Es ist schon seltsam! Ein geplatzter Seminartermin, und die Notwendigkeit, den beantragten und noch ausstehenden Urlaub zu nehmen, und ein sehr oft gehegter Wunsch, Zeit für sich zu haben, nicht arbeiten zu müssen und ganz aus der Pflicht zu sein, erfüllt sich für gut Dreißig Tage. Und seltsam daran ist, dass es sich ganz anders darstellt, als die naive Phantasie sich das so dachte.
Ja klar, ausschlafen, nach drei Tagen ist das erledigt, die vor sich hergeschobenen Erledigungen tätigen, nach fünf Tagen sind sie vollbracht, den Haushalt in Ordnung bringen und den Schreibtisch aufräumen, ganze zwei Tage hat das gedauert, und alles, was wichtig erschien, löste sich schon bald auf. Und dann kommt die Leere, und der unruhige Geist sucht nach Beschäftigung, und diese Beschäftigung, und das ist seltsam, soll sich nur in Handeln ausdrücken, in Tun. Ich dachte, jetzt ist es soweit, jetzt, wo alles erledigt ist, wo ich ausgeschlafen bin und nichts mich drängt, ja jetzt kann ich mich mit dem beschäftigen, was ich sonst aus Erschöpfung nicht konnte: Jaspers, Kant, Spiritualität… Nichts dergleichen geschieht, der Geist verlangt Handeln, und er sucht nach diesem. Der Kauf von etwas, was in Gedanken folgerichtig und vernünftig ins neue Jahr verschoben werden sollte, taucht immer wieder auf, und ich ertappe mich bei dem Gedanken: „Jetzt hole ich es…“. Und trotz des Wissens, dass gerade jetzt in dieser hektischen Zeit Freunde und Bekannte keine Zeit für mich haben können, weil sie arbeiten müssen, weil Weihnachten vor der Tür steht, Jahresende ist, ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Jetzt ruf doch an… oder schreibe eine Mail… oder fahre hin…“. Und das Buch von Jaspers, kaum aufgeschlagen, wandert zurück ins Regal. Und der Drang, zu tun, treibt mich durch die Wohnung, und das Bild des eingesperrten Pumas aus dem Opel-Zoo taucht in mir auf, der seinen Käfig abschreitet und nicht versteht, weshalb und warum diese Gitter ihn beschränken.
Auf einem Meditationsseminar wollte ich jetzt sein, zehn Tage der Stille, der Zurückgezogenheit und der Selbstreflektion wollte ich dort erleben, wo ich schon einmal war und wo dies ganz leicht ist, hinter den Mauern eines Klosters und in einem genau geregelten Tagesablauf. Fünfzig Menschen bilden eine Gruppe, in der jeder für sich allein eine vollkommen durchplante Zeit erlebt, sich in einem vollkommen geschützten Rahmen bewegt. Mein Gott, wie wenig hat das doch mit der Wirklichkeit zu tun. Auch hier Zuhause habe ich die Stille, kann ich zurückgezogen sein und einen geregelten Tagesablauf gestalten. Nur die Dynamik der Gruppe scheint hier zu fehlen, der geschützte Rahmen der Institution, die mich betreut, fehlt…. Aber das kann doch nicht alles sein, denn all das ist nicht wesentlich oder Zuhause nicht notwendig. Ich lebe allein, niemand stört mich, der Kühlschrank ist voll, und Bücher gibt es in Hülle und Fülle, und viele sind darunter, die ich mir gerade für solche Tage angeschafft habe. Auch hier kann ich den Alltag ausschließen, mir einen Plan machen, und… Also was ist es, was wirklich fehlt hier Zuhause, oder was ist hier, was dort im Kloster nicht ist?
Dies zu erkennen, hat lange gedauert, fast schon zu lange, fünf lange aufregende Tage waren dazu notwendig: Der geregelte Tagesablauf und der geschützte Rahmen nimmt dem Eingebundenen nur dies eine: nämlich seine eigene persönliche Freiheit. Die Freiheit, zu gestalten, zu verändern, sich anders auszurichten oder etwas ganz anderes zu tun, als das, was vorgegeben ist oder vorgegeben sein sollte. Das letztlich ist das, was Zuhause möglich ist und dort nicht. Und diese Freiheit äußert sich in dem Drang, zu handeln, dem Drang zu schreiben, zu kaufen, zu besorgen, zu erledigen , umzuräumen, anzustreichen, noch dies zu… noch das zu… und weiter zu… Einfach nicht zu handeln, obwohl ich könnte, einfach zu sein -und genau das wäre notwendig dafür, die Gedanken eines anderen zu verstehen, ihm ganz zuzuhören, ihn ganz aufzunehmen, ihn ganz zu Ende erzählen zu lassen-, ja, das genau wäre die Voraussetzung, um Jaspers lesen zu können, Kant lesen zu können und auch, um in dieser Zeit spirituell sein zu können.
Wie wenig sind doch in der Lage, unser eigenes kleines Leben in Freiheit zu gestalten. Sich einfach hinsetzen, die Welt, also das Gewesene und das Sein-Sollen für ein paar Stunden nur zu vergessen, um in den Gedanken eines anderen zu baden, wenn schon dies schwer ist, wie schwer mag es dann sein, zu verändern, was Vergangenheit und anderes uns aufgeladen haben. Wenn fünf Tage notwendig sind, um dieses einfache, wirklich simple Prinzip zu verstehen, wie steht es dann um all die anderen, viel komplizierter uns erscheinenden Dinge? Wieviel Tage werden wir wohl dazu brauchen, zu erkennen, welches Prinzip uns hierhin und dorthin treibt? Und eines erscheint mir jetzt klar und deutlich: Nicht allein die Übungen im geschützten Rahmen bringen uns voran, sondern erst die Übertragungen der Übungsinhalte in den Alltag sind es, die letztlich zur Einsicht führen. Beide sind notwendig, um zu erkennen, denn der geschützte Rahmen bildet nur den Anfang, den Impuls, das Übertragen aber in die Alltäglichkeit bildet den Schritt, der uns vorangehen läßt, und nur so wird letztlich ein Schuh daraus. Und so lehrt das geplatzte Seminar, was das Seminar selbst mich nicht lehren könnte: Alltäglichkeiten zu erkennen und sie auch zu leben.