Es gibt viel nachzudenken…

Es gibt viel nachzudenken, denn die Stimmungsfarben der Erinnerung verblassen mehr und mehr und mit den Jahren kommt die Zeit der Aufgaben immer näher. Aufgaben sind aufzuarbeiten, solange die Farben noch leuchten und nicht im Dunkel des damals versinken, und aufarbeiten heißt aufgeben. Die Neigung, festzuhalten ist mächtig, Energie und Raum sind zwar unendlich im Sein, aber begrenzt für ein Wesen. Somit erfüllt eine Aufgabe immer beide Perspektiven der Begrifflichkeit, die stets mit lösen beginnt und die mit davon sich lösen endet. Dualität und Begrifflichkeit sind mächtige Werkzeuge des Denkens, aber sie haben immer mehrschneidige Kanten. Denken wie es vorherrscht bevorzugt die Reflexion der Vergangenheit, die über die Gegenwart in die Zukunft projiziert. Und spätestens dieser Satz trennt die Inhalte des Denkens in mindestens zwei Portionen. Da ist einerseits das Wissen, das ganz klar Bilder, Schlussfolgerungen, Ableitungen und Formel aufweist und einen Blick in die Zukunft zulässt, und da ist die Erfahrung, die stets nur gegenwärtig gelebt werden kann und unablässig der Veränderung unterworfen ist.

Wissen und Erfahrung sind nie in Reinform vorhanden, sondern treten stets durchmischt auf. Zweitausendfünfhundert Jahre Philosophie-Geschichte legen Zeugnis davon ab, das Reinformen nicht verwirklichbar sind. Und hier sehen wir auch, welche Steine dem nur schlussfolgernden Denken einerseits und dem rein intuitiven Denken andererseits in den Weg gelegt sind. Wenn aber immer nur Mischformen vorliegen, muss es immer irgendwo eine Schwelle geben, wo erinnern und erfühlen ineinander fließen. Diese Schwelle zu finden jeden Tag aufs Neue ist eine erste, individuelle Aufgabe, die zu lösen ein sich zu lösen ermöglicht. Erfahrung zeigt sich in vielen Formen. Die einfachste Form ist die des Lebens an sich, die im Todeskampf und im Lebenswillen sich äußert. Gewaltig, unerbittlich wird hier Wissen und Erfahrung der Vergangenheit ignoriert zugunsten neuer, vollkommen unerprobter Verhaltensweisen. Sucht und das was wir so nennen zeigt immer in diese Richtung, und wir alle sind süchtig, sei es nach Leben, nach Atem oder Nahrung, nach Rausch, Betäubung oder Freiheit. Sucht so gedacht ist mächtiges Wissen von Erfahrung in Form eines Stromes, der sein Bett schon gestaltet hat, unaufhaltsam, reißend, vorhersehbar. Ganz anders zeigt sich die Stimmung, die, obwohl ebenso getränkt von Wissen und Erfahrung, bei Regen als Fluss und bei Trockenheit als Rinnsal, keine konstante Strömung und Kraft aufweist. Hier verschiebt sich die Schwelle, aufgrund welcher Kraft auch immer, als ein Anschwellen und Erblassen. Es ist das Veränderliche in der Stimmung, die uns zu schaffen macht, die mal aufrütteln, mal erbleichen lässt und die nicht zugesteht, das Morgen vorauszusehen. Hier angesiedelt erscheint das allzu Menschliche, die Stärke im Schwachen, die Schwäche im Starken, Gezeiten mit unbekannter Ursache. Anders als die Stimmung ist die Prägung mehr von Dauer. Der Sucht nicht ebenbürtig, erscheint sie mehr wie ein konstant fließender Bach, der, von einer Quelle gestärkt, noch auf der Suche nach Festigkeit sein Bett nicht endgültig gefunden zu haben scheint. Hier wirkt eine in vielen Durchläufen gefestigte Erfahrung auf einem festen Sockel von Wissen. Die Schwelle ist zwar fest verankert, aber durch ihre Verankerung erscheint ihr Wirkungsort räumlich begrenzt.

Sucht, Stimmung und Prägung sind die drei Pfeiler der Erfahrung. Sie sinnvoll leben zu können heißt sie kennen und unterscheiden zu können. Ein unterscheidendes  Kriterium dazu ist Stetigkeit, ein zweites Kraft, ein drittes Vorhersehbarkeit. Schön wäre ein stetig gespeister Fluss im Bett eines Stromes, mal anschwellend, mal locker fließend, aber immer in Fülle und Bewegung, ein stetiges Fließen in festen Bahnen dem Ozean entgegen. Leben ist Gestalten, auch wenn Extreme gemieden werden. Nur noch ein Bach der Prägung zu sein ist schon lebendiges Sterben. In der Jugend ein Bett sich gegraben habend, sollte Altern ein steter Fluss werden und niemals Erlöschen im Rinnsal sein. Dann noch irgendwann die drei Pfeiler zu überwinden und nur Ozean zu sein, der zum Ziel erlöste Fluss, das wäre die letzte Aufgabe, die ein letztes Aufgeben beinhaltet. Dann ist Stille, sagen die Gelehrten, ein schöner Gedanke…




Yoga und das spirituelle Weltbild in meiner Praxis

Eigentlich weiß es jeder. Wenn wir regelmäßig Yoga üben, in Meditation sitzen, eine Kata oder Form vollführen oder uns in einer Entspannungshaltung befinden, folgen wir einem ganz ausdifferenzierten Weltbild, das uns in Samadhi, in Satori, die Befreiung von etwas, die Befreiung zu etwas oder in eine neue Fähigkeit führen möchte. Bevor wir uns dann in die Frage vertiefen, was Samadhi, Satori oder Befreiung sei und wie wir das Erreichen desselben überprüfen können, müssen wir uns erst einmal mit dem Begriff des Weltbildes auseinandersetzen.
Der Begriff Weltbild, wie er meist verwendet wird, ist eine Vorstellung der erfahrbaren Wirklichkeit als Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile (Wikipedia, Weltbild). Häufig wird auch der Begriff Weltanschauung genannt. Soweit so gut. Die Wissenschaft, die für solcherlei zuständig ist nennt sich Philosophie, und der Fachbereich, der dazu zu Rate gezogen werden kann ist die Ontologie (Seinswissenschaft). Allerdings enthalten Yoga wie alle östlichen Weisheitslehren nicht nur philosophische Anteile, sondern auch noch sehr viele religiöse Vorstellungen, die zwar meist dem Hinduismus oder Buddhismus entlehnt, aber zu einer eigenen Struktur zusammengefügt wurden. Nicht alle Yogis sind aber Hindus, und nicht alle Hindus praktizieren Yoga oder gar Meditation. Die Wissenschaften, die sich damit beschäftigen könnten, sind die Indologie und die vergleichende Religionswissenschaft. Um also Yoga zu verstehen, liegen jetzt als Studium das Einlesen in drei Wissenschaften sprich drei Meter Bücherregal samt Füllung vor uns? Oder gibt es nicht doch einen einfacheren Weg?
Wieviel Information und welches Vorwissen notwendig sind, entscheidet sich daran, wie ich mit z.B. mit Yoga umgehen möchte, was ich von diesem Umgang erwarte und wie tief ich eine Verstrickung in diese Praxis zuzulassen gedenke. Betrachte ich Yoga gesundheitlich, sportlich, betreibe ich es  psychologisch, philosophisch oder glaube ich, für mich eine neue Religion, eine neue Form des Seins gefunden zu haben, an dem mein künftiges Leben sich gestaltet. Am Anspruch, den der Übende zugrunde legt, wird die Menge und die Auswahl des Lernmaterials sich orientieren müssen.
Für die erste Dimension (gesundheitlich, sportlich) genügt es meist, ein Yogastudio zu besuchen und sich einer gut geführten Gruppe anzuschließen. Die wenigen Fachbegriffe, die ich verstehen muss, finde ich in nahezu jedem Yogabuch auf den ersten praktischen Seiten.  Wichtiger allerdings ist, sich mit den Grundbegriffen der Sportphysionomie vertraut zu machen und etwas zu lernen über Dehnung, Tonus, Haltung und vor allem über die Schwachpunkte der menschlichen Gestalt.
Für die zweite Dimension (psychologisch, philosophisch) wird deutlich mehr Fachwissen benötigt. Neben den Grundlagen der Yogaphilosophie und –psychologie ist es ratsam, sich völkerkundlich über Indien zu informieren, da sich die Schriften des notwendigen Studiums erst vor dem Hintergrund der Herkunftskultur abbilden und verstehen lassen.
Für die dritte Dimension (Leben in Yoga) werden sich alle Lebensbereiche grundlegend einer Wandlung unterziehen müssen. Wissen genügt hier nicht mehr. Hier ist ein Leben in Yoga gefragt. Im Europa des dritten Jahrtausends eine mächtige Herausforderung.
Und was oben beschrieben für Yoga gilt, gilt auch im Zen, in Vipassana, im Buddhismus und anderen spirituellen Weltbildern, die eine Übungs- und Lebenspraxis anbieten. Natürlich gibt es in und zwischen den Dimensionen Grauzonen und Abstufungen. Sie alle versprechen dem Übenden etwas in der Form: Wenn du A und B regelmäßig übst, bekommst du C und D; wenn du so und so lebst, wirst du so und so dich fühlen, erleben und den und den Sinn finden. Immer kommt zuerst das Tun, dann kommt irgendwann die Belohnung und zum Schluss ein tolles Leben in Freiheit, ohne Ärger, ohne Leiden, ohne Angst und ohne Sorgen. So wird es proklamiert und praktiziert, seit Jahrhunderten mit stets offenem Ausgang. Das Problem, das dabei immer wieder erscheint ist die schnöde Tatsache, dass wir belegbar nur dieses eine Leben so leben und es kein Zurück geben kann, denn jeder gelebte Tag wird Spuren hinterlassen. Was also ist zu tun, wie muss ich mich entscheiden, wie kann ich einen Weg sicher gehen? Darauf gibt es keine wirklich zufriedenstellende Antwort. Hier sind Entscheidungskraft, Mut, Vernunft und Verstand, ein fester Wille und eine klare Sicht auf meine jetzige Welt notwendig. Ich möchte etwas ändern? Wie weit muss ich dafür gehen? Wie hoch ist der Preis? Wie sicher ist der Weg?
Was bei der Betrachtung bisher nicht erwähnt wurde ist die Fragestellung, ob ich mich immerzu voll zu 100% einbringen muss? Soll oder muss ich sogar das ganze Lebenskonzept einer Praxis übernehmen, damit sie wirkt? Oder ist es möglich, sich aus und in einer Lehre voranzutasten und mit Vernunft, Geduld und etwas Gelassenheit  den Teil eines Weges zu gehen, der mir jetzt mein Leben etwas zu beruhigen vermag. Fangen wir vielleicht doch einfach mal klein an. Wie ist ein Leben, wie fühlt sich ein Leben an ohne Rückenschmerzen? Ist es das gleiche Leben wie jetzt nur ohne Schmerzen, oder wird durch die Schmerzlosigkeit etwas frei, was mein Leben grundlegend zu ändern vermag? Ich denke, letzteres wird stattfinden. Zumindest spricht meine Erfahrung dafür, es so zu sehen. Ein ähnliches Motiv ergibt sich aus der Aufnahme einer Meditationspraxis. Auch ohne Samadhi, auch ohne Satori wird sich durch tägliche Praxis Bewegung in das Leben kommen und niemand kann vorhersehen, was das so genau sein wird.  Der Weg ist ein Weg der Erfahrung, und Erfahrung gewinnen wir durch tun. Und was eine Erfahrung bewirkt, das steht nicht einmal in den Sternen. Das wird sich erst zeigen, wenn die Zeit gekommen und/oder der Mensch gereift ist.
Die Essenz der Worte oder das was ich zu sagen habe ist doch, dass wir unser Leben einfach leben und nicht entscheiden müssen, irgendeinem vorgefertigten Pfad zu folgen. Es ist mein Leben, meine Zeit, meine Intension. Dafür muss ich mich weder entschuldigen, noch rechtfertigen noch schämen. Nichts dergleichen ist von Nöten. Es gibt weder falsch noch richtig, denn Wissen über dieses unser Leben haben wir keines und wir sollten es auch nicht anstreben (sagt die Philosophie: Sokrates). Nur leben ist mehr als genug!
Vieles von dem, was bisher in mein Leben kam war gar nicht gewünscht, wurde von mir nicht erwartet und war auch nicht absehbar, selbst aus und mit Yoga nicht. Vieles, was ich begonnen und beendet habe, hat seine Schatten geworfen und seine Spuren hinterlassen. Aber immer bin ich doch der geblieben, der ich sein wollte, oft im nirgendwo zwischen modern und antiquiert, zwischen beliebt und übersehen, zwischen erfolgreich und dahin plätschernd, zwischen gefasst und zerbröselt, zwischen gerne gelebt und durchgestanden. Ich musste dafür weder Yogi sein noch sonst wie heilig, musste mich nicht so und so ernähren und so und so mein Leben gestalten, nur Hanspeter sein hat genügt. Und im selten stattfindenden Zurückschauen sage ich dazu nur: Es war ganz OK so.




Warum Meditation, und warum Zen?

Menschen sind bewusste Wesen, aber das wäre eigentlich nichts Besonderes, denn andere Lebewesen sind auch bewusst. Was den Menschen abhebt aus der Masse der Lebewesen ist eine Ableitung dieses Bewusstseins, denn der Mensch ist sich seines Bewusstseins bewusst oder anders gesagt weiß der Mensch, das er bewusst ist und fügt das Wissen darum  in sein Verhalten ein. Er weiß, dass nicht nur er selbst, sondern auch der andere Mensch bewusst ist und darüber weiß.
Alles in allem ist das eine sehr komplizierte und unübersichtliche Betrachtung, mit der Menschen im Alltäglichen ohne viel zu denken relativ sicher umgehen können. Dazu gehören die Fähigkeiten, Strategien und Taktiken zu bilden, zu fühlen, wie es um ein Leben steht und natürlich das Wissen um Richtig und Falsch. Die Potentiale, die diese Bewusstheit (das Bewusstsein des Bewusstseins) freisetzt, sind erheblich, oftmals auch gefährlich und anstrengend, aber sie bergen in sich auch die Möglichkeit, weiterzugehen und mit anderen ein Gemeinschaftsbewusstsein zu bilden. Dieses Gemeinschaftsbewusstsein erweitert sich zunehmend auf die Menschen und Lebewesen der Umgebung, umfasst zunehmend immer größere Räume und Ebenen, überwindet schließlich die Begrenzungen der Identifikation (ich, meine Familie, mein Volk, meine Welt) und weitet sich in eine Bewusstheit, die alles Leben und alles Sein umfasst. Die Mittel auf diesem Öffnungsweg sind Energie (Hara), Mitgefühl (Herz) und umfassende Freude (Samadhi). So beschreibt ein Zen-Meister den Meditationsweg des Zen, beziehungsweise so habe ich seine Ausführungen verstanden oder so lege ich ihn aus, heute, hier und jetzt. Bereits morgen kann und mag sich das ändern können.
Es wäre vermessen, sagen zu wollen, dass ich das Beschriebene vollständig nachvollziehen könne und auch nur zum Teil diesen Weg bereits gegangen oder sogar vollendet zu haben. Dem ist nicht so. Es ist eher so, dass ich mich entschlossen habe, in diesen Weg einzutreten und ihn soweit als möglich konsequent zu gehen, sofern mein Leben in dieser Gesellschaft und seine Gestaltungsnotwendigkeiten (Arbeit, Freundschaft)  das zulassen. Und sollte morgen ein Abgrund sich auftun und mir klar werden, das jetzt den Weg weitergehen springen bedeuteten würde, bin ich nicht sicher, ob ich bereits dazu imstande wäre, denn Rückkehr wäre aus und nach dem Sprung wahrscheinlich nicht möglich.
Der Meditationsweg erfordert Glauben und Zuversicht, zumindest wird es so immer wieder beschrieben und folglich oft zu lesen sein. Meist sind die Menschen, die man in Meditationseinrichtungen antrifft, optimistisch orientiert, glauben fest an die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit ihres Tuns, sind entspannt und friedfertig. Es sind nette, freundliche und hilfsbereite Menschen mit guter Ausstrahlung und frohem Gemüt. Wer mich genauer kennt, wird jetzt etwas verwirrt sein und mich in einem solchen Kreis eher nicht sehen, denn wie ich selbst werden sie mich mehr  in einer pessimistischer Haltung sehen, geneigt zu Nachdenklichkeit und Reflektion und ich erscheine zumindest meiner Umgebung selten als ausgeglichen. Denn im Gegensatz zu vielen meiner Generation setze ich oft Grenzen, verstehe  und praktiziere ich Sarkasmus  und, vor einer Wahl stehend, werde ich mich meist fürs Kämpfen entscheiden. Weglaufen oder stillhalten ist nicht meine Präferenz. Soweit so gut.
Ich persönlich halte positive Grundstimmungen, Weichheit und mangelndes Selbstvertrauen nicht für die Grundvoraussetzungen des Meditationsweges. Wer sein Ichgefühl aufgeben möchte, sollte zumindest mal ein ordentliches Selbstbewusstsein besitzen. Aufgeben, was man nicht hat, ist leicht. Dann ist, wer in dieser Gesellschaft lebt und arbeitet, gut beraten, etwas Skepsis und Misstrauen aufrecht zu erhalten. Man wird gerne und oft über den Tisch gezogen und es empfiehlt sich, im Alltäglichen vorsichtig zu sein. Dass diese Vorsicht aber nicht zur Manie wird, dafür haben Menschen Meditation und  Zen erfunden. Denn Zen entwickelt neben den  bereits weiter oben ausgeführten Fähigkeiten auch Unterscheidungskraft, entwickelt sicheres Auftreten und erarbeitet eine Ausstrahlung, die Menschen anzieht und verzaubert, alles Motive, die gut passen zu und gut zu gebrauchen sind in der heutigen Zeit.
Tägliche Meditationspraxis ist das A und O des Zens, das heißt: sitzen in Kraft und Stille.  Mit Kraft ist hier die Fähigkeit gemeint, mit seiner gesamten Energie und Aufmerksamkeit im Sitzen zu sein, weder zu schlafen noch zu dösen noch zu philosophieren, denn still zu sein erfordert unser ganzes Wesen. Wie schwer es ist, still zu sein, weiß nur der, der es ausgiebig und umfassend versucht hat. Still sein ist der immer wiederkehrende Versuch, einen Moment ohne das Gewölk der Worte auszukommen, immer wieder nach dem Scheitern zurückzukehren und es erneut anzugehen und motiviert die wenigen Phasen des Gelingens diese Zeitspanne auszudehnen. Still sein zu können ist kein erlernbares Wissen, ist keine Fähigkeit, die eingeübt werden kann, sondern ist eine Prägung, eine Haltung, die eingestanzt und eingebrannt werden muss. Das erfordert unsere gesamte Energie, unsere gesamte Aufmerksamkeit, erfordert den Einsatz unseres ganzen Wesens. Das einzuüben und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Bewusstsein und das Selbstvertrauen dafür zu schöpfen, die ganze Kraft dafür zu bündeln, das ist Zazen.
Ich weiß nicht, ob ein Zen-Meister diese Zeilen unterschreiben würde, aber das ist meine Ansicht über Zen, für mich der König der Meditationsformen und über Zazen, die Krone der Meditationsübungen. Zazen ist sitzen in Kraft und Stille!




Wir haben die Wahl, manchmal (2007)

Ich habe gewählt, und die Entscheidung zu gehen, nach Neuem zu suchen, war bestimmt nicht einfach, war bestimmt nicht leicht, und sie hat Kraft gekostet. Heute glaube ich zwar zu wissen, dass ich gar keine Wahl getroffen habe, denn es gab in Wirklichkeit keine Alternative als diese, als mich so zu entscheiden, aber damals war ich mir so sicher nicht, und der Zweifel fraß an meiner Selbstsicherheit wie der Rost an meinem Auto. Letztlich war es mein Stolz, eine an sich negativ besetzte Eigenschaft, die mich vorwärts drängte, die zu mir sagte: Du kannst hier nicht bleiben, du doch nicht…!. Ich bin heute sehr dankbar für diese Hilfe, und mein Verhältnis zu diesem Stolz hat sich deutlich gewandelt. Es ist oftmals gut, negative Eigenschaften zu besitzen, denn wo das Negative sich befindet, ist auch das Positive meist nicht weit. Und heute gehe ich denn diesen Weg ins Neue, von dem ich schon zu Beginn ahnte, ja fürchtete, dass er so einfach nicht sein würde. Meine Befürchtungen wurden weit übertroffen.

Das Neue betreten bedeutet, ins Ungewisse zu gehen, bedeutet Altes aufzugeben, ohne zu wissen, was an seine Stelle treten wird. Das Alte, das so schön eingewohnte, sichere und vertraute, das alles hinter sich zu lassen ist ein bedeutender Schritt, ein Schritt, der Mut erfordert, und bei mir war es mehr der Mut der Verzweiflung als der der Neugierde. Ich sah einfach keine andere Möglichkeit mehr, als zu gehen, und vieles in mir verweigerte sich anfangs, und vieles sträubt sich noch immer. Aber die Alternative, stehen zu bleiben, oder gar zurückzukehren, verursachte in mir eine Flut von Bildern, die voller Schrecken waren, voller Langeweile, voller Dünkel und Aussichtslosigkeit. Bleiben? Hier? Nein, niemals, und so geschah der erste Schritt, getrieben vom eigenen Stolz, und in dem Wissen, dass dieser Schritt ein Schritt ohne Rückkehrmöglichkeit sein wird.
Vieles hat sich verändert seit jenem Tage, und es gibt Dinge und Wahrnehmungen in mir heute, von denen ich nicht die Spur einer Vorstellung mit in diese Welt mitgebracht habe. Ein Kommen und ein Gehen ist in mir aufgebrochen, und eine Entdeckung folgt der Vorherigen auf dem Fuße. Nichts mehr von Langeweile, nichts von Wiederholung, kein Trott. Aber ich greife jetzt vielleicht etwas zu weit voraus. Der Weg ins Neue ist kein Weg in ein neues Leben, in eine neue Umgebung, der zu anderen Menschen oder der zu anderer Beschäftigung führt. Nein, der Weg ins Neue führt nach innen, führt zum in sich schauen, führt in sich selbst hinein. Das Draußen bleibt vollkommen unberührt, nichts ändert sich hier. Und hier innen finden wir eine Welt, die in sich so groß und umfangreich ist wie die Welt da draußen. Wie draußen, so ist auch hier alles in Bewegung, herrscht auch hier ein Kommen und Gehen, steht die Welt niemals still. Und doch, um diese Bewegung zu erfahren, muss es auch hier ein Stilles geben, denn wie anders als vor dem Stillen, dem Unbewegten, könnten diese Bewegungen wahrgenommen werden.
Die Erkenntnis, dass, wo Bewegung ist, auch ein Stilles sein muss, verwirrt zunächst, denn im Innen ist es anders als wir es gewohnt sind. Draußen im Großen, im Makrokosmos, halten wir uns, den Menschen, das Individuum, für den stillen Moment, um den herum sich alles dreht. Aber Innen aber, im Menschen, im Individuum, wer oder was ist dort still? Diese Frage trifft sehr hart besonders dann, wenn man eine Antwort versucht, denn jede Antwort, jede These hält einer Untersuchung, einer Analyse nicht stand. Und letztlich bleibt die Frage allein zurück, diese verfluchte Frage, und wo wir doch aus Verzweiflung aufgebrochen sind, wo wir den Abgrund verlassen wollten, tut sich jetzt ein neuer Abgrund auf, und dieser ist größer als jeder Vorherige, und er besteht aus einer Frage, einer einzigen Frage: Was ist es, dass so still ist in mir? Was ist es, dass mir erlaubt, das anzuschauen, das ich oftmals als ”mich selbst” bezeichnet habe? Ich sehe meinen Körper sich bewegen, ich sehe Energien, oder was auch immer das sein mag, sich in mir rühren, ich sehe meinem Denken zu und oftmals lache ich innerlich laut angesichts der Dinge, die sich da ereignen. Aber, wer lacht da über wen? Es ist und es bleibt verzwickt.
Also da gibt es eine Frage, und ich habe viele Antworten versucht, und keine konnte bisher meinen Anspruch erfüllen. Was tun in dieser Not? Bücher! Natürlich, wenn du etwas nicht weißt, dann lese es nach. Irgendwer hat sich bestimmt schon einmal damit beschäftigt, irgendwer war genauso ratlos wie ich, und vielleicht hat er/sie ein ganzes Leben gebraucht, um eine Antwort zu finden, und, er/sie hat diese bestimmt aufgeschrieben. Ich zumindest würde dies tun. Und so begann ich zu lesen, Wort für Wort, Zeile um Zeile, Buch um Buch, Autor um Autor, und mein Regal für Bücher wuchs und wuchs und wuchs. Vieles habe ich in den Büchern gefunden, brauchbares, unbrauchbares, und so manches meiner Wahrnehmung fand ich bestätigt, so manche Ansicht gestützt und doch, letztlich blieben auch all diese Worte nur Worte. Viele Systeme wurden beschrieben, Möglichkeiten der Erfahrung, ja selbst Ansichten des Seins, aber die eine Frage beantworten konnten sie mir nicht. Die Bücher halfen mir, das auszudrücken, was ich in mir fand, ja, sie halfen mir, eine Sprache zu bilden, um zu verbalisieren, sie halfen mir Vergleichen, Analysieren und all das… Doch die Frage, diese Frage, dieser Abgrund, er ist noch immer ständig präsent.
Viele Anregungen erreichten mich über dieses Lesen, über Philosophie und Yoga, östlich und westlich, von Kontemplation bis zu Meditation, von Tai Chi bis zu Bioenergetik, und alle sagen übereinstimmend: Nur so geht es, nur mit mir kommst du ans Ziel, nur meine Weise ist die Richtige, und schaue nicht nach anderen, habe Geduld und übe, gib dich hin, mache nur weiter dies und das und jenes und … und … und… Und manchmal frage ich mich, was hat das alles mit mir zu tun, was soll ich mit all dem, was soll ich denn bloß davon halten? Und ich erinnere mich eines Wortes, das ich, es ist schon lange her, einmal gelesen habe: Ich weiß, dass ich nicht weiß, dass ich nicht wissen kann, und wenn ich weiß, dass ich nicht weiß, weiß ich mehr als der, der zu wissen glaubt. Lange habe ich über diesen Spruch nachgedacht, und mit jeder Stunde gewinnt er mehr an Sympathie, mehr an Wirklichkeit. Wenn ich also einmal annehme, dass ich nicht wissen kann, was schreiben denn dann all die Autoren in ihren Büchern? Schreiben sie vielleicht nur etwas über DAS, streifen sie vielleicht nur einen kleinen Ausschnitt von DEM, beschreiben sie nur einen winzigen Teilaspekt eines Größeren? Und wenn dann jeder Autor einen Teilaspekt beschreibt, und ich viele Autoren, also auch viele Teilaspekte kenne, dann… und mir kam das Bilds eines Puzzles in den Sinn, und ich begann weiter zu suchen, und ich suche und suche und suche…
Vieles wurde mir auf dieser Suche klarer, vieles von dem, was ich früher nur erahnen, höchstens noch erfühlen konnte, kann ich heute in Worten beschreiben. Und doch sind die geschlossenen Türen nicht weniger geworden, sind die meisten Fragen ungelöst. Zieht man Unendlich von Unendlich ab, bleibt Unendlich übrig. So einfach ist das in der Begrifflichkeit, im Leben aber bedeutet es, vor einem Abgrund zu stehen. Ich habe mich gewöhnt an dieses Loch vor mir, und ich habe keine Angst mehr davor, hineinzuschauen, aber springen? Nein! Das ist etwas ganz anderes. Dazu reicht mein Mut noch nicht aus. Um zu springen muss ich abgeschlossen haben mit diesem Ich, muss ich das Gefühl haben, getan zu haben, was ich tun konnte, muss ich zu der Überzeugung finden, das alles das, was bleibt, springen ist, das alles getan ist außer dem einen. Und so ist mein spiritueller Weg der, zu tun, was noch getan werden muss. Bis dahin, bis alle Schmerzen erlebt, alle Gefühle erfahren, alle Leiden durchlebt wurden, bis wirklich alles getan ist, bis dahin ist noch ein weiter Weg. Mir hilft das Wissen um diesen Abgrund, weiterzugehen, hilft dieses Wissen, das Leben zu leben, es zu leben, so wie es ist. Und eines Tages werde ich wieder vor dem Abgrund stehen, und dann  werde ich  wissen, dass jetzt alles getan ist, werde wissen, dass jetzt nichts zu tun bleibt, als…, und dann werde ich springen, um auch die letzte Antwort zu erfahren auf die letzte Frage, die dann noch offen sein wird:
Was ist das, dass still ist in mir?




Zum Wesen der Energie im Yoga

Ein Versuch, den Begriff der Energie, so wie er im Yoga Verwendung findet, zu beschreiben und zu definieren.

Einleitung
In vielen Bereichen des Yoga wird in umfangreicher Art und Weise das Wort ”Energie” oder die Bezeichnung ”energetisch” verwendet. Ich möchte versuchen, diesen Begriffen etwas größere Klarheit zu geben. Zunächst einmal ist ja Energie ein festgelegter Begriff in der Wissenschaft, und nahezu jeder Fachbereich besitzt dazu eine Definition. Schlägt man in einem Fremdwörterbuch nach, so findet man:

  • Energie: Tatkraft, Kraft, Nachdruck
  • Energie, physikalisch: Maßstab für die Fähigkeit eines Körpers oder Systems, Arbeit zu leisten.
  • Energieprinzip: Satz von der Erhaltung der Energie: Bei keinem Naturvorgang kann Energie verloren gehen oder aus nichts gewonnen werden.
  • Energisch: tatkräftig, nachdrücklich


Eine weitere Quelle für die Beschreibung von Energie fand ich bei Sheldrake, McKenna und Abraham (Denken am Rande des Undenkbaren):

(Es gibt in der Betrachtung der Welt) zwei Prinzipien: ein formatives Prinzip (morphogenetische Felder), und ein energetisches Prinzip. Energie ist das Prinzip der Veränderung, und reine Veränderung wäre Chaos. Eine Möglichkeit, sich diese beiden Prinzipien zu denken, ist die indische tandrische Vorstellung von Shakti als Energie und Shiva als dem formbildenden Prinzip, die in ihrem Zusammenwirken die Welt, wie wir sie kennen, erschaffen.

Die “analytische Psychologie” nach Jung sieht im Energiebegriff etwas ungreifbares, das letztlich als etwas Symbolisches verstanden werden muss. Energie ist hier immer quantitativer, niemals qualitativer Natur, da sich Energie nur in der Veränderung anderer Dinge zeigen kann. Sie kann nicht an sich wahrgenommen werden, ist kein Ding, lediglich ihre Wirkung wird registriert.

Jeweils für sich allein gesehen sagen uns diese Beschreibungen nichts neues. Betrachtet man sie aber in übergreifenden, also psychologisch-philosophischen Sinn, so finden sich hier noch einige Schlussfolgerungen, die einer mechanistischen Sichtweise von Energie als einem Ding eindeutig widersprechen.

Versuch einer umgreifenden Definition.

Wenn man die oben aufgeführten Beschreibung zusammenfasst und versucht, ein allen gemeinsames Moment heraus zu kristallisieren, so bleibt ungefähr nachfolgendes bestehen:

Energie beschreibt die einem Körper oder System innewohnende Fähigkeit (Potenz) zu Anpassung, Veränderung und Selbsterhaltung

Betrachten wir die unten aufgeführten Beispiele, so finden wir in allen diesen Satz bestätigt. Sogar ”die energische Nachbarin” trägt diesen Satz mit.

Yoga und Energie
Betrachten man dann einmal, wie der Energiebegriff im Yoga Verwendung findet:

  • Wir bauen im Üben Lebensenergie auf.
  • Wir erreichen durch die Übungen das Auflösen von Energieblockaden.
  • Wir setzen Energie frei und lenken diese durch den Körper. Körperpartien, die krank, schwach oder anfällig sind, werden mit diesen Energien gestärkt oder sogar geheilt.
  • Ein höheres Energieniveau führt uns zu Ausgeglichenheit und Lebensfreude.
  • Energetisch wirkt die Übung auf das Stirn und Scheitelchakra. Dies fördert die Konzentrationsfähigkeit, gibt Mut und Selbstvertrauen.

Alle diese Beschreibungen, wahllos herausgegriffen aus einem großen Korb, beschreiben ”die Fähigkeit zur Veränderung”. Die oben beschriebene Definition scheint angemessen und glaubwürdig. Als nächsten Schritt betrachtet man sich die Übungen in Einzelnen und stellt die Frage: ”Trifft diese Beschreibung?”

Asanapraxis

In der Asanapraxis ist der Energiebegriff wenig geläufig. Nur in wenigen Fachbüchern werden Asanas als energetisch wirksame Übungen oder Haltungen beschrieben. Betrachtet man andererseits das erfahrbare Wirken dieser Übungen, so werden nachfolgende Beobachtungen oft zitiert:

 

  • Man erhöht durch das üben von Asana die Flexibilität der Muskulatur beträchtlich. Es gibt wenige Körperübungen, die den Asanas hier gleichwertig gegenüberstehen.
  • Körperhaltung und Körperstatik verbessern sich.
  • Die hohe Elastizität erlaubt Bewegungen von Leichtigkeit und Eleganz.
  • Asanas schulen das Gleichgewicht, fördern Kraft und Beweglichkeit.
  • Durch meditative Praxis (Innerlichkeit) wird die Entspannungsfähigkeit verbessert und der Körper wird in allen Teilen einer bewussten geistigen Einwirkung zugänglich.
  • Die inneren Organe erfahren durch Druck und Verdrehung eine Massage, die ihre Funktionen verbessert.
  • Die Blutzirkulation wird verbessert. Besonders in Umkehrstellungen macht sich dieses bemerkbar, erlaubt diese Haltung doch augenblicklich ein Zurückfließen venösen Blutes zum Herzen.
  • Asanas fördern Verdauung und Stuhlgang.

Diese Aufzählung ließ sich noch weiter fortsetzen. Alles in allem aber sind alle diese Wirkungen in irgend einer Weise Veränderungen zum Besseren hin. Wenn Asana also eine energetisch wirksame Haltung ist, und diese dann in ihrer Wirkung Veränderung hervorruft, kann auch hier die oben beschriebene Definition bestehen.

Weiterhin ist zum Energieaspekt von Asanas zu sagen, dass viele dieser Haltungen eine innere Dynamik besitzen. Diese wird spürbar, wenn der Übende beginnt, eine Grundausstattung von Kraft und Beweglichkeit vorausgesetzt, im Grenzbereich der körperlichen Möglichkeiten (zB Dehnung oder Drehung) zu arbeiten.

Nehmen wir als ein Beispiel den Drehsitz.

Zunächst geht der Übende in eine Grundhaltung, korrigiert seine Rücken- und Beinhaltung, dreht sich so weit wie der Körper es bequem zulässt und baut dann mit den Armen eine Spannung (Energie) auf, die von der Bewegung des Atems getragen, durch Entspannung oder Loslassen in die Asana hineinführt. Durch das sich ständig wiederholende Aufrichten und Absinken in die Drehung hinein wird die Wirbelsäule und deren Lage in Bezug zum Gesamtaufbau ständig verändert und entlang dieser Veränderung wird dann ein Gefühl von Energie in Form von Kribbeln oder Wärme wahrnehmbar. Dieses wird durch die Veränderungen ausgelöst, die durch den energetischen Aufbau der Übung erreicht werden, und nicht durch irgendetwas anderes.

Weiterhin kann dann gesagt werden, dass, wenn die obige Beschreibung trifft, die hohe Beweglichkeit der Yogis eher ein Nebenprodukt ist als das sie eine gewollte Fähigkeit darstellt. Durch die Arbeit im Grenzbereich nämlich, in der dem Übenden energetische Veränderungen wahrnehmbar werden, ist eine zunehmende Dehnungsfähigkeit zwangsläufig als Nebenprodukt beigegeben. Natürlich sind eine gut dehnbare und gekräftigte Muskulatur gesundheitsfördernd, aber die Übertreibungen, die häufig bei Vorführungen und dergleichen zu beobachten sind, können so (auch aus der Überlieferung der Yogatexte heraus) nicht als authentisches Yoga gesehen werden. Sie stellen dann eine mitunter gesundheitsschädigende Fehlinterpretation dar.

Nicht die Dehnbarkeit und Akrobatik, sondern der energetisch wirksame Aufbau enthält den Segen dieser Übungspraxis. Und dieser Aufbau ist unabhängig von der Beweglichkeit des Einzelnen.

Pranayamapraxis

Prana oder Lebensenergie ist der grundlegende Begriff in dieser Übungspraxis. Sie beschreibt ein Phänomen, das von der Kraft, die Leben schafft, organisiert und erhält bis zur Summe allen Seins, der kosmischen Energie, dem großen Einen reicht. Wie alle Beschreibungen, die sowohl ein einzelnes, differenziertes betreffen als auch die große Summe allen Seins, verschwimmt dieser Begriff durch seine Breite und sagt damit alles und auch nichts. Ich bin Energie, nehme Energie auf, lebe in einer energetischen Welt und kehre in die große Energie zurück; nun, damit kann ich nicht viel anfangen.

Pranayama heißt übersetzt, die Energie beschränken oder unter Kontrolle bringen. Bereits hieraus ist ersichtlich, dass hier ein differenzierterer Energiebegriff notwendig wird. Denn, wenn alles Energie ist, kann ich nichts unter Kontrolle bringen genauso wenig, wie ich Wasser durch Wasser begrenzen kann. Meist liest man dann von verschiedenen Formen von Energie und meint damit feste Stoffe, mentale Strukturen wie den Gedanken und neben anderen eine göttliche Kraft, die überall existiert. Doch auch damit kommen wir kein Stück weiter, denn auch hier geht die Abstraktion ins Unendliche und wird damit nicht fassbar. Versucht man aber, die oben beschriebene Definition zu verwenden und in einige Begrifflichkeiten des Yoga zu integrieren, so erhält man folgendes:

Die Lebensenergie

Man beschreibt heute Leben als einen Prozess, der vor Jahrtausenden begonnen (Ursache unbekannt), sich bis heute fortsetzt. In dieser Zeit bildeten sich komplexe biologische Systeme, zu denen in der Spitzengruppe (den höchsten Entwicklungsstufen) auch der Mensch gehört. Diese Entwicklung, auch Evolution genannt, funktioniert nicht, wie bisher angenommen, durch ein Prinzip ”try and error”, sondern durch ein Integrationsprinzip. Hierbei werden für das Individuum Lösungen angestrebt, die den Zwängen der Umwelt Rechnung tragen, wobei neben permanent wirkenden Anpassungen auch Sprünge möglich waren und möglich sind, denn die Evolution ist nicht beendet. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass wir uns durch Veränderung unserer Selbst und unserer Umwelt weiterentwickeln. Veränderung ist das Prinzip des Lebens. Dies eingesetzt in unsere Definition bekommen wir: Leben = Veränderung = Energie

Was bedeutet die Aufnahme von Prana?

Wir nehmen mit jedem Atemzug, mit jeder Nahrung und auch mit unseren Wahrnehmungen Prana auf. Nehmen wir den oben gebildeten Schluss (Leben = Veränderung = Energie) als Grundlage, so erhalten wir nachfolgende Antwort:

Die Aufnahme von Prana kann auch als ”die Schaffung und Aufrechterhaltung einer Struktur begriffen werden, die eine Veränderung auf der Basis des Bestehenden zulässt”. Wir bringen also durch die Aufnahme von Prana den Körper/Geist in einen relativ ”ungeschützten, gelösten, gelassenen, hingegebenen Zustand”, der auf der bestehenden Struktur basiert, aber in Grenzen Veränderungen möglich werden lässt. Dies impliziert dann aber auch, dass diese Veränderungen erwünscht sein sollten, sinnvoll und tragbar erscheinen. Man kann die Aufnahme von Energie dieser Art mit den politischen Gegebenheiten eines Staates vergleichen: Sinnvolle und zurückhaltende Handlungen und Reformen (kontrollierte Aufnahme von Energie) verbessern, Stagnation (fehlende Energieaufnahme) einerseits, aber auch Revolutionen (zu viel Energie) anderseits zerstören die Grundstruktur (Gesundheit) des Staates (Organismus).

Was bedeuten dann Wahrnehmungen von Energie?

Wir alle kennen den Schmerz, der, sich in einer bestimmten Körperregion ausbreitend, für Aufmerksamkeit sorgt und zumeist ein Schutzverhalten auslöst. Auch kennen wir aus Beschreibungen ein Verfahren, das durch Hinlenkung von Aufmerksamkeit in bestimmte Körperpartien dort für spürbare Veränderungen (meist An- oder Entspannungsreaktionen oder Spannungsänderungen) sorgt. Weiterhin wissen wir, dass bestimmte Bewegungen des Körpers, die bewusst ausgeführt werden, eine Hinlenkung der Aufmerksamkeit benötigen. So ist doch der Schluss naheliegend, dass auch unbewusst ablaufende oder seiende Körperfunktionen und Haltungen durch solche Konzentrierungen (zB Affirmationen, Autosuggestionen) beeinflusst werden können. Wenn wir also irgendwo Energie in uns spüren, ist gerade dort eine Veränderung im Gange, die wir zunächst wahrnehmen müssen und die durch bewusste Beeinflussung weitergeführt, zugelassen, aber auch gestoppt werden kann. Diese Fähigkeit zur Wahrnehmung und Korrektur herauszubilden, ist eines der Grundmotive des Yoga.

Was sind dann die Ziele der Atemübungen, der Verschlüsse und Gesten?

Die allgemeinen Atemübungen wie Kapalabhati, Wechselatmung und andere schaffen ein Grundmuster, das dem Übenden erlaubt, Veränderungen wahrzunehmen und damit diese Fähigkeit zu schulen. Gleiches gilt für die Bandhas, die die Wirbelsäule aufrichten und damit vielfältige Veränderungen (Verbesserung) in der Statik des Rumpfes schaffen und bemerkbar machen. Auch die Mudras gehen in diese Richtung, jedoch sind diese eher erlernten auslösenden Symbole für bestimmte Veränderungen. Wenn ich also eine ganz bestimmte Fingerhaltung immer bei einer ganz bestimmten Veränderung beibehalte (zB Entspannung, Anspannung, Körperhaltung), kann später allein diese Fingerhaltung den Körper/Geist zu der entsprechenden Veränderung inspirieren.

Zusammenfassung

Die oben genannte Definition für den Begriff der Energie in der Yogapraxis (Asana und Pranayama) als ”Fähigkeit zur Veränderung” lässt sich zumindest für die Körper- und Atemarbeit sehr gut einsetzen, können mit ihr doch viele Phänomene zumindest einigermaßen nachvollziehbar erläutert oder begründet werden. Das diese Definition nicht alle Bereiche umfassen kann, wird schon aus der Komplexität der Thematik deutlich. Besonders geistige (mentale, psychologische) und spirituelle (religiöse, philosophische und rituelle) Phänomene, Verfahren und Praktiken bedürfen einer anderen Sprache und sind auch nicht das Ziel solcher Simplifizierungen.




Die Problemstellung in der stillen Meditation

Häufig werden in jedem Leben eines Menschen Problemstellungen auftreten, die nur in einer Entscheidung beantwortet werden können (einfachste Form: soll ich A oder B). Ich möchte mich nachfolgend mit der häufig gestellten Frage beschäftigen, ob es sinnvoll ist, Fragen unter Zuhilfenahme der Meditationsmethode aufzulösen. Dazu werde ich ein stark verallgemeinertes Schema vorstellen, nach deren Abarbeitung ich diese Frage durchaus mit „ja“ beantworten würde.
Günstigstenfalls wird sich die Problemstellung auf eine Frage verdichten lassen, die meist innerhalb der zugehörigen Lebenswelt gestellt und damit auch gelöst werden kann. Will man eine Problemlösung mit Meditation konzipieren, muss zunächst die Fragestellung gut herausgearbeitet, dass heißt vorbereitet werden:
1. Welche Lebenswelt(en) sind betroffen? Im gesellschaftlichen Leben jedes modernen Menschen gibt es mehrere Lebenssphären, die ich allgemein wie folgt darstellen würde: Private persönliche Sphäre (Ich und Selbst); Familie oder Partnerschaft; Arbeitswelt; Berufung (Hobby und Passion)
2. Liegen Erfahrungen und prägende Befindlichkeiten vor, die das Ergebnis der Meditation (als problemlösende Methode) vergiften können?
3. Lässt sich die Problemstellung soweit verdichten oder eingrenzen, so dass klare Alternativen hervortreten?
4. Stehen mir genügend Informationen zur Verfügung oder sollte ich zuvor zusätzliches Studienmaterial heranziehen, bevor ich mit der eigentlichen Entscheidungsarbeit beginnen kann?
Meist verdichtet sich in der Beantwortung der o.g. Vorbereitung die Fragestellung bereits auf eine ganz einfache und mit A oder B zu beantwortende Fragestellung. Diese kann dann in der Meditation gehalten, getragen und später entschieden werden.
Die Meditationsmethode verneint dabei alle unbewusst getroffenen Entscheidungen. Dazu dient die Einladung, sich all seiner Möglichkeiten bewusst zu sein und diese über einen längeren Zeitraum unentschieden zu halten und mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, wie das Unbewusste, das auf Konventionen beruht, nörgelnd und drängend zu einer Lösung kommen möchte. Die Unentschiedenheit geht einher mit der strikten Verneinung jeder schnellen Antwort auf die aktuelle Fragestellung. In einer ersten Verweilzeit werden sich nach und nach alternative Antworten und Motive zu den konventionell üblichen dazugesellen. In einer weiteren Stufe wird sich dann eine der Varianten immer mehr in den Vordergrund stellen. Wird diese dann im erneuten Durcharbeiten mit einem Gefühl von Sicherheit und Zuversicht empfunden, kann die Problematik als aufgelöst gelten. Zusammengefasst erscheint diese Vorgehensweise meiner Anschauung nach ein guter Weg zu sein, von Konventionen befreit sich alltäglichen Fragen zu stellen. Nehmen wir als Beispiel eine einfache Frage, wie sie vielleicht alltäglich auftritt:
„Soll ich, wenn der Entscheidungsfall eintritt, A oder B wählen; wenn ich schließe, dass auf A hoffentlich C eintreffen wird und ich D vermeiden kann, weil B zwar statt C immer D zur Folge haben würde, ich dann aber F zusätzlich erreichen könnte.“

Beispiel 1: „Soll ich (als Dieb), wenn der Entscheidungsfall (Polizei fasst mich) eintritt, A (dichthalten) oder B (die Komplizen zu verraten) wählen; wenn ich schließe, dass auf A (dichthalten) hoffentlich C (später einen Anteil an der Beute zu bekommen) eintreffen wird und ich D (der Verlust der Freunde) vermeiden kann, weil B (die Komplizen verraten) zwar statt C (später einen Anteil an der Beute bekommen) immer D (der Verlust der Beute) zur Folge haben würde, ich dafür aber F (eine Strafmilderung) zusätzlich erreichen könnte.“
Beispiel 2: „Soll ich, wenn der Entscheidungsfall (Partner bei Untreue erwischt) eintritt, A (Partnerschaft beenden) oder B (nach einer Karenzzeit verzeihen) wählen; wenn ich schließe, dass auf A (beenden) hoffentlich C (neue Partnerschaft) eintreffen wird und ich D (einen aufzehrenden Streit) vermeiden kann, weil B (verzeihen) zwar statt C (neue Partnerschaft) immer D (ich behalte das Bekannte mit etwas Vertrauensverlust) zur Folge haben würde, ich dann aber F (mehr Beinfreiheit, weil ich etwas gut habe) zusätzlich erreichen könnte.“

Komplexe Sachverhalte mit vielen „wenn und aber“ eignen sich nicht als Thema einer Meditation. Diese Fragen müssen zunächst gedanklich verdichtet werden, was so etwas wie einen wiederkäuenden Prozess darstellt. In vielen Beispielen geht letztlich um die einfache Frage, ob Festhalten am Gewohnten (weitermachen, verzeihen, bleiben) oder Aufbruch zum Neuen (loslassen, aufbrechen) einschließlich aller Konsequenzen stattfinden sollte. Diese Fragestellung dann, so vereinfacht, ist zur Auflösung in Meditation durchaus geeignet.
Sehr nahe verwandt ist diese Verfahrensweise mit der Philosophie Krishnamurtis, die in einem Satz zusammengefasst … „geprägt von einer radikalen Verneinung von Guruismus, Religion und Organisation und ebenso radikaler Bejahung von Freiheit, Lebendigkeit, Aufmerksamkeit“ (Wikipedia) … ausgedrückt werden kann. In dieser Abschauung ist jede Entscheidung, ist jeder Moment und jede Lebenssituation grundsätzlich neu. Im psychologischen Geflecht des Lebens gibt es danach kein Wissen, keine Vorgaben und keine Erfahrung. In der Meditation versuchen wir, genau an diesem Punkt anzukommen.
Das heißt aber nicht, das diese Entscheidung, A oder B in der Meditationszeit gefällt wird. Nein, ganz und gar nicht, denn die Meditationszeit ist immer der zu bewältigenden Aufgabe gewidmet, nämlich im Mantra, im Koan, in der Atemübung oder einfach nur im stillen Sitzen zu sein. Nur wird die Fragestellung mich ständig belästigen, und das ist gut so, denn in der Meditation lernen wir, nicht vorschnell oder unbewusst zu entscheiden, sondern sich auf das Wesentliche, das Zurückkehren zur Aufgabe, zu konzentrieren. Und was in der Meditation gelingt, gelingt mehr oder weniger gut auch in der alltäglichen Zeit. Die Lösung der Fragestellung wird sich in der Offenheit, der Unentschiedenheit sehr bald einstellen, denn die Meditationspraxis schafft kontinuierlich Raum für Neues; und darunter wird auch die Lösung für das aktuelle Problem sein.
In meiner Vorstellung wird so ein Problem in der Meditation gelöst, ohne in der Meditation selbst präsent zu sein. Und mag es auch nach der Quadratur des Kreises klingen, für mich hat sich diese Vorgehensweise schon oft bewährt. Bitte genau lesen: Schon oft, nicht immer! Denn manchmal ist es gut und angebracht, seiner Spontanität freien Raum zu lassen. Aber das -wann Spontanität gut ist und wann besser nicht- ist ein ganz anderes Thema.




Yoga als Übungsweg

Yoga an sich ist eine lebenslange Übungspraxis. Dabei bezieht sich der erste Teil „Übung“ wie in der Sprache angelegt  auf Motive, die der Übung bedürfen und daher nicht, noch nicht  oder nicht vollständig zur Verfügung stehen. Die Bedeutung des Wortteils „Praxis“ bezieht sich auf die Motive, die verfügbar sind und lediglich der Vergewisserung (der Erinnerung) bedürfen. Mit anderen, kürzeren Worten ausgedrückt übt man, was man noch nicht kann und praktiziert, was nicht in Vergessenheit geraten sollte.
In der westlichen Welt wird der Mensch als Trinität von Körper, Geist und Seele betrachtet, wobei die letzten zwei in aller Regel noch als Geist-Seele zusammengefasst werden und somit nur noch eine Dualität übrigbleibt. Das Übungssystem Yoga ist unter diesen Gesichtspunkten nicht beschreibbar. Versuchen wir eine Beschreibung der körperlichen Motive, die geübt werden können in westlicher wissenschaftlicher Ausdrucksform, stoßen wir sehr schnell an unüberwindliche Hindernisse.
Da sind zunächst die physischen Voraussetzungen eines Körpers, die mit den Begriffen Muskeln, Sehnen und Bindegewebe beschrieben werden. Knochen und Organe an sich entziehen sich ja einer direkten Übung, sind aber durch die Erstgenannten mehr oder weniger kollateral erreichbar. Weitere Motive physischer Übungen sind der Atem, der als ein raumschaffendes Wesen angesehen werden muss sowie die energetische Versorgung, die zwischen Atem und Stoffwechsel angesiedelt wird. Weitere Motive wie Spannungszustände, räumliche Ausdehnung, Bewegungsausrichtung, Entspannung, Schwerkraftnutzung und –widerstand sind in westlicher Nomenklatur gar nicht beschreibbar.
In der Yogasprache sind all diese Motive mit Strukturen beschrieben, die unter Anderen sich sehr grob betrachtet mit Energie (Prana) und Ausrichtung (Elemente) beschäftigen.
Übungen für den Geist gibt es in westlichen Systemen fast nur in Psychiatrie und Psychologie, wobei beide sich meist darauf beschränken, gesellschaftlich abnormales Verhalten und Denken in Normalität zurückzuführen. Wachstum, Entwicklung, Evolution und Erweiterung geistiger Fähigkeiten sind hier nicht vorgesehen, ja mehr noch, erscheinen dem westlich geprägten Geist als unsinnige Ziele und werden in aller Regel als krank diagnostiziert. Die Seele dann ist in westlicher Nomenklatur ein unveränderliches Wesen, das sich lediglich noch religiösen Praktiken öffnen kann, wobei diese streng und unerbittlich Glauben als ihre Grundlage setzen. Bei Unglauben droht ewige Verdammnis und Fegefeuer.
Im System des Yoga ist der Geist lediglich ein Werkzeug zur Alltagsbewältigung. Ansonsten wird diese Funktion mehr oder weniger als störend und hinderlich für den Wesenskern (Seele) betrachtet, soll also gezügelt und eingebunden sein. In der Methodik der Übungen werden daher Fähigkeiten angestrebt, in denen der Geist zu schweigen hat. Die Seele oder der Wesenskern aber ist göttlich und unveränderlich, frei von Geburt an und ewig im Sein.
Wenn wir also uns das Übungssystem des Yoga anschauen wollen, kommen wir um die Akzeptanz einiger begrifflicher Besonderheiten nicht herum, wobei es unbedeutend ist, ob diese Motive in Sanskrit oder einer alltagssprachlichen Begrifflichkeit benannt werden. Weiterhin ist nur Lernen derselben nicht ausreichend, sondern die Motive dieser Beschreibungsformen müssen auch wahrgenommen und umgesetzt werden können. So sind Pranaströme keine geistigen Bilder, sondern wahrnehmbare und  brauchbare Werkzeuge in Übung und Praxis. Die Elementenlehre beschreibt die Wahrnehmung von Schwere, Spannung, Ausrichtung und Ausdehnung und Bandhas (Siegel) und Mudras (Gesten), die auf den bereits genannten Motiven aufbauen, beschreiben Werkzeuge, mit denen diese Wahrnehmungen zu bewusster Veränderung eingesetzt werden können. Entspannungsfähigkeit und Spannungsaufbau sind dabei ebenso notwendig wie Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Die Meditation weiterführend beschäftigt sich mit der Fähigkeit, unbewusste Motive zu ergründen, auszuschalten oder zu verändern. Ihr Ziel ist ein durch Erfahrung und gesellschaftlicher Norm unbelasteter Geist, der auch schweigen kann und der in der Lage ist, Neues zu formen, schöpferisch zu sein.
Sich diese Werkzeuge zu erarbeiten, wird „Üben“ genannt; sich diese Werkzeuge zu erhalten und bewusst einzusetzen zu können, wird „Praxis“ genannt. Beide zusammen bilden das Übungssystem des Yoga. Zeit, Geduld, Hingabe und die Bereitschaft, Neues zu versuchen sind die Eigenschaften, die auf Matte und Kissen mitzubringen sind. Es hat nichts zu tun mit Fun, Leistung, Sport oder gar pseudoreligiösem Eifer, nichts zu tun mit Ausstieg und Neuorientierung und schon gar nichts mit Weltanschauung. Es ist nur … ein praktischer Übungsweg!




aavidya

Was bedeutet aavidya?
Wenn wir ein Sanskrit-Wörterbuch benutzen und den Begriff „avidya“ nachschlagen, werden wir als Übersetzung die Antwort „Nichtwissen“ erhalten. Nun ist Nichtwissen im indischen Kontext etwas vollkommen anderes als im westlichen dualen Denken.
Avidya ist die grundlegendste Ursache des Leidens, nämlich das Festhalten eines Wissens, das zu Leiden und Schmerz führt und daher aufgegeben werden muss. Dieses Wissen identifiziert sich mit seiner Persönlichkeit, seiner äußeren Erscheinung, seinen Erfolgen und Nichterfolgen, seinen Gedankenaktivitäten und seiner Stellung in Gesellschaften, indem es sagt: ICH… bin, habe, werde, darf, kann…

Da das vorgestellte A in Sanskrit eine Verneinung bedeutet, bezeichnet vidya das gute, echte, lebendige Wissen, das nicht zu Leiden führt und sich nicht identifiziert. Avidya wird dann zu einem Nichtwissen, das schlechte Eigenschaften hat und Leiden verursacht. Die Verdopplung der Verneinung am Anfang bedeutet dann so etwas wie „Nicht-Nichtwissen“. Es bezeichnet für mich den Versuch, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich zunächst seines Nichtwissens (Leidens) bewusst zu werden und selbiges dann mehr und mehr zu vermeiden versuchen. Nichtwissen dann nicht anzustreben, übersetze ich mit „aavidya“.




Spiritualität, der Versuch einer neutralen Definition

Der Versuch einer neutralen Definition.
Warum jetzt der Versuch, eine neutrale, für alle Religionen und Weltanschauungen akzeptable Definition von Spiritualität zu versuchen? Nun, immer mehr Menschen aller Kulturkreise verspüren eine tiefe Sehnsucht nach Sinngebung, scheuen aber bei dem breiten Angebot an spiritueller Praxis die angebotenen Ausformungen in Ritual und Gebet aus anderen, ihnen fremden Religionen und Kulturen. Sie sind zwar sehr interessiert an sinngebenden Lehren und Handlungen (Gebet, Meditation, Psychologie und Philosophie), wollen aber weder ihren Kulturkreis verlassen noch sich anderen Religionsgemeinschaften anschließen.

Was sagt das Lexikon über Spiritualität?
Spi|ri|tu|a|li|tät [lat.-m,lat.] die Geistigkeit; als Gegensatz zu Materialität.
Spiritualísmus [lat.], in der Philosophie Lehre, nach der alles Wirkliche Geist bzw. Erscheinungsform des Geistes ist (metaphysische Spiritualität); auch Bezeichnung. für verschiedene Bewegungen in der Geschichte des Christentums, die das unmittelbare Heilswirken Gottes durch dessen Geist betonen und sich deshalb gegen die verfaßte Kirche und das kirchliche Amt wenden.

Was ist die allgemeine sprachliche Bedeutung?
In der Regel wird alles, was mit Glauben, Gott, Religion, Schöpfung und Offenbarung zu tun hat oder solches beinhaltet, als Spiritualität zusammengefaßt.

Der erste Schritt: Das Anhalten und Zeuge sein
Etwas stimmt nicht. Du siehst es, du hörst es, und was schlimmer und aufwühlender ist: Du fühlst es! Du fühlst dich innerlich wie eine Maschine. Einmal angeworfen und ausgerichtet, läuft dein Leben in immer fester sich abzeichnenden Bahnen. Es gibt nichts Neues mehr. Alles ist alt, schon gesehen, schon gemacht, schon mal da gewesen und so langsam beginnst du dich zu langweilen. ”Ist das alles?”, fragst du dich. Du beginnst dann zögerlich, das eine oder andere Mal etwas zu blockieren, dich mal auszuklinken, und irgendwann bemerkst du zum erstem Mal diesen Widerstand in dir, es wird dir bewußt und dann bleibst du, vielleicht nur für einen kleinen Moment, einfach stehen. Du stehst, und die Welt dreht sich weiter und etwas geschieht, ohne das du etwas tun mußt. Diese Erfahrung ist die Geburtsstunde deiner Spirtitualität.

Die Definition:
Spiritualität ist das Gewahrsein des Zeugen in dir. Ausgehend von der Erfahrung der Anwesenheit eines Teils deiner selbst, der unberührt und unbeteiligt alles Geschehende beobachten kann, gelangst du zur Erkenntnis, mehr zu sein als dieser Körper und dieser Geist.

Ein paar Zitaten mögen verdeutlichen was gemeint ist:
• Meditation ist keine Erfahrung, sie ist das Erwachen des inneren Zeugen (Osho)
• Wir fühlen, das selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr, und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems. Dies ist der Grund, weshalb Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand (Wittgenstein).

Das Erwachen des Zeugen ist der Beginn des spirituellen Weges
Es gibt keine andere Methode, um Unzulänglichkeit, Irrtum und Illusion in Verbindung mit ”dem in der Welt sein” des Einzelnen aufzudecken, als die, anzuhalten und in Ruhe zu schauen. Und dieses Anhalten geschieht, wenn der Zeitpunkt reif dazu ist, von selbst, also aus unserem Wesen heraus. Und dann, wenn Fragen und Zweifel das Individuum erreicht haben, entsteht die Notwendigkeit, eine Sprache zu lernen, mit der diese geformt und ausgedrückt werden, und wir finden diese Sprache in jeder spirituellen Tradition. Tausende von Menschen vor uns stand genau vor dem gleichen Problem und sie alle haben diese Sprachen geschaffen. Es ist nicht wichtig, welche Sprache wir letztlich wählen, um in uns, mit uns und mit anderen an diesen Fragen zu arbeiten. Verschiedenste Systeme und Techniken wurden entwickelt und entwickeln sich weiter fort, doch irgendwann muß sich jeder entscheiden, welchen Weg er gehen wird, oder besser, welchen Weg er gehen kann. Diese Entscheidung aber ist niemals endgültig,

Die Bedingungen:
• Wir müssen bereit sein, immer wieder anzuhalten, um den inneren Zeugen wahrzunehmen und zu entwickeln.
• Wir müssen uns irgendwann für eine Sprache und Ausdrucksform der Spiritualität entscheiden und bereit sein, diese zu zu lernen und letztlich zu leben.
• Diese Entscheidung ist niemals leichtfertig und vorschnell aufzugeben. Trotzdem kann und darf es nötig sein und werden, die Sprache zu wechseln, und dann sollte dies auch geschehen. Viele Wege führen zum immer gleichen Ziel. Wir wählen stets den unsrigen, den stimmigen Weg.

Der zweite Schritt: Die mentale Offenheit
Grundlage dieses Versuches ist das Verspüren einer tiefen inneren Sehnsucht nach Sinn, die sich in der aktuell vorzufindenden Lebenssituation nicht stillen läßt. Der Überlegung folgend, daß nur neue, bisher nicht vollzogene Wege, Ansichten und Perspektiven zu einer Sinngebung führen können, tastet sich der Suchende langsam und vorsichtig in neue Anschauungen, Lehren oder Techniken. Hierfür sind Voraussetzungen notwendig:
• Die Bereitschaft, sich neues, ungewohntes anzuschauen
• Die Bereitschaft, altes, gewohntes vorübergehend auszublenden oder sogar aufzugeben
• Die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, die neue Wege mitbringen.

Die Definition:
Spiritualität ist ein Zustand mentaler Offenheit, der sich in Denken, Wort und Handlung ausdrückt und Selbsterforschung und Selbstentwicklung mit dem Ziel der größtmöglichen Freiheit als oberste Maxime verfolgt.

Ein paar Zitaten mögen verdeutlichen was gemeint ist:
• Wirkliche Selbsterkenntnis hat etwas mit innerer Arbeit zu tun, die anstrengend und schmerzhaft ist; wirkliche Veränderung vollzieht sich unter Geburtswehen. Es gehört Mut dazu, diesen Weg zu gehen. (Enneagramm, Rohr/Ebert).
• Nicht wenig Elend und Verwirrung kommen daher, daß wir durch eigene Schuld uns selbst nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind. (Theresa von Avila)
• Viele unterschiedliche Faktoren kommen zusammen, prägen unser Inneres und verdichten sich zu dem , was wir in diesem Buch ”Stimmen” nennen. (Enneagramm, Rohr/Ebert).

Wie drückt sich dann spirituelle Arbeit aus?
Der Weg spiritueller Arbeit beginnt mit der Wahrnehmung innerer Regungen, die in der Regel nicht verstanden oder gedeutet werden können. Aus dieser Wahrnehmung heraus bildet sich eine Frage wie ”Warum ist das so, warum erlebe ich das so, warum empfinde ich das so…”. Diese Frage dann, die nicht beantwortet werden kann, weil sie auf unbewußte Prägungen deutet, verdichtet sich zu einer Problemstellung, der sich der Einzelne dann mit seinen Methoden und Möglichkeiten widmet oder der, weil er sich seiner Begrenzung offenbar wird, sich auf die Suche nach neuen, anderen Wegen begibt. Letztlich wird diese Frage zu einer mehr oder weniger umfassenden Antwort führen, die angesichts von unendlichen Möglichkeiten aber immer nur eine Stufe darstellt. Diese Stufen werden nach und nach erstiegen und führen nur sehr selten zu letztmöglicher Erkenntnis. Daher ist Offen-Sein und Offen-Bleiben ein Wesensbestandteil spiritueller Arbeit.

Drei Schritte
Es geht also darum:
• Die verschiedenen Regungen wahrzunehmen (die aus dem seelischen kommen),
• Diese zu erkennen, sie dann zu beurteilen in Bezug auf die Sinngebung und Entwicklung als fördernd oder behindernd (sie zu hinterfragen)
• Zu diesen Regungen Stellung zu beziehen und sie anzunehmen oder abzulehnen (die Problematik zu formen und eine, wenn auch oft nur vorübergehende, Antwort zu finden)

Grundsätze und Bedingtheiten
Bestimmend sind nachfolgenden Grundsätze und Bedingtheiten, die nahezu immer und in jedem System Gültigkeit besitzen:
• Wichtig ist eine Schulung der inneren Wahrnehmung sowohl körperlicher, geistiger als auch seelischer Prägungen und Ausdrucksformen
• Wichtig ist Offenheit gegenüber der Welt und Ehrlichkeit zu sich Selbst auf jeder Stufe und zu jeder Zeit
• Der Weg führt immer über die Frage- oder Problemstellung. Wichtig ist die richtige Frage zu stellen und nicht so sehr die Suche nach der oder einer Antwort
• Der Weg beinhaltet Fort- und Rückschritte, ist in der Regel weder linear noch stufig und führt wechselnd durch Freude und Leid, erfordert daher Geduld, Konsequenz und Mut.
• Der Weg zur Freiheit ist eine Lebensaufgabe, ist immer und für jeden ein Neuer und muß letztlich allein (Hilfestellungen erfahrener Menschen sind hilfreich, aber nicht genügend) gegangen werden.

Der dritte Schritt: Die konsequente Analyse
Erst wenn wir gelernt haben ,unvoreingenommen zu schauen und wahrzunehmen, und wenn bereit sind, offen und ohne Berücksichtigung des voraussichtlichen Ergebnisses dieses Wahrgenommene miteinander in Beziehung zu setzen, können wir beginnen, unser in der Welt sein zu analysieren. Und obwohl jede Wissenschaft und jede Lehre Regeln vorgibt für diese Arbeit, letztlich darf alles gedacht, alles in Beziehung gesetzt und alles angezweifelt werden, denn im Denken allein ist der Mensch frei und hier bedarf es keinerlei Regeln. Alle Erfinder, Entdecker und alle Propheten verstießen gegen die gültigen Regeln ihrer Zeit. Warum sollten wir uns also solchen unterwerfen? Nur konsequente Analysen überführen unsere falschen Vorstellungen, und wir bedienen uns aller ethisch-akzeptablen (ethisch, nicht moralisch !) Mittel und Techniken, die nützlich und fördernd sind.
Einige der möglichen Aussagen, die so verifiziert werden können und müssen, sind nachfolgend aufgelistet. Sie sind wichtig, um die folgenden Definitionen zu begründen:
• Der innere Zeuge (die Seele, Atman, …) muß (kann nur) unsterblich sein.
• Der Mensch ist der Gestalter seiner Freiheit, er ist willentlich frei.
• Es gibt ohne jeden Zweifel die Notwendigkeit eines Prinzips ”Gott”.
• Existenz, Zeit und Raum sind keine festen Wesenheiten, fest sind sie nur, solange sie begrenzt gedacht werden.
• Unser Denken ist in Relativität und Dualität gefangen und begründet.

Die Definition:
Spiritualität gehorcht in letzter Konsequenz keinen Regeln und Lehren. Sie ist so frei wie der Mensch, der sie lebt. Spiritualität ist individuell und unpersönlich.

Diese Formulierung ist allerdings kein Freifahrtsschein und unterliegt in jedem Fall dem Gebot der Ethik. Der Mensch als lebendes Wesen ist nicht allein auf dieser Welt. Ein Zitat mag das oben gesagte stützen oder belegen:

Buddha (Kalamas Sutra):
Glaube nicht an das, was du gehört hast; glaube nicht an Traditionen, weil sie durch viele Generationen überliefert wurden, glaube nicht an etwas, weil es von vielen gemunkelt oder gesagt wird, glaube nicht, nur weil die schriftliche Aussage eines alten Weisen vorgelegt wird, glaube nicht an Mutmaßungen, glaube nicht bloß an die Autorität deiner Lehrer oder Älteren.
Nach Beobachtung und Analyse, wenn es mit der Vernunft übereinstimmt und es zum Guten und zum Nutzen eines oder Aller führt, dann akzeptiere es und lebe danach.

Die Unterscheidung von Wahrheit und Lehre
Eine Redewendung sagt: ”Es gibt viele Wahrheiten, aber nur eine Wahrheit.”, und diese eine Wahrheit ist nur gültig für dich allein. Jeder Mensch besitzt seine ihm eigene Wahrheit, und diese ist lediglich abhängig vom Sein, vom Selbst des Einzelnen. Hier in richtig und falsch, gut oder schlecht, fördernd oder hinderlich zu unterscheiden, widerspricht der Spiritualität selbst. Es gibt sicherlich Zeiten und Umstände, die das Befolgen einer Lehre nötig und auch hilfreich sein lassen, in letzter Konsequenz kann daran aber nicht festgehalten werden. Jede Tradition einschließlich der westlichen Wissenschaften und der östlichen Weisheitslehren belegen dieses. Sie betonen immer wieder die Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst. Das Individuum kann sich letztlich nur selbst befreien und selbst zu dem werden, was es letztlich schon immer ist.

Grundsätze der Freiheit:
• Freiheit geschieht und wächst nur in einem ethisch hinterfragenden Rahmen
• Alles ist denkbar und alles darf in Frage gestellt werden.

Der vierte Schritt: Die Integration
Wir haben gearbeitet, neue Erfahrungen gemacht und haben Türen geöffnet, die zu anderen Bewußtseinserfahrungen führen, geführt haben oder führen können. Dies alles muß integriert werden in das Lebensgefüge, das sich im Individuum als ”Ich” zusammengesetzt sieht. Dies bedeutet Opfer, denn so manche liebe Gewohnheit und so manche einfache Vorstellung ist mit dem Neuen nicht zu vereinbaren. Und auch unsere häufige Neigung, Altes einfach abzulegen und Neues einfach anzunehmen, kann hier nicht als Integration gelten. Wirkliche Integration umschließt das Alte, integriert das Neue und formt daraus ein neues Gefüge. Dieses Gefüge ist in aller Regel einzig in seiner Art und daher ungewohnt, mit Schwierigkeiten beladen, und es gibt kein Buch zum Nachschlagen, keinen Helfer, der uns Anweisungen gibt und keine Lehre, die uns vorzeichnet, wie dieses Neue zu leben ist. Kurz gesagt, wir sind allein in unbekanntem Land. Eine gelungene Integration hält auch immer eine Überraschung für uns bereit, denn immer entsteht unvorhersehbar Neues.

Die Definition:
Spiritualität führt zur Integration, wobei das Neue das Alte einschließt und die Summe beider überstiegen wird. Diese Integration schafft ein vollständig neues Lebensgefüge mit neuen, bisher unbekannten Wesenheiten.

Das neue Lebensgefüge:
Wer kennt die Probleme nicht, die eine Veränderung der eigenen Persönlichkeitsstruktur in der Umwelt hervorruft? Wir leben nicht allein, sind eingebunden in ein weitreichendes Netz von Verbindlichkeiten und Beziehungen. Und nun verändern wir uns, entwickeln neue Ideen, neue Ansichten und Wertvorstellungen, neue Gewohnheiten und dergleichen. Unsere Mitmenschen stehen solchem in der Regel nicht allzu offen gegenüber, und wir werden viel Kraft und Einsatz aufwenden müssen. Einzig der Kontakt zu Gleichgesinnten kann hier eine leichte Hilfe sein. All das sollte uns nicht schrecken, und wir sollten Geduld für unsere Umwelt mitbringen. Integration geschieht einfach, wenn die Bedingung erfüllt ist, und das neu Entstehende wird uns Wege und Möglichkeiten aufzeigen, mit der wir unsere Umwelt versöhnen. Was wir brauchen ist Vertrauen, Vertrauen in uns selbst, in die Welt und den Sinn darin.

Der fünfte Schritt: Die Transformation
Du triffst alte Freunde von früher, ihr unterhaltet euch, und irgendwann wirstt du mit der Aussage konfrontiert: Mein Gott, ich erkenne dich gar nicht wieder…Du hast dich verändert…Du bist ganz anders, als ich dich in Erinnerung habe… So oder ähnlich werden Freunde unsere Wandlung beschreiben. Aber du selbst fühlst dich nicht verändert, ja ganz im Gegenteil, du fühlst dich genau wie immer schon, nur die Kreise der Welt, in denen du dich bewegst, haben sich, so glaubst du zunächst, verändert. Und doch, irgendwann, kannst du die Veränderung in dir auch vor dir selbst nicht mehr verstecken, und du wirst einsehen müssen, das vieles von dem, was in dir wirkt, mit deinem Fühlen nicht mehr übereinstimmt. Und du wirst Gewohnheiten ablegen, Bindungen lösen und neue, andere Beziehungen knüpfen. Auch dieser Prozess geschieht einfach, wenn du bereit bist, es auch geschehen zu lassen und schon bald wird dieses sich verändern zu einer Gewohnheit, die in dir ohne dein Zutun geschieht. In diesem Moment wird deine Transformation abgeschlossen sein und du bist, ohne dein Wissen, neu geboren.

Die Definition:
Der/die spirituell Praktizierende unterliegt einer permanenten Transformation, einer Wandlung, die ohne sein/ihr Zutun und ohne Ziel und Wissen von selbst geschieht.

Man könnte die Transformation auch beschreiben als die konsequente und stetige Anpassung an die Welt. Aber diese Formulierung ist nicht zutreffend. Spiritualität ist die Anbindung an die Gesetze des Kosmos, nicht an die Gesetze der Welt. Wir kennen die Gesetze des Kosmos aber nicht, kennen nicht deren Sinn. Daher ist es erforderlich, vollkommen offen zu sein, uns also leiten zu lassen, aber das alles ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Menschsein bedeutet auch, an die Begrenzung und Möglichkeiten menschlicher Existenz gebunden zu sein. Das darf niemals vergessen werden. Geduld und das rechte Maß an Mut, aber auch an Vorsicht sind nötig, um diese Bedingungen zu erfüllen. Wir können vergleichen, uns ein Beispiel nehmen, wir können unsere Phantasie und unser Denken einsetzen, wir können unsere Träume interpretieren und viele andere Möglichkeiten der Erkenntnis nutzen, alle diese Möglichkeiten sind nützlich und wirksam. Trotzdem, jede von ihnen ist aber auch begrenzt und einseitig. Das Wissen um diese Unvollkommenheiten ist unsere einzige Sicherung. Wir sollten uns dieser immer wieder vergegenwärtigen, diese immer wieder in uns wachrufen, damit wir nicht wieder einschlafen und so vom Wege abkommen.

Zusammenfassung
Was also ist Spiritualität letztlich. Können wir aus der Sammlung der Schritte eine neue Definition für Spiritualität formen, die allen Glaubensrichtungen und Weltsichten angemessen gegenübertritt?

Die fünf Schritte im Überblick:
1. Spiritualität ist das Gewahrsein des Zeugen in dir. Ausgehend von der Erfahrung der Anwesenheit eines Teils deiner selbst, der unberührt und unbeteiligt alles Geschehende beobachten kann, gelangst du zur Erkenntnis, mehr zu sein als dieser Körper und dieser Geist.
2. Spiritualität ist ein Zustand mentaler Offenheit, der sich in Denken, Wort und Handlung ausdrückt und Selbsterforschung und Selbstentwicklung mit dem Ziel der größtmöglichen Freiheit als oberste Maxime verfolgt.
3. Spiritualität gehorcht in letzter Konsequenz keinen Regeln und Lehren. Sie ist so frei wie der Mensch, der sie lebt. Spiritualität ist individuell und unpersönlich.
4. Spiritualität führt zur Integration, wobei das Neue das Alte einschließt und die Summe beider überstiegen wird. Diese Integration schafft ein vollständig neues Lebensgefüge mit neuen, bisher unbekannten Wesenheiten.
5. Der/die spirituell Praktizierende unterliegt einer permanenten Transformation, einer Wandlung, die ohne sein/ihr Zutun und ohne Ziel und Wissen von selbst geschieht.

Versuchen wir jetzt also eine Synthese, eine Zusammenfassung des oben gesagten. Nehmen wir zunächst einmal an, dass ”das Zeuge sein”, dass ”die Offenheit, Selbsterforschung und Entwicklung” nur Stufen sind, technische Begriffe einer Entwicklung, so bleiben ”Freiheit, Integration und Transformation”, die in sich wiederum eine Entwicklung darstellen, also ebenfalls Stufen sind. Fassen wir beide Gruppen zusammen und bilden wir daraus Bedingung und Wirkung, so können wir nachstehendem Ergebnis gelangen:

Die Definition:
Spiritualität ist ein Weg der Selbsterforschung und Selbstentwicklung, dessen höchstes Ziel die Verwirklichung der höchstmöglichen Freiheit des Menschen bedeutet und diese in Permanenz und Reinheit zu erhalten sucht.

Freiheit ist hier zu verstehen in dem Sinne, das die Freiheit des Einen nicht die Unfreiheit des anderen bedeuten kann, sondern Freiheit umschließt alles Lebendige, ist universell. Es gibt nur eine einzige Freiheit, und diese (des Einen) kann neben Unfreiheit (des Anderen) nicht existieren.
Selbsterforschung und Selbstentwicklung ist die Aufgabe jedes Einzelnen. Nur das Individuum kann diese Maxime für sich selbst vollbringen, und so unterliegt auch die Entscheidung, welcher Weg und welche Maßnahme zur Erfüllung führt, stets dem Einzelnen. Kein Mensch, auch der Weiseste nicht, kann diese Verantwortung für einen anderen übernehmen.
Die größtmögliche Freiheit ist immer nur ein Zustand des Augenblicks, und sie kann auf Dauer nicht in festgefügten Formen existieren. Daher erfordert Permanenz und Reinheit dieses Zustandes ständige Anpassung, Entwicklung und Veränderung. Freiheit ist eine höchst subtile Eigenschaft, ist sehr lebendig und beweglich. Kein Wort, kein Begriff und keine Lehre kann sie letztgültig beschreiben. Sie ist neu in jedem Augenblick.




Die negative Emotion und Yoga

Wenn sich Menschen heute über Yoga unterhalten, spielen Emotionen entweder keine oder eine ausschließlich positive Rolle. Das ist bemerkenswert, werden Emotionen doch weitestgehend unbewusst abgestrahlt und bilden ein Gefüge, dass sich auf Erfahrungen, Ansichten und Erlebnisse vergangener Lebensjahre bezieht und können daher selten ausschließlich positiv besetzt sein. Ich möchte mir daher die Frage stellen, woher einerseits dieser Ausschluss kommt und andererseits, ob diese Ansicht richtig ist und nach welchem Prinzip dabei die negativen Motive ausgeblendet werden können. Dem Klischee zufolge dämpft Yoga die Emotionalität der negativen Form und fördert positive Motive. Wie kann es aber sein, dass in der gleichen Lebenswirklichkeit Yogaübende sich überwiegend positiv angesprochen fühlen, während die große Zahl der Nichtübenden durchwachsene Erfahrungen machen müssen.

Nun könnte eine Ursache für diese Grundhaltung in einem religiös geprägten Weltbild zu suchen sein, in dem wie zum Beispiel im Katholizismus der ketzerische Gedanke eine Sünde ist und darum tabuisiert wird. Dann wären Aussagen, die negativ zu werten sind, eine Verfehlung und würden unter ein Selbstverbot fallen. Bei religiös motivierten Menschen müssten neben Tabuisierungen dieser Art noch andere Motive auftreten. So sind hier ritualisierte Handlungen (Gottesdienst, Gesang und Anrufung von Gottheiten) zu nennen, Ge- und Verbote (Essvorschriften, Alkoholverbot usw.), Kleidungsvorschriften (nur indische Kleidung) oder Zugehörigkeitssymbole (Om-Anhänger, Mala) und ähnliches. Wo ein oder mehrere Motive dieser Aufzählung regelmäßig praktiziert oder angetroffen werden, könnten ein religiöser Hintergrund im Yoga und darum ein Denkverbot bezüglich Negativität durchaus eine Rolle spielen.
Eine weitere Möglichkeit der Überbewertung positiver Motive und damit verbunden ein Ausschluss oder eine Ächtung negativ besetzter Emotionen kann in der gesellschaftlichen Grundausrichtung liegen, die heute als maßgebliche Norm zunehmend angetroffen wird. So beschreibt zum Beispiel der deutsche Philosoph Han in seinen Büchern, das Positivität als alleiniges Merkmal des Mainstream eine Gleichschaltung innerhalb der Gesellschaft bewirkt, weil die fehlende Negativität ihre ausgleichende Kraft nicht mehr wahrnehmen kann. Der/das Andere verliert damit sein Anders-Sein. Anders-Sein-Können aber ist eine der Grundlagen für Liebe und Mitgefühl. So ließe sich auch die zunehmende Entsolidarisierung innerhalb der modernen Gesellschaften und der Werteverfall erklären, der mehr und mehr um sich zu greifen scheint. Die Ablehnung von Negativität bei Yogaübenden wäre dann damit zu erklären, dass Yogaübende als Anhänger multikultureller Praktiken sozusagen die Speerspitze des Mainstream darstellen.
Ein mögliches drittes Motiv für die fehlende Negativität im Yogabereich wäre in der psychologischen Tatsache begründet, dass Yoga ein Übungsweg ist, durch den negative Denkmuster in positive umgewandelt werden sollen oder können. Gelingt dieses nicht, so war die Übungspraxis nicht ausreichend ausgeformt und müsste erweitert oder verbessert werden. Auftretende Negativität wäre damit persönliches Versagen, das entweder versteckt oder sogar verdrängt werden müsste, sollte das Selbstwertgefühl nicht Schaden nehmen.  Verstärkt wird dieses  Motiv durch die weit verbreitete Auslegung der Yogalehre (Bhakti), das negative Gedanken dem Übungsweg abträglich seien und daher vermieden werden müssen. Sie würde faktisch die schlechte  Welt erzeugen durch ihr bloßes Vorhandensein.
Drei Motive, drei Muster, warum der negative Gedanke in der westlichen Yogawelt so selten vertreten ist. Nun gibt es in den Schriften des Yoga durchaus Negativität. Häufig zu finden ist zum Beispiel eine Beschreibung, die sich mit den Worten „nicht dieses, nicht jenes“ verallgemeinern ließe. Der Yogi wird darin angehalten, durch Ausschluss des Falschen letztlich das Eine (Richtige) und damit das Gute (Erleuchtung) zu finden. Besonders in der Meditation ist dies nahezu die einzige Methode einer Übungspraxis. Durch Verbrennen des Karma, also der Vernichtung der negativen Motive in Erinnerung, Erfahrung und Erziehung (Indoktrination, Dressur, Schleier) wird die Seele gereinigt, geläutert und befreit.
In meiner Vorstellung ist die Ablehnung von Negativität weder möglich noch sinnvoll. Und diese Ansicht gilt nicht nur für die Zeit mit Yoga, sondern für alle Bereiche des Lebens einschließlich Partnerschaft, Familie und Arbeitswelt. Das Negative ist das andere, das nicht ich ist, das ebenso leben möchte wie ich, tätig sein möchte wie ich und frei sein möchte wie ich. Und meine Reaktion darauf kann sich nur in zwei Motiven ausdrücken: Liebe und Toleranz. Geliebt werden kann nur das Andere, und was ich nicht lieben kann muss ich zwangsläufig tolerieren. „Tolerare“ heißt ertragen, erdulden, und das sind negativ besetzte Begriffe. Lieben kann ich nur dann, wenn ich den Anderen in mir trage, mich selbst aufgegeben habe und mich durch ihn wiederfinde. Alles andere muss erduldet werden, muss ertragen werden, und so komme ich doch um die Einsicht nicht herum, dass das Negative wie das Positive zu dieser Welt gehören wie Wasser und Luft. Weder die Übermacht des Einen noch die des Anderen kann das Gleichgewicht bewahren, dass notwendig ist, um auf dieser Welt mit seinen unzähligen Bewohnern zu bestehen. Ich selbst stelle mir das vor wie Yin und Yang. Es sind zwei Motive, die eine Polarität bilden, wo das Eine nicht ohne das Andere sein kann. Ohne Negativität ist Positivität nicht möglich. Die Forderung, nur noch positiv zu denken und Negatives auszuschließen ist genau so absurd wie ein bisschen leben. Du lebst oder du bist tot? Dazwischen gibt es keinen Raum? Ohne Leben gibt es keinen Tod und ohne den Tod gibt es kein Leben.
Wir sollten die Negativität und damit auch die negativ besetzte Emotion nicht ablehnen. Ein erfülltes Leben braucht beide Seiten. Und auch dann, wenn die Emotion im negativen Gewand erscheint, aggressiv erscheint, können wir immer noch  „tolerare“ anwenden, es einfach ertragen. Wer ohne Fehl ist werfe den ersten Stein. Ich fürchte, wenn es ehrlich zuginge, werden sich nur einige wenige Werfer einfinden, und die werden bestimmt keine Steine werfen wollen, denn sie sind frei und haben den Weg bereits bewältigt, den viele Andere gerade erst begonnen haben zu gehen. Frei sein hieße Steine zu haben, sie aber (überwiegend zumindest) liegenlassen zu können, anstatt mit ihnen nach Anderen zu werfen. Steine aber gänzlich abschaffen zu wollen ist kein gangbarer Weg! Ohne das Spannungsfeld zwischen positiv und negativ gibt es kein Gefälle (das Energie erzeugt), keine Emotion und damit auch kein Leben.