Die Arbeit des Yoga

Der Mensch ist nicht rational, das Denken ist rational. Der Mensch aber ist das, was er immer schon war: Liebesfähige Natur. Aber Liebe, die sich in Begierde allein äußert, Liebe die nur festhält oder sogar abstößt, oder sich gar ausdrückt in Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, ist nicht in ihrer Natur, sondern in einer erlernten Fähigkeit begründet, ausgelöst durch einen Mangel an Bewusstsein. Jeder Mensch geht zwangsweise durch diesen Mangel, denn im Beginn des Menschseins wird dieser durch beginnendes Denken begründet.

Yoga ist die Arbeit an diesem Mangel. Das Ziel ist, den Mangel zu überwinden, und liebesfähig und natürlich zu sein in Leben und Denken




Baden des Wechsel der Stimmungen

Baden in Wechsel der Stimmungen ist ein Gedicht aus dem Jahre 1999.

Sie wechseln, die Zeiten des Friedens und der Unruhe, und häufig gestaltet sich deren Übergang in fließender und unmerklicher Intensität, und dann empfinde ich Verwirrung, dann ist mein So-sein nicht stimmig.

Der Frieden selbst ist erhaben, und eine tiefe Ruhe durchströmt mein Gemüt, unmerklich fließt eine Tätigkeit in die nächste, kein Wanken, keine Fragen, nur Sein.

Der Übergang dann ist fließend, und wärmende Ströme in Körper und Kopf signalisieren den Wechsel in eine andere Stimmung. Langsam bemächtigt sich Unrast der Sinne, und Bewegungen und Gedanken entstehen ohne Ziel.

Dann plötzlich ist sie da, diese Stimmung, die mich keine Ruhe erfahren lässt. Sie wühlt in Körper und Kopf, sucht und findet nicht, macht das Innen zum Außen.

Einen Tag lang, vielleicht zwei lassen drückende Wahrnehmungen mein Herz erschauern, und dann, wie in nur einer einzigen Sekunde nur, kehrt eine warme und wohlige Stimmung in den Geist zurück.

Und dann gibt es wieder ein Innen und es gibt wieder ein Außen, und obwohl beide nicht harmonieren, bestehen sie in friedlicher Eintracht nebeneinander, lassen sie mich im Widerspruch Harmonie erfahren.

Es ist schwer zu akzeptieren, dass diese Wechsel einen Sinn, eine Aufgabe erfüllen. Aber das Wissen darum ist es letztlich, das reibt, das mein Menschsein ausmacht, das mir den eigentlichen Grund gibt von innerer Kraft und Stärke.




Es gibt viel nachzudenken…

Es gibt viel nachzudenken, denn die Stimmungsfarben der Erinnerung verblassen mehr und mehr und mit den Jahren kommt die Zeit der Aufgaben immer näher. Aufgaben sind aufzuarbeiten, solange die Farben noch leuchten und nicht im Dunkel des damals versinken, und aufarbeiten heißt aufgeben. Die Neigung, festzuhalten ist mächtig, Energie und Raum sind zwar unendlich im Sein, aber begrenzt für ein Wesen. Somit erfüllt eine Aufgabe immer beide Perspektiven der Begrifflichkeit, die stets mit lösen beginnt und die mit davon sich lösen endet. Dualität und Begrifflichkeit sind mächtige Werkzeuge des Denkens, aber sie haben immer mehrschneidige Kanten. Denken wie es vorherrscht bevorzugt die Reflexion der Vergangenheit, die über die Gegenwart in die Zukunft projiziert. Und spätestens dieser Satz trennt die Inhalte des Denkens in mindestens zwei Portionen. Da ist einerseits das Wissen, das ganz klar Bilder, Schlussfolgerungen, Ableitungen und Formel aufweist und einen Blick in die Zukunft zulässt, und da ist die Erfahrung, die stets nur gegenwärtig gelebt werden kann und unablässig der Veränderung unterworfen ist.

Wissen und Erfahrung sind nie in Reinform vorhanden, sondern treten stets durchmischt auf. Zweitausendfünfhundert Jahre Philosophie-Geschichte legen Zeugnis davon ab, das Reinformen nicht verwirklichbar sind. Und hier sehen wir auch, welche Steine dem nur schlussfolgernden Denken einerseits und dem rein intuitiven Denken andererseits in den Weg gelegt sind. Wenn aber immer nur Mischformen vorliegen, muss es immer irgendwo eine Schwelle geben, wo erinnern und erfühlen ineinander fließen. Diese Schwelle zu finden jeden Tag aufs Neue ist eine erste, individuelle Aufgabe, die zu lösen ein sich zu lösen ermöglicht. Erfahrung zeigt sich in vielen Formen. Die einfachste Form ist die des Lebens an sich, die im Todeskampf und im Lebenswillen sich äußert. Gewaltig, unerbittlich wird hier Wissen und Erfahrung der Vergangenheit ignoriert zugunsten neuer, vollkommen unerprobter Verhaltensweisen. Sucht und das was wir so nennen zeigt immer in diese Richtung, und wir alle sind süchtig, sei es nach Leben, nach Atem oder Nahrung, nach Rausch, Betäubung oder Freiheit. Sucht so gedacht ist mächtiges Wissen von Erfahrung in Form eines Stromes, der sein Bett schon gestaltet hat, unaufhaltsam, reißend, vorhersehbar. Ganz anders zeigt sich die Stimmung, die, obwohl ebenso getränkt von Wissen und Erfahrung, bei Regen als Fluss und bei Trockenheit als Rinnsal, keine konstante Strömung und Kraft aufweist. Hier verschiebt sich die Schwelle, aufgrund welcher Kraft auch immer, als ein Anschwellen und Erblassen. Es ist das Veränderliche in der Stimmung, die uns zu schaffen macht, die mal aufrütteln, mal erbleichen lässt und die nicht zugesteht, das Morgen vorauszusehen. Hier angesiedelt erscheint das allzu Menschliche, die Stärke im Schwachen, die Schwäche im Starken, Gezeiten mit unbekannter Ursache. Anders als die Stimmung ist die Prägung mehr von Dauer. Der Sucht nicht ebenbürtig, erscheint sie mehr wie ein konstant fließender Bach, der, von einer Quelle gestärkt, noch auf der Suche nach Festigkeit sein Bett nicht endgültig gefunden zu haben scheint. Hier wirkt eine in vielen Durchläufen gefestigte Erfahrung auf einem festen Sockel von Wissen. Die Schwelle ist zwar fest verankert, aber durch ihre Verankerung erscheint ihr Wirkungsort räumlich begrenzt.

Sucht, Stimmung und Prägung sind die drei Pfeiler der Erfahrung. Sie sinnvoll leben zu können heißt sie kennen und unterscheiden zu können. Ein unterscheidendes  Kriterium dazu ist Stetigkeit, ein zweites Kraft, ein drittes Vorhersehbarkeit. Schön wäre ein stetig gespeister Fluss im Bett eines Stromes, mal anschwellend, mal locker fließend, aber immer in Fülle und Bewegung, ein stetiges Fließen in festen Bahnen dem Ozean entgegen. Leben ist Gestalten, auch wenn Extreme gemieden werden. Nur noch ein Bach der Prägung zu sein ist schon lebendiges Sterben. In der Jugend ein Bett sich gegraben habend, sollte Altern ein steter Fluss werden und niemals Erlöschen im Rinnsal sein. Dann noch irgendwann die drei Pfeiler zu überwinden und nur Ozean zu sein, der zum Ziel erlöste Fluss, das wäre die letzte Aufgabe, die ein letztes Aufgeben beinhaltet. Dann ist Stille, sagen die Gelehrten, ein schöner Gedanke…




Das geplatzte Seminar

Es ist schon seltsam! Ein geplatzter Seminartermin, und die Notwendigkeit, den beantragten und noch ausstehenden Urlaub zu nehmen, und ein sehr oft gehegter Wunsch, Zeit für sich zu haben, nicht arbeiten zu müssen und ganz aus der Pflicht zu sein, erfüllt sich für gut Dreißig Tage. Und seltsam daran ist, dass es sich ganz anders darstellt, als die naive Phantasie sich das so dachte.
Ja klar, ausschlafen, nach drei Tagen ist das erledigt, die vor sich hergeschobenen Erledigungen tätigen, nach fünf Tagen sind sie vollbracht, den Haushalt in Ordnung bringen und den Schreibtisch aufräumen, ganze zwei Tage hat das gedauert, und alles, was wichtig erschien, löste sich schon bald auf. Und dann kommt die Leere, und der unruhige Geist sucht nach Beschäftigung, und diese Beschäftigung, und das ist seltsam, soll sich nur in Handeln ausdrücken, in Tun. Ich dachte, jetzt ist es soweit, jetzt, wo alles erledigt ist, wo ich ausgeschlafen bin und nichts mich drängt, ja jetzt kann ich mich mit dem beschäftigen, was ich sonst aus Erschöpfung nicht konnte: Jaspers, Kant, Spiritualität… Nichts dergleichen geschieht, der Geist verlangt Handeln, und er sucht nach diesem. Der Kauf von etwas, was in Gedanken folgerichtig und vernünftig ins neue Jahr verschoben werden sollte, taucht immer wieder auf, und ich ertappe mich bei dem Gedanken: „Jetzt hole ich es…“. Und trotz des Wissens, dass gerade jetzt in dieser hektischen Zeit Freunde und Bekannte keine Zeit für mich haben können, weil sie arbeiten müssen, weil Weihnachten vor der Tür steht, Jahresende ist, ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Jetzt ruf doch an… oder schreibe eine Mail… oder fahre hin…“. Und das Buch von Jaspers, kaum aufgeschlagen, wandert zurück ins Regal. Und der Drang, zu tun, treibt mich durch die Wohnung, und das Bild des eingesperrten Pumas aus dem Opel-Zoo taucht in mir auf, der seinen Käfig abschreitet und nicht versteht, weshalb und warum diese Gitter ihn beschränken.

 

Auf einem Meditationsseminar wollte ich jetzt sein, zehn Tage der Stille, der Zurückgezogenheit und der Selbstreflektion wollte ich dort erleben, wo ich schon einmal war und wo dies ganz leicht ist, hinter den Mauern eines Klosters und in einem genau geregelten Tagesablauf. Fünfzig Menschen bilden eine Gruppe, in der jeder für sich allein eine vollkommen durchplante Zeit erlebt, sich in einem vollkommen geschützten Rahmen bewegt. Mein Gott, wie wenig hat das doch mit der Wirklichkeit zu tun. Auch hier Zuhause habe ich die Stille, kann ich zurückgezogen sein und einen geregelten Tagesablauf gestalten. Nur die Dynamik der Gruppe scheint hier zu fehlen, der geschützte Rahmen der Institution, die mich betreut, fehlt…. Aber das kann doch nicht alles sein, denn all das ist nicht wesentlich oder Zuhause nicht notwendig. Ich lebe allein, niemand stört mich, der Kühlschrank ist voll, und Bücher gibt es in Hülle und Fülle, und viele sind darunter, die ich mir gerade für solche Tage angeschafft habe. Auch hier kann ich den Alltag ausschließen, mir einen Plan machen, und… Also was ist es, was wirklich fehlt hier Zuhause, oder was ist hier, was dort im Kloster nicht ist?

 

Dies zu erkennen, hat lange gedauert, fast schon zu lange, fünf lange aufregende Tage waren dazu notwendig: Der geregelte Tagesablauf und der geschützte Rahmen nimmt dem Eingebundenen nur dies eine: nämlich seine eigene persönliche Freiheit. Die Freiheit, zu gestalten, zu verändern, sich anders auszurichten oder etwas ganz anderes zu tun, als das, was vorgegeben ist oder vorgegeben sein sollte. Das letztlich ist das, was Zuhause möglich ist und dort nicht. Und diese Freiheit äußert sich in dem Drang, zu handeln, dem Drang zu schreiben, zu kaufen, zu besorgen, zu erledigen , umzuräumen, anzustreichen, noch dies zu… noch das zu… und weiter zu… Einfach nicht zu handeln, obwohl ich könnte, einfach zu sein -und genau das wäre notwendig dafür, die Gedanken eines anderen zu verstehen, ihm ganz zuzuhören, ihn ganz aufzunehmen, ihn ganz zu Ende erzählen zu lassen-, ja, das genau wäre die Voraussetzung, um Jaspers lesen zu können, Kant lesen zu können und auch, um in dieser Zeit spirituell sein zu können.

 

Wie wenig sind doch in der Lage, unser eigenes kleines Leben in Freiheit zu gestalten. Sich einfach hinsetzen, die Welt, also das Gewesene und das Sein-Sollen für ein paar Stunden nur zu vergessen, um in den Gedanken eines anderen zu baden, wenn schon dies schwer ist, wie schwer mag es dann sein, zu verändern, was Vergangenheit und anderes uns aufgeladen haben. Wenn fünf Tage notwendig sind, um dieses einfache, wirklich simple Prinzip zu verstehen, wie steht es dann um all die anderen, viel komplizierter uns erscheinenden Dinge? Wieviel Tage werden wir wohl dazu brauchen, zu erkennen, welches Prinzip uns hierhin und dorthin treibt? Und eines erscheint mir jetzt klar und deutlich: Nicht allein die Übungen im geschützten Rahmen bringen uns voran, sondern erst die Übertragungen der Übungsinhalte in den Alltag sind es, die letztlich zur Einsicht führen. Beide sind notwendig, um zu erkennen, denn der geschützte Rahmen bildet nur den Anfang, den Impuls, das Übertragen aber in die Alltäglichkeit bildet den Schritt, der uns vorangehen läßt, und nur so wird letztlich ein Schuh daraus. Und so lehrt das geplatzte Seminar, was das Seminar selbst mich nicht lehren könnte: Alltäglichkeiten zu erkennen und sie auch zu leben.




Eine Wolke erscheint…

Gerade zieht eine dicke Regenwolke über unseren Himmel, und ich fühle mich, als ob diese Wolke mich verschließt, mir nicht gestattet, mit der Welt um mich her im Austausch zu paktieren. Es staut sich in mir, und meine Schädeldecke scheint sich zu wölben wie ein Deckel eines Topfes, der, festgehalten von stählernen Klammern, dem Druck des brodelnden Dampfes nur langsam nachgibt. Es ist feucht und schwül, und der ständige Wechsel vom Licht der Sonne, wenn sie durch die Wolken bricht, und der Düsternis dieser Wolke, die ein Durchbrechen des Lichts verhindert, reizt die Augen, lässt sie ständig tränig feucht erscheinen.

Wie das Wetter draußen, so erlebe ich auch mein Gemüt. Die dunkle Wolke treibt auch hier ihr Spiel, lässt mich erschauern und erzittern. Es ist ungemütlich und anstrengend, diesem Wechsel unterworfen zu sein, zu vielfältig und hintergründig sind die Gedanken, alles staut sich auf, als wäre ein Abfluss verstopft. Und doch verweigert sich etwas in mir einer der Lösungen, die sich aufdrängen und sich ständig in den Vordergrund schieben, die rufen: was soll‘s, es ist doch eh egal… und es kommt doch anders, als man denkt…, und was willst du eigentlich, du bist doch…, und du musst Geduld haben…, und was sonst noch… Denn nichts ist ganz so egal, genauso, wie nichts so überaus wichtig ist, und ich fühle eine Sättigung darüber, für und wider immerzu gegeneinander aufzurechnen.

Es sollte doch ganz einfach sein, und ich höre und lese dies so oft, dass ich schon lange nicht mehr weiß, wo mir dies zu erstenmal begegnete. Alles ist gut so wie es ist, heißt es da, und dein Problem beruht nur auf der Tatsache, das du ein Problem siehst, wo kein Problem ist. Höre auf, das Problem zu denken, und dein Problem verflüchtigt sich wie der Gedanke, der es schuf. Das klingt paradox, und gerade daher erscheint es richtig zu sein, denn wenn die Realität nicht mehr helfen kann, erscheint das Paradoxe als sein Gegenüber doch der Lösung näher. Und doch, auch dieser Ansatz erscheint letztlich so falsch, wie er nur sein kann, denn er verschiebt alles nur ins andere Extrem, schüttet das Bad aus samt dem Kinde darin.

Was wäre eigentlich, wenn alle Ansätze zur Lösung falsch sind, es den richtigen Ansatz nicht gibt, und wenn daher genau das Falsche zu tun, immer wieder und immer wieder, erst zu der Einsicht führt, die das Problem, oder besser noch jedes Problem, für immer verbannt. Ist die Einsicht vielleicht die Erkenntnis der Unvollkommenheit und Bedingtheit des Lebens? Ist dieser sich ständig wiederholende Irrtum dem Menschsein eingegeben? Ist dies vielleicht die Lektion, die es hier und heute zu lernen gibt?. Und wenn dies so wäre, sollte dann nicht die Einstellung eines Kindes, das laufen lernt, das Vorbild hierfür sein: Lachen, wenn es steht, und weinen, wenn es fällt? Und ist Gleichmut dann nicht eine Krankheit, die Erkenntnis zu verbergen sucht, weil diese Leichtigkeit und Anstrengung, Lachen und Weinen, Freude und Leid, und letztlich alle Gegensätze einschließt?

Die Wolkendecke lichtet sich, und draußen kommt die Helligkeit der Sonne zum Überwiegen. Und auch der Druck im Kopf scheint, mit etwas Verzögerung zwar, der Helligkeit zu weichen. Ist es nicht seltsam und staunenswert, das eine vorüberziehende Wolke am Himmel das Gemüt derart verdunkeln kann, und das zwei so unterschiedliche Wesenheiten so eindeutig partizipieren. Und wenn dies so ist, wie fest und verschweißt mögen dann die vielen anderen Dinge sein, die zu unterscheiden wir gewohnt sind; und wie groß wird unsere Geduld und unser Ausharren sein müssen, um dieses letztlich zu ergründen? Ich fühle mich klein und schwach, und doch erscheint dieses mir mehr und mehr in aller Klarheit: Die große Kraft des Ganzen sollte auch mich durchfließen können, so wie diese Wolke, die, als sie mein Gemüt erschütterte, mich durchfloss!




Ich kann nichts dagegen tun …

, „warum ich tue, was ich tue“, und „warum ich nicht ein anderes tue, was ich durchaus auchIch kann nichts dagegen tun, aber immer wieder, unregelmäßig und buchstäblich aus dem Nichts heraus taucht bei mir die Frage auf tun könnte“. Ich habe keine Ahnung, warum diese Frage auftaucht, worin sich dieses Auftauchen begründet und warum sie mir gerade jetzt in den Kopf schießt, wo doch auch so ganz andere Gedanken möglich wären.
Es gibt durchaus Erklärungen. Sie sind rational begründet, angesehen und gelten als berechtigt, sind allgemein verständlich und doch, sooft ich sie mir neu erkläre, sie befriedigen mich nicht. Da ist zunächst der gerne gebrauchte Hinweis auf das Unbewusste, auf die nicht verarbeiteten Erinnerungen, die Bilder oder Geschichten und den Versuch, diesen Missstand zu beheben. Dann finde ich auch gerne die gesellschaftliche Rolle, die ich, erst hineingeboren und später hinein gearbeitet, nun einmal zu spielen habe. Dann gibt es noch Erklärungen, die einen Gott oder ein Schicksal herbeizitieren, die meine Rolle so festgelegt haben, wie sie nun einmal erscheint.
Keine dieser Erklärungen lässt mich heute einen Schlusspunkt setzten unter diese Fragen. Dabei wäre es doch so einfach und auch so normal, dies einfach zu tun. Viele Menschen tun es, und sie stammen aus alle Schichten, wie unschwer in Talkshows und sozialen Netzwerken zu erlesen, zu erschauen und zu hören ist. Viele scheinen zufrieden zu sein und manche sind fast ein wenig stolz, wenn sie die Auswahl ihrer Entscheidung einer breiten Zuhörerschaft zum Besten geben dürfen. Viele scheinen auch glücklich zu sein mit ihrer Antwort. Warum kann ich mich dann nicht auch entschließen, endlich auch diese Auswahl zu treffen und ebenfalls glücklich zu sein? Macht es aber wirklich glücklich, wenn man sich entschieden hat? Was ist mit dem Verlust dessen, gegen das man sich entschieden hat. Was ist mit all den verpassten Gelegenheiten, den nicht wahrgenommenen Möglichkeiten und den vielen ungeschlagenen Schlachten?
Was wäre eigentlich, aus einer widersprechenden Perspektive betrachtet, wenn es zu dieser Frage nach dem „warum …“ gar keine richtige Antwort gäbe. Was wäre, wenn diese Frage gar nicht beantwortet werden will, sondern sich immer nur dann in einen Kopf schöbe, weil die gleiche Frage zu einer anderen Zeit immer auch eine andere Antwort erhalten kann? Sie wäre damit zu keiner Zeit abschließend festlegbar, wäre nicht beantwortbar. Was heute noch eindeutig und klar mit „nein“ beantwortet werden muss, kann morgen bereits durch andere Voraussetzungen, durch Entwicklung und neue Perspektiven zu einem eindeutigen „ja“ herausfordern. Vielleicht ist es besser, sich nicht wirklich grundlegend zu entscheiden, sondern die Entscheidungen nur so weit zu setzen, wie es unbedingt notwendig erscheint. Und morgen wäre dann eine neue Entscheidung möglich?
Unentschiedenheit erscheint anstrengend, gewiss, und Entschiedenheit fordert wahrscheinlich Opfer, sicher. Und stehen sich diese Möglichkeiten wirklich so unversöhnlich gegenüber? Zu dem „ja“ und dem „nein“ könnte sich ein „weder noch“, vielleicht auch noch ein „sowohl als auch“ gesellen, und als letzter Ausweg bliebe noch, der Frage zu widerstehen und sie offen stehen zu lassen, sie zu ignorieren oder gar auszusitzen. Und mehr Möglichkeiten zu gewinnen, so sagt man oft, ist doch immer auch ein Vorteil. Allerdings wäre die Welt weniger übersichtlich, noch schlechter überschaubar und vielleicht sogar ein wenig verwirrend.
Ich würde mich dabei entschließen müssen, einen Mittelweg zu gehen, manches zu entscheiden, manches aufzuschieben, hier zu kämpfen und dort vorsichtig zu sein, hier zu fordern und dort nachzugeben. Und gut zu vermitteln wird dieser Mittelweg auch nicht sein, lieben Menschen doch Klarheit und Kontinuität. Und doch, dieser dritte Weg hat seinen ureigenen Charme.
Nun denn, heute werde ich diesen grauen Weg wohl wieder gehen, und morgen?
Morgen ist nur … ein anderer Tag.