgte und daher meine erste freie Entscheidung darstellte. Nur,
die Wahl dazu bestand nicht etwa aus der unendlich großen Zahl an
Berufen, sie bestand im meinem Fall aus genau zwei Alternativen, es
ging also nur noch um ein so oder so. Weder die eine noch die andere
konnte ich damals in voller Klarheit sehen. Ich entschied faktisch
nur nach dem Kriterium, was ich nicht wollte.



Exkurs:

Grundsätzlich gibt es für jede Form des Lebens Phasen, die
allgemein als gültig angesehen werden können. Die Phase der
Kindheit und der frühen Jugend erfolgt in Abhängigkeit von den
Erwachsenen (Phase 1), die die Betreuung von jungen Menschen
übernommen haben. Dann erfolgt in noch sehr jungen Jahren die Phase
der Abnabelung von den ersten Göttern, die praktisch die Eltern
darstellen und Pubertät (Phase 2) genannt wird. Mit etwas Glück
trifft man, wie oben beschrieben, hier erstmals eine eigene
Entscheidung. Dann geht die Ausbildung in die zweite Phase, Beruf,
Passion, Orientierung genannt (Phase 3), in der Regel kombiniert mit
der beginnenden Aufgabe als Eltern, dann erfolgt eine
Stagnationsphase in einer beruflichen Routine, begleitet von der
Abnabelung der eigenen Kinder (Phase 4), dann kommt der Eintritt in
den Ruhestand (Phase 5), der dann von Stagnation begleitet (Phase 6)
mit dem Tod endet, entweder mit Krankheit und Pflege begleitet,
unterschiedlich lang oder auch kurz und überraschend. Was wir aber
immer sehen können, meiner Meinung auch müssen, ist die Tatsache,
das sich hier im Leben eines Menschen nur ein einziger
Abnabelungsprozess ausgebildet hat. Zumindest wird in unserer Kultur
und Wissenschaft in der allgemeinen Anschauung und kulturellen
Beschreibung nur ein einziger dieser Prozesse beschrieben und
behandelt, und das ist die Pubertät. Das ist meiner Ansicht nach
falsch. Warum sehe ich das so? Ab Phase drei gibt es in unserer
westlichen Kultur keine wirklich Wahl mehr. Es muss ja ein Einkommen
aufrecht erhalten werden. Jeder Bissen und jeder Schluck kostet. Der
erlernte Beruf, die gegründete Familie erlaubt maximal noch eine
berufliche Fortbildung, die zwar mehr Geld bringt, aber dafür über
Jahre hinweg die komplette freie Zeit bindet. Bleibt man einfach im
Beruf, erfolgen automatisch Stagnationsphasen. Nur wenige Berufe
erfordern lebenslanges Lernen, und so wird die Routine Tagesgeschäft.
Das nervt, erst sich selbst, dann die Umgebung, und führt nicht
gerade zu einer ausgeglichenen Stimmungsstabilität. Viele Ehen gehen
in dieser Zeit einfach zugrunde. Dann wird das Rentenalter erreicht.
Die Kinder sind selbstständig, die Routine erlischt und plötzlich
steht die große Freiheit vor der Türe. Ein leistungsloses
Einkommen, viel freie Zeit und 52 Wochen Urlaub. Nicht jeder
verkraftet das. Wohl dem, der jetzt über ein Hobby, einen
Bekanntenkreis in der gleichen Altersgruppe und/oder eine Passion
verfügt, die ein sinnvolles sich beschäftigen erlaubt. Vorbereiten
konnten sich nur wenige auf all diese Brüche. Die meisten Wendungen
und Wandlungen kommen unverhofft und ungeplant. Muss das aber so
sein?

Was ist daraus
abzulesen? Warum schreibe ich das auf? Und natürlich habe ich mich
gefragt, wie viel davon ist autobiographisch. Und auch die Frage habe
ich gestellt, ob man dieses alles als eine allgemein gültigen Ablauf
bezeichnen kann. Was mir persönlich immer mehr auffällt und zur
Klarheit kommt, ist die Tatsache, das wir in unserer zivilisierten
Welt zwar immer mehr Wahrheiten erkennen und Erscheinungen aufdecken,
das daraus aber nahezu immer keinerlei Reaktionen erfolgen.
Anscheinend, zumindest ist dies ein erster Erklärungsansatz, erkennt
die große Mehrheit der Menschen zwar die Aussagen im Einzelnen, aber
verfügt nicht mehr über die Fähigkeit, diese einzelnen
Erkenntnisse zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Ich für meinen Teil
habe mir einige Traditionen spirituellen Arbeitens angesehen, und
obwohl ich mich letztlich für zwei dieser Übungsweisen entschieden
habe, halte ich alle anderen Möglichkeiten nicht für falsch oder
unbrauchbar. Und um in Zen-Sprech diese Erkenntnis auszudrücken, all
diese oftmals auch seltsam anmutenden Wege führen zu ein und
demselben Ziel. Sie sind nur unterschiedliche Pfade im gleichen
Gelände, denn: Der Weg liegt vor unseren Füßen, ist unendlich
breit und ist so offensichtlich, dass er wie der Wald vor lauter
Bäumen nicht wahrgenommen wird. Das Problem dabei ist, das ein
Abstand zwar hilfreich wäre, um wahrnehmen zu können, aber nicht
möglich erscheint. Denn von Allem als Einem kann es keinen Abstand
geben. Es müsste also mindestens zwei geben, um eines davon
wahrnehmen zu können. Und aus Zweien entsteht dann ein Drittes und
daraus, wie es im Zen heißt, die Welt. Aber die Welt ist trotzdem
nur Eines, und dieses Wissen im Hintergrund zu halten und doch in
Teilungen zu denken ist das große Problem der spirituellen Suche
überhaupt.



Nun sind
Transzendenz und Immanenz ja Gegensätze, die beide bis zum Einen hin
gedacht, aber nicht denkend realisiert werden können. Daher
versuchen beide Richtungen, das Denken auf die eine oder andere Art
auszugrenzen, auszuschließen. Aber im Einen geht ausschließen ja
eigentlich ebenfalls nicht. Daher versucht der Weise auch nicht, das
Denken auszuschließen, sondern zu vereinen. Und die Mittel zu diesem
zunächst als unmöglich zu bezeichneten Sehen ist der Versuch, das
Denken in Gegensätzen und Wertungen, die ja ebenfalls immer etwas
ausschließen, zu meiden, soweit das eben möglich ist. Dies gelingt
in der Annahmen der Wandlung, die immanent gedacht, sowohl das eine
wie das andere als vorhanden betrachtet, aber durch den Abstand der
Wandlung jeweils immer nur eines von beiden zur Existenz kommen
lässt, das andere aber denkend als immanent mit einbezieht. So kann
eine Aussage heute richtig, aber morgen bereits falsch sein, kann ein
Rat für den einen richtig, für einen anderen aber falsch sein. Da
nichts von Bestand angenommen wird, ist nichts als Gesetz, Regel oder
Sein festgelegt. Alles besteht in Abhängigkeit zu anderen. Daher
kann es für Weisheit auch keine Regeln, keine Festlegungen, keine
Grundsätzlichkeit geben. Alles steht zu etwas in Abhängigkeit, um
existent zu sein. Die Fachwelt nennt das relativierend denken. Es
gibt nur endlose Relationen, keine feste Substanz. Daher auch die
Aussage, das im Grunde genommen alles leer ist, da nichts, was
existiert, ewig andauern kann. Alles ist im Fluss, oder besser gesagt
im Wandel. Niemand kann sagen, wann dieser Wandel einsetzt und wie
lange er andauert. Und da nichts ewig ist, was vergehen kann, kann
das alles auch leer genannt werden. Und so ist auch der Satz zu
verstehen, das „nur die Leere existiert“, denn ewig ist nur das,
was nicht vergehen kann. „Sein an sich“, das ist die Lehre der
Weisheit, gibt es nicht und kann es sogar gar nicht geben. Kein Gott,
kein Selbst, kein Atman und keine Monade wird ewig andauern, kein
Verstand, keine Vernunft und kein Sein kann als ewig gültig
angenommen werden. Sein kann nur etwas in Bezug zu anderen. Dazu aber
kann es nicht auf Das Eine reduziert werden. Es kann nur in Relation
gedacht werden.

Wenn wir uns in
Spiritualität bewegen, muss und sollte uns dieser Konflikt in jedem
Fall klar vor Augen stehen. Das Eine ist und bleibt im Hintergrund,
immer, ist nicht fassbar und nicht vermittelbar. Und ab zwei erst ist
Dialektik, also Denken überhaupt möglich. Wir können uns daher der
Wirklichkeit, der Wahrheit denkend nur annähern, aber das Ziel nie
erreichen. Und nur, wer bereit ist, das auch zu verstehen, kann weise
genannt werden. Die spirituelle Suche bleibt daher immer ohne Ziel.
Es ist der Weg, um den es geht, es ist das Fortschreiten auf einem
Weg (…der kein Ziel haben kann, weil ein Ziel den Weg am Ende
verlöschen ließe…), auf dem spirituelle Suche stattfindet.




Es sind Interpretationen, die den Fluss zum Stehen bringen…

Im spirituellen
Umfeld sind Sätze, die mit „Ich“ anfangen, oft verpönt. Und
meist wird dieses „Ich“ dann nicht als Subjekt, sondern als
Objekt betrachtet, wie zum Beispiel im Zen in der Frage: „Was bin
ich?“ Was aber bedeutet das? Für mich ist das eine der
schwierigsten Fragen, die ich kenne.



In unserer Sprache
ist die Trennung von Subjekt (Ich sehe/denke/bin…) und Objekt (das
Gesehene/Gedachte/Seiende…) selbstverständlich. Daher beginnen
viele Sätze mit „Ich…“ und deuten von da auf ein
Objekt. Subjekt und Objekt bewohnen so verwendet nicht die gleiche
Welt. Für das Subjekt ist alles, was nicht-Subjekt ist, Welt. Es
gibt daher immer ein „Ich“ und eine „Welt“. Bin ich aber
nicht auch in der Welt, bin ich nicht sogar ein Teil der Welt, gehört
also „Ich“ nicht zur Welt und die Welt nicht ebenso zum „Ich“?
Immanenz nennt die Wissenschaft dieses Phänomen, das wir aber aus
meist praktischen Gründen in unserer Sprache stets missachten. Man
nennt das Dualismus. Und Dualismus ist eine Setzung, die uns das
logische Denken, dem wir folgen (wollen), auferlegt. Geht das nur so?
Diese Frage beschäftigt mich seit langem.

Nach unserer Logik
ist Sein ein absoluter Begriff. Und Aristoteles hat
festgelegt, das „zu sein“ nicht gleichzeitig „nicht zu sein“
bedeuten kann. Nehmen wir den Menschen als Ding, so ist er jetzt im
Augenblick ganz sicher im Sein. In 200 Jahren allerdings wird er das
wohl nicht mehr sein können. Der Zustand des „nicht-Seins“ wird
also mit großer Sicherheit entstehen. Wie geht das aber dann, vom
„Sein“ ins „Nicht-Sein“ hinüberzuwechseln, wenn das nach
unserer Logik gar nicht langsam und kontinuierlich geschehen kann,
denn für einen Übergang müsste „Sein“ dann das „nicht-Sein“
ja bereits enthalten, um hinüber wechseln zu können. Nach
Aristoteles und auch nach heutiger Auffassung geht das nicht, ist das
unlogisch. Nun sind solche Fragen philosophischer Natur und für
Otto-Normal keine ernsthaft zu betreibenden Problemfälle. Wir
sterben einfach, basta. So ist das eben! Das „Warum sterben wir?“
und auch die Frage nach dem „Danach“ sind nicht so wichtig.
Trotzdem, diese Frage liegt oft und ganz besonders in der Aktualität
wie ein Stein im Rucksack der Seele, bringt die Unsicherheit und
Ungewissheit doch die alltägliche Angst hervor, die allgemein üblich
in unserem Kulturkreis mit dem Tod verbunden wird. „Sein“ kann
nicht als absolut gesetzt werden. Trotzdem verwenden wir es genau so,
warum? Was fehlt? Müsste zwischen „Sein“ und „nicht-Sein“
nicht ein Übergang gesetzt werden, der so etwas wie Dauer besitzt?
Lässt das unsere Sprache überhaupt zu?



Eine Lösung des
Problems mit dem „Sein“ ist die Setzung einer „Seele“.
Diese ist unsterblich, ewig, wird uns ins Paradies nach guten Taten
oder in die Hölle nach schlechten Taten eintreten lassen oder
irgendwie wiedergeboren werden, um sich erneut zu bewähren. Wenn ich
einem Menschen die Seele abspreche oder behaupte, diese sei verloren,
werde ich große Reaktionen heraufbeschwören. Die Seele, auch gerne
Monade oder Atman genannt, obwohl weder jemals erkannt, gesehen noch
gewogen ist ein heiliges Gut. Sie erlöst vor der Angst. Aber sie
verhindert auch das Leben. 2000 Jahre christliche Geschichte [1.
Empfehlung: Schatten über Europa, Rolf Bergmeier, ISBN
978-3-86569-075-3] zeigen mehr als deutlich auf, wie groß die Angst
vor dem Seelenverlust sein kann und welche fatalen Wirkungen diese
neue Angst zeugt. Diese sind in weiten Teilen der Welt auch heute
noch oft größer als die Angst vor dem Tod. Haben wir mit der der
Setzung der Seele also nur eine Angst gegen eine andere eingetauscht?
War die Setzung der Seele nur ein cleveres Machtinstrument, das
Wenigen die Macht über viele gab? Diese Frage möge jeder selbst für
sich beantworten.

Was mich weiterhin
beschäftigt, sind Worte wie Selbst, Geist, Schöpfung usw. Nun hören
wir sehr oft in spirituellen Kreisen, das der/die Eine oder Andere
auf der Suche nach dem wahren Selbst sich befindet. Das zur
Zeit als aktiv empfundene Selbst wird folglich als unwahr aufgefasst,
das wahre Selbst aber ist im unwahren Selbst verborgen und wird durch
die Ausübung von Techniken aufgedeckt. Das „wahre Selbst“ also
steckt direkt im oder hinter dem „unwahren Selbst“. Was geschieht
dann mit dem unwahren Selbst, wenn das wahre Selbst erscheint? Stirbt
es? Wie dem auch sei. Wahr und Unwahr sind also bis zur Läuterung
gemeinsam in einem Ding zu Hause. Nach Aristoteles ist das aber
trotzdem nicht möglich. Sein und nicht-Sein, wahr und unwahr? Wo ist
da der Unterschied? Wer hat sein wahres Selbst schon jemals gesehen?
Wer hat sein Selbst, ob unwahr oder wahr, schon jemals gesehen? Was
machen diese Setzungen aus? Sie sind reine Spekulation. Warum
verwenden wir sie dann aber dauernd?

Eine weitere
wunderbare Bedeutung hat das Wort Geist. Es bezeichnet das
mentale Konstrukt, das wir wie oben schon gesehen „Ich“ nennen
und in eins gesetzt ist mit dem ebenfalls schon erwähnten Selbst.
Eine besondere Rolle spielt das neben Geist verwendete Wort GEIST,
das den Individuellen Geist weit überflügelt und ihn in eine
kosmische Umgebung setzt und damit das ausdrückt, was die Summe
aller geistigen Aktivitäten von Leben darstellt, auch gerne als
Speicherbewusstsein [2. Alaya vijnana] und Schatz des Lebens
bezeichnet. In vielen spirituellen Traditionen ist daher als
Übungsweg angelegt, von Geist zu GEIST zu gelangen, teilweise als
Transzendenz [3. Gott, etwas außerhalb der Welt stehendes, der
Grund, das der sinnlichen Wahrnehmung verschlossene.] oder auch in
dessen Gegenteil, als Immanenz [4. Das in allen Dingen enthaltene.]
bezeichnet. Mentale Zustände, in denen diese Barrieren überwunden
sind heißen dann Meditation oder Versenkung, Trance oder Hypnose.
Allerdings beschreiben trotzdem viele Lehren von
Bewusstseinstechniken diese Zustände als unvollkommen, ja sogar
gefährlich und es wird davor gewarnt, sie dauerhaft zu erreichen und
sozusagen in ihnen steckenzubleiben. Sie zeigen wie im Buddhismus
beschrieben nur an, welchen Fortschritt die Übenden gemacht haben
und diese werden immer wieder aufgefordert, auch diese Ergebnisse zu
überwinden. Darüber hinaus fortschreitende Zustände heißen dann
lichte Weite oder kosmisches Bewusstsein. Ich selbst kann dazu nichts
sagen, denn diese beiden sind mir weder zugänglich noch bekannt.



In unseren Sprachen
sprechen wir gerne, wenn wir die Welt und ihr Dasein positiv
überhöhen, von Schöpfung, was nichts anderes bezeichnet als
entweder von Gott gemacht oder aus sich selbst entstanden, je nachdem
welche Religion oder Weltanschauung der These zugrunde liegt. Im
Gegensatz zur Schöpfung ist die Welt meist schlecht und
unvollkommen, entweder durch den Menschen selbst gemacht [5.
Sündenfall im Christentum] oder durch den Einfluss von Stimmungen
wie Habgier, Hass und Neid [6. Buddhismus], die scheinbar aus dem
Nichts plötzlich auftauchen und die Welt vergiften. Die Schöpfung
selbst ist meist vollkommen und wird nur durch falsches Denken,
falsches Benehmen, durch falsche Geschichten oder Erzählungen
verdunkelt und muss daher nur befreit werden, um wieder ein Paradies
zu sein. Besonders große Organisationen berufen sich gerne auch die
Schöpfung und geben vor, Verwalter und Befreier derselben zu sein.
In der Historie erleben wir diese meist so in Szene gesetzt, das sie
durch den Glauben an diesen Anspruch große Macht gewonnen hatten und
haben und diese stets zu missbrauchen verstanden. Ich selbst halte es
daher mit Krishnamurti, der eine Organisation als Träger von
Weisheit als nicht vereinbar/machbar verstand.

Und dann müssen wir
noch über unser Verständnis von Zeit reden. Zeit, das sind
sich sogar die Wissenschaft und die Esoterik einig, gibt es nicht.
Zeit ist ein Konstrukt des Menschen, eine Erfindung des Menschen.
Nicht umsonst hat die Wissenschaft die Zeit erst an der Bewegung und
dann an dem Raum festgezurrt. Die Natur kennt nur einen Wechsel der
Jahreszeiten, die durch den Abstand zur Sonne und durch dies daraus
resultierenden Klimaveränderungen und Lebensbedingungen
gekennzeichnet sind. Weiterhin entsteht unterschiedlich in der uns
zugänglichen Welt ein Wechsel der Hell-Dunkel-Zeiten. Die Zeit, die
wir meinen zu kennen und die 24 Stunden und 3600 Minuten pro Tag in
einem 365 Tage usw. dauernden Jahr enthält ist ein künstliches,
nicht am Leben orientierten Produkt der Technik. Wir erinnern uns an
die Vergangenheit. Diese erstellt Regeln und Handlungsweisen, die
sich bewährt haben und die uns eine Fortsetzung eines Lebens
ermöglichen. Diese Vergangenheit wird ständig gefüllt mit einem
kontinuierlichen Strom von Erlebnissen aus der Gegenwart. Aus diesen
erinnerten Erlebnissen konstruiert und erschließt sich der Mensch
eine Idee der Zukunft, in dere er sich Fortschritt erhofft und die
eine möglichst angenehme Fortsetzung des Lebens ermöglicht. Ein
eigentlich genialer Schachzug, der das eben sichert, aber auch mit
Risiken behaftet. Denn die mögliche Zukunft, so sie denn nicht die
erhoffte Qualität besitzt, erzeugt auch Angst und Negativität,
erzeugt über den Wunsch nach Sicherheit auch Gier, Hass und Neid.
Und hier entstehen auch die Leiden, die das menschliche Leben so
reichhaltig ausfüllten und die eigentlich unsinnig und unerwünscht
sind. Was für diese Lage wichtig wäre und was mir im europäischen
Denken oft fehlt sind daher Begriffe, die eine Dauer in der Gegenwart
auszudrücken imstande sind und die eine Neigung beschreiben können,
eine Neigung, die positive und negative Motive in Bewegung zu bringen
imstande ist. Nun ist in meiner Anschauung Negativität nicht
grundsätzlich schlecht, aber sie sollte mit der Freude, die ich
jetzt mal Positivität nennen möchte, zumindest in einer
ausgeglichen Balance stehen. Meiner Ansicht nach sind Freude und Leid
die Würze des Lebens. Beide in Balance zu halten ist Lebenskunst,
sie durch Erfahrung ineinander zu verweben aber ist Weisheit. Angst
und Leid zu überwinden geschieht durch das Bewusstsein ihrer
Beschaffenheiten, die Kenntnis über die Ursachen und die unendliche
Neuausrichtung der Neigungen, die einen Ausgleich, eine Balance
ermöglichen. So wird im Thema Freude und Leid für mich ein Schuh
daraus.



Es gibt viele
weitere Worte und Redewendungen die in diesem Rahmen gerne und oft
Verwendung finden und gebraucht werden, um etwas zu beschreiben, was
nahezu unbeschreiblich erscheint. Die hohe Anziehungskraft dieser
Beschreibungen drückt die Sehnsucht der Menschen aus, zurück in
einen wie immer auch geartetes paradiesischen Zustand zurückzukehren,
wo das Leben und das Sein vollkommen und leicht und jeglicher
Gefahren enthoben ist. Dafür dann sind Menschen bereit, zu üben, zu
sitzen, zu singen, zu tanzen, zu praktizieren oder zu kämpfen, um
nur einige Techniken zu nennen, und sie wenden viel Zeit und Energie
auf, um dabei sein zu dürfen bei der großen Befreiung.

Nun könnte
man aus meiner Wortwahl schließen, das ich das alles ganz
entsetzlich finde und empfehlen würde, dass man das dringend
abstellen müsse. Nun, das oder zu Gegenteil ist der Fall. Ich
schätze Menschen sehr, die sich um ihr Seelenheil bemühen und
bereit sind, dafür Opfer zu bringen. Und ich wünschte mir, das es
mehr und mehr werden.

Was ich mit meinen
Zeilen erreichen möchte ist aber die Einsicht, das es nicht die
Wortbedeutungen sind, die in der Spiritualität eine Rolle spielen.
Es sind auch nicht die unzähligen Aktivitäten und Bemühungen, die
für Veränderungen aufgewendet werden, die ich hier beschreiben
möchte. Was mir am Herzen liegt ist die Ansicht, das es vor allem
nicht allein darum geht, andere Menschen zu überzeugen, einen von
mir favorisierten Weg zu gehen, sondern das jeder einzelne Mensch
selbst und für sich zu der Überzeugung gelangen muss, seinen
eigenen spirituellen Weg zu gehen. Und dafür können gerne
Gleichgesinnte helfen, können unterstützen, können sozusagen
helfen, bei der Sache zu bleiben, aber letztlich ist jeder für sich
auf dem spirituellen Weg allein unterwegs. Seinen Weg erst einmal für
sich selbst zu gehen ist die Bedingung, in der Entwicklung überhaupt
möglich ist. Und dabei sind die Worte und Beschreibungen anderer, so
gut sie auch gemeint sein können, eher hinderlich als förderlich.
Der eigene Weg ist immer ganz neu, wird an jedem Tag neu sein, und
ist immer verschieden vom Weg der anderen. Das ist meine Überzeugung.
Und daher ist es auch sehr schwer und sehr verwegen, große
Organisationen zu gründen, die die Lehre einer wie immer gearteten
Freiheit in die Welt hinaustragen. Die Freiheit kann immer nur die
Freiheit des Einzelnen sein. Es geht einfach nicht anders. Und jeder,
der darüber lange genug nachgedacht hat, wird wie ich irgendwann zu
diesem Punkt kommen müssen. Ob dieser danach noch überwunden werden
kann, ist für mich ungewiss.



In vielen
spirituellen Texten wird mit den Bedeutungen von ich, sein, selbst,
Geist und Seele dialektisch gespielt. Ihr Verwendung bezieht sich auf
Bedeutungen und Schlussfolgerungen, die genau betrachtet einen in
sich geschlossenen Kreis bilden. In unzähligen Verkettungen werden
diese Begriffe ineinander verwoben, werden zu Argumentationsketten
verbaut, die letztlich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führen.
Dieses Ergebnis kann wie folgt beschrieben werden: „Du tust nicht
genug, daher…“. „Du musst mehr tun, damit…“ ist auch ein
schönes Ergebnis dieser Ketten. Gemeint ist damit aber nur, das du
etwas tun musst für andere, für die Organisation zum Beispiel, für
den Guru, den Meister, für die Gemeinschaft und, und, und. Mehr tun,
größer wirken, mehr investieren, ist das Ziel dieser Dialektik.
Dabei sprechen alle Traditionen und besonders der Buddhismus davon,
das unser Leiden daher kommt, das wir eben immer mehr wollen. In
meiner Anschauung ist Freiheit nur in sich selbst verwirklichbar. Nur
ich selbst kann für mich und damit auch für meine Umwelt frei sein.
Mein einziges Wirken besteht dann darin, für andere ein Vorbild zu
sein. Viele große Meister waren unscheinbar, wurden oft verkannt
oder zogen sich in die Einsamkeit zurück, da sie ihr
„nicht-wie-alle-anderen-zu-denken“ für sich und andere als
Gefahr empfanden. Sokrates wurde gezwungen, den Giftbecher zu leeren,
Laotse zog sich in seiner bekannten Geschichte in die Einsamkeit der
Berge zurück und ward nie mehr gesehen, und unzählige Andere werden
ebenso gehandelt haben, von denen daher nie etwas bekannt werden
konnte. Anders zu sein war und ist immer noch gefährlich, und der
Weise erkennt das auch und handelt entsprechend.

Wie kann ich mich
also verhalten, meiner Meinung nach, gegenüber den oben
beschriebenen Wortschöpfungen und Gefahren, die darauf basieren?
Unsere Sprache verwendet nun einmal ich und sein, verwendet Selbst
und Seele, und die Schöpfung ist auch, wie im letzten Satz zu sehen,
nicht gerade selten. Ich helfe mir so, das ich Sprache generell als
unvollkommen empfinde, ich Kommunikation insgesamt als unvollkommen
empfinde, und das schließt so vielfältige Dinge mit ein wie
Rituale, Gesten, Zeichen, Musik, Kunst, Literatur, Offenbarungen und
die vielen anderen wortlosen Ausdrucksformen ebenso. Wir Menschen
können eben nicht nur ausdrücken, was in uns vorhanden ist, sondern
auch das, was wir gehört haben und nur vermuten, was uns suggeriert
wurde, was uns Angst zu machen droht oder sich durch geschickte
Manipulation in uns verfestigt hat. Und da wir zur Zeit erleben, das
Kommunikation überhand nimmt und wir sozusagen fast erschlagen
werden von der Vielfalt und dem Reichtum an Bedeutungen, empfehle ich
einem alten Sprichwort gemäß: „Fragen zu stellen ist wichtiger
als Antworten zu finden!“. Ich frage mich zum Beispiel immer
häufiger, was ich meine oder gemeint habe, wenn ich einen Satz im
Gespräch oder im Artikel wieder mal mit „Ich“ begonnen habe,
frage mich, was für mich das Wort „selbst“ bedeutet, wenn es bei
mir Verwendung fand, und vermeide Worte wie Schöpfung oder Seele in
meinen Beschreibungen, da sie alles und auch nichts bedeuten können.
Das Verb „sein“ allerdings und das Verständnis von Zeit sind in
unserer Sprache unverzichtbar, und ich muss mir sehr bewusst darüber
sein, was genau sie bedeuten und wie ich sie entsprechend verwenden
sollte.



Wie gerne würde ich empfehlen, in eine Sprache zu wechseln, in der diese dialektischen Verfahren nicht bekannt sind und keine Bedeutung gewinnen konnten. Neben einigen Sprachen von Naturvölkern ist heute allerdings die Wahl dazu sehr beschnitten. Es gibt nur eine alte, nicht dialektisch vergorene Kultursprache, die diesem Anspruch meiner Meinung nach gerecht wird, und diese kommt auch heute schon im eigenen Volk immer seltener zum Tragen. Gemeint ist das klassische Chinesisch, die Sprache Chinas aus der Zeit von Laotse und Konfuzius. Und daher möchte ich gerne eine kleine Kostprobe anhängen, wie diese Sprache aussah, die ohne Verkettung in Dialektik auskam, und die doch eine Hochkultur begründet hat.

Himmel, Erde,
tief-dunkel, gelb
Welt, Zeit, fluten, brach-liegen
Sonne,
Mond, anfüllen, Abendstrahlen
Gestirne, Sternbilder, aufreihen,
ausbreiten
Kälte, kommen, Hitze, gehen
Herbst, ernten,
Winter, horten

(Unter dem) unergründlichen (tief-dunkeln) Himmel (die) gelbe Erde,
(in der) Welt (die) Zeit, (das eine) flutend, (das andere) brach(liegend),
Sonne (und) Mond füllen an (die) Strahlen des Abends,
Gestirne (und) Sternbilder reihen (sich auf und) breiten (sich) aus,
(Die) Kälte (des Winters) kommt, (die) Hitze (des Sommers) geht,
(Im) Herbst (wird) geerntet, (im) Winter gehortet.

Der aus den
Tausend-Zeichen-Klassiker stammende Text, den jeder Gebildete seiner
Zeit auswendig zu lernen hatte, drückt aus, was wichtig ist zu einer
bestimmten Zeit zu tun im ewigen Wechsel der Jahreszeiten:

Wenn Sonne und Mond
am unergründlichen Himmel (tief-dunkel) den Abend über der gelben
Erde bestrahlen, wenn die neue Jahreszeit sich wandelnd (flutend)
über die unberührte (brachliegende) Welt ergießt, wenn die
Gestirne und Sterne sich aufreihen, wenn die Hitze des Sommers sich
in die Kälte des Winters zu wandeln ankündigt, ist Herbst und die
rechte Zeit zu ernten und die Nahrung für den Winter zu horten.

In beginnenden Herbst erscheinen Sonne und Mond am Abend gemeinsam am Himmel in wunderbaren Sonnenuntergängen. Die meist klaren Herbstnächte erlauben erstmals wieder den Sternen, anders als in den warmen Jahreszeiten, sich am Himmel zu zeigen. Die Jahreszeit erlebt erneut einen Wandel, aus Hitze wird Kälte werden und die Menschen sind angehalten, zu ernten und Nahrung für den Winter zurückzulegen.

Wie klar und ausdrucksvoll wird hier beobachtet, wie ein Jahreszeitenwechsel sich ankündigt. Und ganz klar wird den Menschen ans Herz gelegt, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. Keine Pflicht und kein Sollen erfüllt die Zeilen. Alle Worte erscheinen wie selbstverständlich. Und niemand wird sich widersprechend gegen diese Zeilen erheben wollen. Könnten doch unsere europäischen Sprachen sich auch so klar ausdrücken…, der Fluss würde dann wieder fließen.