Beweglich statt gesund und Akrobatik statt Haltung?
Wir leben heute in einer Zeit, in der Spirit(ualität) eine Chance hat, sich auszubreiten und etwas zu bewirken. Yoga, Meditation, Langsamkeit, Achtsamkeit und Konzentration ist in aller Munde, wird millionenfach praktiziert und sollte langsam doch auch greifen!? Diese Hoffnung motiviert mich jetzt schon seit zwanzig Jahren, und wenn ich die Augen öffne, soweit wie möglich vorurteilsfrei schaue sehe ich eher das Gegenteil eintreten. Die Menschen werden mehr und mehr zögerlich, sind zunehmend abgelenkt, bringen einfach erscheinende Dinge nicht mehr zusammen und zeigen sich hilflos und verwundbar.
Die Medien nennen diese Neigung meist Angst, stellen diese dann als unbegründet dar und verstehen nicht. Liegt das jetzt auch in der großen Beliebtheit von Praktiken wie Yoga und Mediation und deren Struktur begründet? Oder sollten wir die Ursachen nicht doch besser bei der Unfähigkeit der Menschen suchen, Erkenntnis praktisch umzusetzen, und die nicht mehr verstehen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie leben. Diese Frage so gestellt wirkt auf mich wie die Gesellschaftsfrage, ob denn Revolution oder Resignation (laufen lassen…) der richtige Weg sei, eine Verbesserung herbeizuführen. Die Frage ist in meiner Auffassung nach einfach falsch gestellt und die Methoden, die dabei zu einer Be- oder Verurteilung anstehen, werden einfach nicht verstanden. Yoga und Meditation sind die Techniken, mit denen ich mich beschäftige. Lassen Sie mich daher an deren Beispiel etwas zu Klärung der Problemstellung beitragen.
Wenn ich mit Yogaaktivisten spreche oder über Yoga lese, habe ich manchmal den Eindruck, man setzt ganz allgemein beweglich mit gesund und Akrobatik mit Haltung gleich. Das stimmt aber so nicht. Yogaübende werden sicherlich feststellen, dass sie im Laufe der Übungsjahre zunehmend beweglicher werden. Das ist richtig. Doch das ist nicht das Ziel der Übungen, sondern ist mehr kollateral zu sehen. Yogaübungen sollen unter anderem auch von Verspannungen befreien, richtig. Sie sollen andererseits aber auch gesunde Spannungen – ich nenne das Tonus – erhalten, denn diese sind wichtig für ein erfülltes Leben. Hier ist das Maß die Mutter aller Dinge. Und dieses Maß ist individuell unterschiedlich und kann daher nicht über einen Kamm geschoren werden. Die meisten Menschen kommen mit einer durchschnittlichen Beweglichkeit ganz gut zurecht. Sie möchten schmerzfrei und leicht die Dinge tun können, die ihnen vorschweben und die sie glücklich machen. Die Intention zu üben (die Absicht, wegen der eine Übungspraxis ausgeführt wird) ist von der Beweglichkeit her bei einem Balletttänzer sicher anders ausgeprägt als bei einem Schachspieler. Daher stellt ein Yogalehrer seinen Kursteilnehmern auch oftmals die einfache Frage: Wohin und was genau willst du? Schmerzfreiheit ist eben anders zu erreichen als ein Sitzen-können im Lotus. Natürlich sind es immer die gleichen Übungen, die verwendet werden können. Aber die Intension (die Intension eines Begriffs ist die Menge der Merkmale, durch die die Übung charakterisiert wird), die der Übung beigemessen wird, ist dafür anders ausgelegt. Der Balletttänzer wird eine hohe Beweglichkeit und Leichtigkeit in der Bewegung beabsichtigen, der Schachspieler möchte eher lang und stabil sitzen können wollen. Bei beiden ist die Konfiguration (Zusammenstellung) der Elemente ganz unterschiedlich zu gestalten. Gesund ist eine ausreichende Prägung von Spannung und Beweglichkeit für das im Alltäglichen zu führende Leben.
Ein ähnliches Bild entsteht bei der Betrachtung der Begriffe Akrobatik und Haltung. Für mich ist die äußere Form der Ausführung keine Haltung, sondern eine Pose (bewusst eingenommene Stellung des Körpers, um ein bestimmtes Ziel damit zu erreichen), die in ihrer Wirkung zu Haltung (innere Einstellung; die Verfassung, das Auftreten) führen kann. Hier ist die Pose praktisch das Akrobatische und die innere Einstellung die Haltung. Akrobatische Posen zu beherrschen ist ein wunderbares Hobby, weil hier Demut (Scheitern können) und Hartnäckigkeit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gelernt und verbessert wird. Aber sicher nicht alle Yogaübenden wollen ihr Tun so als Hobby bestreiten. Viele kommen wegen physischer oder psychischer Defizite erstmals mit Yoga in Berührung, andere wollen vorbeugen oder einfach nur unter freundlichen Menschen sein. Dafür erscheint Akrobatik doch mehr fehl am Platze. Natürlich möchte ein Yogi irgendwann sicher auf dem Kopf stehen oder seine Beine im Lotus falten können, aber ersteres erfordert Belastungsgewöhnung und letzteres ausreichende Dehnung. Beides ist aber mit immerwährender Leichtigkeit und Entspannung allein nicht erreichbar.
Wo wir in Yoga und Meditation -welche zu Yoga gehört wie Asana- zu deren positiven Wirkungen hinarbeiten ist Haltung im oben genannten Sinne. Das beschränkt sich, worauf der Begriff innere Einstellung schon hindeutet, nicht allein auf das korrekte Ausführen der Pose, sondern ist eine Gesamtansicht der Intention samt Intension und Haltung nach vorheriger Definition im gesamten Lebensgefüge des übenden Menschen, das heißt: 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr und angepasst an wechselnde Körperkonstitutionen, an das ansteigende Lebensalter und natürlich das Geschlecht. Da ist oftmals auch Genügsamkeit gefragt, denn wir haben nur einen Körper für ein Leben. Wenn wir ihn zerstören oder verderben, ist ein glückliches Bewohnen desselben nicht wahrscheinlich. Ich empfehle allen, die sich mit Yoga beschäftigen, sich darüber klar zu werden, warum sie das tun. Wenn sie die dabei mögliche Akrobatik einfach nur geil finden und sich dabei sauwohl fühlen, schön, etwas Haltung bleibt sicherlich hängen. Auch das ist Klarheit. Alle anderen müssen sich überlegen, wie sie die Übungen im Inneren ausgestalten müssen, um ihre Absicht in der Wirklichkeit auch näherzukommen.
Dazu gehört dann auch eine eventuell aufschäumende Einsicht, im Leben etwas grundlegend verändern zu müssen, umzusetzen. Dazu wird in anderen Beiträgen jetzt schon oder auch später mehr zu finden sein.