Zen-Sesshin im September 2016

Es ist 6:30 am Morgen. Eine lange Schlange von 35 Menschen verlässt, hintereinander gehend, einem Gleichschritt folgend, ein Grundstück in Buchenberg (Allgäu), überquert die Straße und  biegt in einen Feldweg ein, dem sie dann zügig und in schnellen Schritten folgt. Regelmäßig beobachtet werden kann dieses Ereignis, Kinhin genannt, meditatives Gehen,  am Hauptausgang des Daishin-Zen-Seminarzentrums und -Klosters Buchenberg. Es ist Sesshin, Meditationswoche.

Die 35 Teilnehmer des Sesshin üben eine Woche lang sich in der Kunst der Meditation im Zen-Stil. Aus ganz Deutschland sind sie angereist, um hier im stillen und landschaftlich schönen Allgäu Erholung zu finden vom alltäglichen Stress eines kombinierten Arbeits- und Familienlebens. Es wird wenig gesprochen hier, man ist leise und doch, falls überhaupt,  irgendwie zügig unterwegs. Das Zentrum des Seminarbetriebes ist das Zendo, die Meditationshalle, in der alle Teilnehmer planmäßig und mit geregeltem Ablauf circa sieben bis acht Stunden des Tages zubringen, auf Kissen oder Holzbänkchen sitzend, in Meditation vertieft. Die anderen Gebäude dienen als Seminar-, Wohn- und Versorgungsräume. Hinter einem neu angelegten See, in dem Kois ihr nasses Zuhause gefunden haben, erhebt sich ein neu errichtetes Teehaus, das vom Zen-Meister des Klosters bewohnt wird. Verschiedene Buddha-Statuen und das neu errichtete Eingangsportal zeigen eindeutig auf den japanischen Einfluss hin. Eine große Tafel vor dem schön gelegenen See zeigt, dass hier noch zwei weitere Gebäude entstehen sollen, die dann zusammen mit dem Bestehenden ein Kloster im buddhistischen Stil ausweisen.

Zen bezeichnet eine Meditationsweise, die die Sammlung des Geistes dazu verwendet, die Wirklichkeit zu erfahren, ohne dabei kulturelle und geschichtlich gewachsene Vorstellungen und Gewohnheiten zu berücksichtigen. Haupttechnik auf dem Übungsweg ist Sitzen in Kraft und Stille, Zazen. Der Zen-Meister Hinnerk Polenski, der den langen Weg zur Freiheit bereits weit gegangen ist, hilft den auf ungewohnten Pfaden wandernden Teilnehmern in Einzelgesprächen mit Rat und Ansporn. Nicht immer wird das Empfohlene auch gleich verstanden, geht es doch darum, die Teilnehmern aus ihrer Verstrickung zu befreien und dabei nicht nur den Verstand zu erreichen, sondern auch das Herz zu berühren. Es ist erstaunlich, wie gut dieses immer wieder gelingt und damit die Motivation, weiterzugehen, erweitert und zu verstärken weiß.

Sechs Tage habe ich in dieser Atmosphäre mit Sitzen, Gehen, Rezitieren, Teetrinken und Arbeiten zugebracht, habe dabei jeden Rat des Meisters und seiner vielen Helfer befolgt und alle Aufgaben wahrgenommen, die das Kloster den Teilnehmern stellt. Es waren schöne Tage inmitten von Freunden, Tage ohne Aggressivität, Tage ohne Ärger, ohne Stress, und doch Tage erfüllt von Tun, Erleben und Sein. Ich bin erholt in die Normalität zurückgekehrt, vielleicht auch ein Stück freier, ganz bestimmt aber ein großes Stück nachdenklicher angesichts eines erdrückend eng gestrickten Alltags. Es waren gute Tage, wichtig für mich und bestimmt auch wichtig für die Menschen, die mit mir leben und arbeiten müssen.




Yama und Niyama im Wandel der Zeit

Wann immer heute mit Yoga und seinen Techniken begonnen und umgegangen wird, kommt man automatisch mit den Grundlagen dieser Lehre in Berührung und wird mit den Begriffen Yama und Niyama konfrontiert, die einen Verhaltenskodex für Übende beschreiben:

Yama (Kodex gegenüber der Außenwelt):
1. Ahimsa (Nicht-Gewalt) oder die Abwesenheit von Gewalt und Grausamkeit
2. Satya oder Wahrhaftigkeit und Wahrheit
3. Asteya (Nicht-Diebstahl) oder das Verbot zu stehlen
4. Bramacharya (Führung zu Gott) oder das Gebot, sich auf das Wesentliche hin zu bewegen
5. Aparigraha (Nicht-Zugreifen) oder das Gebot, sich nicht Bestechen zu lassen.

Niyama (Kodex gegenüber sich selbst):
1. Shauca (das Geklärte) oder Sauberkeit, Reinheit
2. Santosha oder Genügsamkeit
3. Tapas (Erhitzen) oder den Körper funktional zu halten
4. Svathyaya oder die Selbsterforschung
5. Ishvarapranidhara oder die vertrauensvolle Hingabe an Gott.

Beim genauen hinein lesen in die Gebote des Yama wird man feststellen, das diese Gebote für alle Teilnehmer an unserer westlichen Gesellschaft in Gesetzen geregelt und damit für alle bindend sind. Lediglich Wahrhaftigkeit und das Gebot, sich auf das Wesentliche hinzubewegen sind nicht unter Strafe gestellt, werden aber allgemein als Standard angesehen. Auch die Gebote des Niyama können allgemein als Verhaltensstandard oder zumindest als wünschenswert angesehen und werden, vielleicht mit anderer Begrifflichkeit, auch so von einer Mehrheit gelebt. Weiterhin gibt es vielfältige Versuche, diesen eher als archaisch empfundenen Begriffen neues, aktuelleres Leben einzuhauchen. Diese Versuche, die ich grundlegend durchaus begrüße, scheitern aber in aller Regel, weil die Umformungen und Auslegungen nur Teilbereiche der zu klärenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen darstellen können und zusätzlich noch von dogmatischen Lehrmeinungen durchdrungen bleiben. Eindrückliche Beispiele dafür sind der Vegetarismus (Ahimsa) und die oft gepredigte sexuelle Enthaltsamkeit (Bramacharya), die selbst in Wikipedia Einzug gefunden haben.

Betrachten wir mit ungetrübtem Blick die oben genannten Gebote und berücksichtigen den Lebensstandard, der in unserem Kulturkreis als allgemein vorausgesetzt gelten kann, berücksichtigen wir die religiöse Freiheit, die unsere Gesetze vorschreiben, so verbleiben unter Übungsgesichtspunkten:
1. Bramacharya mit dem Gebot, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren
2. Santosha oder die Genügsamkeit
3. Tapas oder das Gebot den Körper funktional zu halten
4. Svathyaya als das Gebot der Selbsterforschung

Kurz und in einem Satz zusammengefasst wäre das eine genügsame, sich auf das Wesentliche auszurichtende Selbsterforschung und Gesunderhaltung (Prävention). Das ist keine allzu außergewöhnliche Aussage, trifft aber im Kern die Voraussetzungen, unter denen die Übung des Yoga begonnen werden kann. Allerdings stehen heute der Zielsetzung einer Yogapraxis andere Hindernisse im Wege wie den Menschen vor 1000 Jahren. In der nachfolgenden Aufzählung seien solche beispielhaft aufgereiht und verarbeitet:
1. Da ist zunächst einmal die Zeitfrage. Eine Yogapraxis verbraucht mind. 2 Stunden an zwei bis drei Tagen einer Woche, wenn alle Module (Asana, Pranayama, Meditation, Selbststudium, Ruhe- und Wirkungszeiten) sinnvoll eingesetzt werden sollen.
2. Da ist die Fragestellung des großen Angebots an Studios, Kursen und Lehrern, die nahezu unzählige Variationen, Arten und Traditionen der Yogalehre (Praxis) anbieten. Nicht jede Form ist für jeden geeignet und oftmals sind es die weniger beliebten Formen, die wirklichen Zugewinn ermöglichen.
3. Dann ist zu nennen die Gewohnheit des Konsumierens, die auch vor Yoga nicht halt macht. Yoga an sich ist Selbsterforschung oder Arbeit an sich selbst. Mit ein paar Übungseinheiten unter Anleitung ist es oftmals nicht getan, sondern das Erlernte muss in den Alltag integriert werden.
4. Als großes Hindernis ist der Erkenntnisgewinn zu nennen, der stets Veränderungen des Gewohnten zur Folge hat. Weder das eigene Selbst noch die unmittelbaren Beziehungspersonen mögen Veränderungen und der sich Verändernde steht ständig unter Rechtfertigungszwang sowohl positiver (Ich geben die Gewohnheit auf, weil …) als auch negativer Art (Ich möchte die Gewohnheit aufgeben, aber scheue die Schwierigkeiten, die dieses nach sich ziehen würde, weil …).
5. Dann wären bei sich einstellender positiver Wirkungen der Stolz und die Missionsneigung zu nennen, die so manchen Übenden allzu schnell ergreift und die sich oft negativ auf das soziale Umfeld auswirken.
6. Weiterhin ist die Versuchung groß, sich selbst als Lehrer zu etablieren und vergisst dabei gerne und schnell, das auch das Üben an sich selbst nicht vernachlässigt werden darf.

Somit hätte eine zeitgemäße Grundlagenzusammenstellung im Sinne von Yama/Niyama so etwa nachfolgende Struktur und Umfang:

Yama (Kodex gegenüber der Außenwelt):
1. Konzentriere dich in der Lebensgestaltung auf das Wesentliche. Nicht alles was als modern und hipp gilt fördert dein Leben. Vieles davon ist Selbstbelohnung oder Zerstreuung.
2. Schließe dich nur einer Gruppe an, wenn diese dich auch fördern kann. Findest du keine Gruppe dieser Art, ziehe aus einem wahrgenommenen Unterricht das für dich Richtige heraus und wahre Distanz.
3. Rechtfertige dich nicht für Dinge, die deine Praxis fordert. Es ist dein Leben, deine Zeit und deine Entscheidung.
4. Missioniere nicht und zwinge niemand zur Rechtfertigung. So wie es deine Entscheidung ist, ist es auch die Entscheidung anderer.
5. Nur wenn du auf dich selbst achtest, kannst du anderen helfen.

Niyama (Kodex gegenüber sich selbst):
1. Mache Genügsamkeit zu einer deiner Grundstimmungen. Esse soviel wie dir gut tut, arbeite soviel wie notwendig und übe wenn Übung gebraucht wird. Ansonsten halte Frieden mit deiner Seele (frei nach einem Sprichwort!).
2. Erhalte deinen Körper gesund und verwechsele gesund nicht mit schön! Selten ist ein Schönheitsideal auch gesund. Besonders die Molligkeit ist hier als Beispiel gut geeignet, ist sie doch für viele Menschen nachweislich die gesündeste Erscheinungsform. Nicht BMI, sondern „sich wohl fühlen“ ist das Maß der Dinge!
3. Die Selbsterforschung ist die Grundhaltung des Übens. Nicht jede Übung gereicht auch jedem zu Wohlbefinden und Gesundheit. Wähle das für dich Richtige auf der Basis von Selbsterfahrung.
4. Stelle genügend Zeit und Muße zur Übung und Erholung bereit. Zeit ist Geld, aber Geld ist nicht Gesundheit und nicht Wohlbefinden. Und „Erholung/Yoga to go“ ist ein Widerspruch in sich.
5. Konsumiere Yoga nicht! Es kann geschehen, dass du von Zeit zu Zeit eine Pause vom Üben brauchst, denn Neues muss sich auch setzen können. Nimm dir diese Zeit. Nicht immer, wenn der Fortschritt ausbleibt, ist mehr desselben die richtige Wahl. Oftmals ist auch weniger mehr.

So in etwa stelle ich mir einen modern gefassten Übungskodex im Sinne von Yama/Niyama vor. Die Aufzählung ist bestimmt nicht vollzählig und so mancher mag auch dieses Neugefasste als allgemein selbstverständlich betrachten. So wie Gesetze einer Gesellschaft tausende Seiten füllen, passt die Grundlage eines Übungswegs auch nicht in zehn Gebote. Allerdings sollte man sich immer mal wieder an die Gegebenheiten seiner Zeit erinnern. Alte, nicht mehr gebräuchliche Formen und Gebote sollten über Bord geworfen und neue Probleme oder Schwierigkeiten sollten benannt werden. Entwicklung ist eine Eigenart des Lebens als auch seiner Systeme (Yoga).




Spiritualität wirkt gut aus dem Verborgenen heraus

Wir alle, die in Yoga und Meditation (Zen, Vipassana) sich geschult haben, werden immer wieder feststellen, dass sich eine offen gelebte Praxis der Spiritualität nicht immer und in allen Lebenslagen aufrechterhalten lässt. Von daher ist ein Motiv der Unterscheidung für den spirituell Übenden wichtig.

Es geht darum, zu erkennen, wann und in welcher Intension eine spirituelle Haltung sinnvoll offenbart wird und wann sie aus Selbsterhaltungsgründen besser im Verborgenen bleiben sollte. Die Mehrheit der Menschen heute ist leider noch nicht in einer Verfassung, komplexe Haltungen wie Toleranz, Verständnis  und Mitgefühl in allen Lebenslagen durchzuhalten oder zu akzeptieren.

Viele Teile unserer Lebenswelt sind so organisiert, dass fast ausschließlich materialistische Grundeinstellungen eine Rolle spielen können. Betriebe, Firmen, Dienstleister und das Handwerk, in denen wir einen großen Teil unserer Zeit verbringen, sind auf Konkurrenz und Gewinn getrimmt. Sie folgen einer inneren Struktur, die wenig Raum lässt für die bereits genannten geistige Elemente, denn diese haben in der Betrachtung vorhandener Geschäftsmöglichkeiten, wie wir sie üblicherweise umsetzen, selten die Kraft, nachhaltig und als Erfolgskonzept zu wirken. Die wenigen guten und erfolgreichen Beispiele, die es doch gibt (Beispiel: GLS-Bank), halten sich meist nur, weil viele spirituell engagierte Menschen sich dort bündeln.

Weiterhin liegen den spirituellen Praktiken wie Yoga, Meditation, Tai Chi, Reiki und so weiter Vorurteile im Weg, die in der Gesamtheit aller Motive zusammen mit dem Begriff „sanft“ zusammengefasst werden können. Und sanft, seien wir ehrlich, ist weiblich belegt und wird meist mit schwach und/oder verspielt übersetzt. Das stimmt aber weder im Weiblichen, noch in Yoga oder Meditation, denn all diese müssten eher das Prädikat „stark“ tragen. Weder die Geburt eines Kindes noch die Schwere einer wirksamen Yogahaltung noch die Stille des Sitzens sind mit sanft sinnvoll zu beschreiben.

Auch kann ich nicht bestätigen, dass durch Üben von Yoga und Meditation ich still, sanftmütig und positiv gestellt worden sei. Im Gegenteil, ich zumindest fühle mich seither mutiger, halte besser durch und setze früher Grenzen, und folgerichtig weiche ich so mancher Auseinandersetzung deutlich seltener aus als früher. Spirituelle Praxis macht innerlich stark, fördert Mut und Willen, auch wenn diese Elemente durch eine ruhige und sichere Art des Auftretens im Alltag selten in Erscheinung treten. Es ist ein wenig wie im Kampfsport, wo geschulte Menschen ihre Techniken nahezu nie einsetzen müssen, weil aggressiv auftretende Menschen im Umfeld sofort spüren, dass sie es im Gegenüber nicht mit einem Zaum, sondern einem Bollwerk zu tun haben.

Die Kraft der Unterscheidung ist meiner Meinung nach daher mehr auf die Frage zu konzentrieren, wann und unter welchen Umständen gehe ich als spirituell aktiver Mensch offen in eine Auseinandersetzung und wann halte ich meine spirituelle Ader eher bedeckt und lasse sie aus dem Verborgenen heraus wirken, wann spreche ich über diese Praxis und wann ist es angebracht, eher still seine Ausstrahlung wirken zu lassen. Daher rate ich allen Menschen, die in der Spiritualität verankert sind, auch dazu, keine Zugehörigkeitszeichen (Anhänger, Mala, Autoaufkleber) in der profanen Öffentlichkeit zu präsentieren, weil aus dem Verborgenen wirken geht dann nicht mehr. Etwas anders ist das, wenn man für ein Kloster oder Zentrum tätig zu sein hat und werbewirksam auftreten muss.

Spiritualität wie ich sie verstehe wirkt sehr gut aus dem Verborgenen heraus. Sie fordert nicht und klagt nicht ein. Sie beschämt nicht und wird nicht wie eine Fahne mit sich herumgetragen. Sie wirkt durch Vorbild und Ausstrahlung.




Yoga und das spirituelle Weltbild in meiner Praxis

Eigentlich weiß es jeder. Wenn wir regelmäßig Yoga üben, in Meditation sitzen, eine Kata oder Form vollführen oder uns in einer Entspannungshaltung befinden, folgen wir einem ganz ausdifferenzierten Weltbild, das uns in Samadhi, in Satori, die Befreiung von etwas, die Befreiung zu etwas oder in eine neue Fähigkeit führen möchte. Bevor wir uns dann in die Frage vertiefen, was Samadhi, Satori oder Befreiung sei und wie wir das Erreichen desselben überprüfen können, müssen wir uns erst einmal mit dem Begriff des Weltbildes auseinandersetzen.
Der Begriff Weltbild, wie er meist verwendet wird, ist eine Vorstellung der erfahrbaren Wirklichkeit als Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile (Wikipedia, Weltbild). Häufig wird auch der Begriff Weltanschauung genannt. Soweit so gut. Die Wissenschaft, die für solcherlei zuständig ist nennt sich Philosophie, und der Fachbereich, der dazu zu Rate gezogen werden kann ist die Ontologie (Seinswissenschaft). Allerdings enthalten Yoga wie alle östlichen Weisheitslehren nicht nur philosophische Anteile, sondern auch noch sehr viele religiöse Vorstellungen, die zwar meist dem Hinduismus oder Buddhismus entlehnt, aber zu einer eigenen Struktur zusammengefügt wurden. Nicht alle Yogis sind aber Hindus, und nicht alle Hindus praktizieren Yoga oder gar Meditation. Die Wissenschaften, die sich damit beschäftigen könnten, sind die Indologie und die vergleichende Religionswissenschaft. Um also Yoga zu verstehen, liegen jetzt als Studium das Einlesen in drei Wissenschaften sprich drei Meter Bücherregal samt Füllung vor uns? Oder gibt es nicht doch einen einfacheren Weg?
Wieviel Information und welches Vorwissen notwendig sind, entscheidet sich daran, wie ich mit z.B. mit Yoga umgehen möchte, was ich von diesem Umgang erwarte und wie tief ich eine Verstrickung in diese Praxis zuzulassen gedenke. Betrachte ich Yoga gesundheitlich, sportlich, betreibe ich es  psychologisch, philosophisch oder glaube ich, für mich eine neue Religion, eine neue Form des Seins gefunden zu haben, an dem mein künftiges Leben sich gestaltet. Am Anspruch, den der Übende zugrunde legt, wird die Menge und die Auswahl des Lernmaterials sich orientieren müssen.
Für die erste Dimension (gesundheitlich, sportlich) genügt es meist, ein Yogastudio zu besuchen und sich einer gut geführten Gruppe anzuschließen. Die wenigen Fachbegriffe, die ich verstehen muss, finde ich in nahezu jedem Yogabuch auf den ersten praktischen Seiten.  Wichtiger allerdings ist, sich mit den Grundbegriffen der Sportphysionomie vertraut zu machen und etwas zu lernen über Dehnung, Tonus, Haltung und vor allem über die Schwachpunkte der menschlichen Gestalt.
Für die zweite Dimension (psychologisch, philosophisch) wird deutlich mehr Fachwissen benötigt. Neben den Grundlagen der Yogaphilosophie und –psychologie ist es ratsam, sich völkerkundlich über Indien zu informieren, da sich die Schriften des notwendigen Studiums erst vor dem Hintergrund der Herkunftskultur abbilden und verstehen lassen.
Für die dritte Dimension (Leben in Yoga) werden sich alle Lebensbereiche grundlegend einer Wandlung unterziehen müssen. Wissen genügt hier nicht mehr. Hier ist ein Leben in Yoga gefragt. Im Europa des dritten Jahrtausends eine mächtige Herausforderung.
Und was oben beschrieben für Yoga gilt, gilt auch im Zen, in Vipassana, im Buddhismus und anderen spirituellen Weltbildern, die eine Übungs- und Lebenspraxis anbieten. Natürlich gibt es in und zwischen den Dimensionen Grauzonen und Abstufungen. Sie alle versprechen dem Übenden etwas in der Form: Wenn du A und B regelmäßig übst, bekommst du C und D; wenn du so und so lebst, wirst du so und so dich fühlen, erleben und den und den Sinn finden. Immer kommt zuerst das Tun, dann kommt irgendwann die Belohnung und zum Schluss ein tolles Leben in Freiheit, ohne Ärger, ohne Leiden, ohne Angst und ohne Sorgen. So wird es proklamiert und praktiziert, seit Jahrhunderten mit stets offenem Ausgang. Das Problem, das dabei immer wieder erscheint ist die schnöde Tatsache, dass wir belegbar nur dieses eine Leben so leben und es kein Zurück geben kann, denn jeder gelebte Tag wird Spuren hinterlassen. Was also ist zu tun, wie muss ich mich entscheiden, wie kann ich einen Weg sicher gehen? Darauf gibt es keine wirklich zufriedenstellende Antwort. Hier sind Entscheidungskraft, Mut, Vernunft und Verstand, ein fester Wille und eine klare Sicht auf meine jetzige Welt notwendig. Ich möchte etwas ändern? Wie weit muss ich dafür gehen? Wie hoch ist der Preis? Wie sicher ist der Weg?
Was bei der Betrachtung bisher nicht erwähnt wurde ist die Fragestellung, ob ich mich immerzu voll zu 100% einbringen muss? Soll oder muss ich sogar das ganze Lebenskonzept einer Praxis übernehmen, damit sie wirkt? Oder ist es möglich, sich aus und in einer Lehre voranzutasten und mit Vernunft, Geduld und etwas Gelassenheit  den Teil eines Weges zu gehen, der mir jetzt mein Leben etwas zu beruhigen vermag. Fangen wir vielleicht doch einfach mal klein an. Wie ist ein Leben, wie fühlt sich ein Leben an ohne Rückenschmerzen? Ist es das gleiche Leben wie jetzt nur ohne Schmerzen, oder wird durch die Schmerzlosigkeit etwas frei, was mein Leben grundlegend zu ändern vermag? Ich denke, letzteres wird stattfinden. Zumindest spricht meine Erfahrung dafür, es so zu sehen. Ein ähnliches Motiv ergibt sich aus der Aufnahme einer Meditationspraxis. Auch ohne Samadhi, auch ohne Satori wird sich durch tägliche Praxis Bewegung in das Leben kommen und niemand kann vorhersehen, was das so genau sein wird.  Der Weg ist ein Weg der Erfahrung, und Erfahrung gewinnen wir durch tun. Und was eine Erfahrung bewirkt, das steht nicht einmal in den Sternen. Das wird sich erst zeigen, wenn die Zeit gekommen und/oder der Mensch gereift ist.
Die Essenz der Worte oder das was ich zu sagen habe ist doch, dass wir unser Leben einfach leben und nicht entscheiden müssen, irgendeinem vorgefertigten Pfad zu folgen. Es ist mein Leben, meine Zeit, meine Intension. Dafür muss ich mich weder entschuldigen, noch rechtfertigen noch schämen. Nichts dergleichen ist von Nöten. Es gibt weder falsch noch richtig, denn Wissen über dieses unser Leben haben wir keines und wir sollten es auch nicht anstreben (sagt die Philosophie: Sokrates). Nur leben ist mehr als genug!
Vieles von dem, was bisher in mein Leben kam war gar nicht gewünscht, wurde von mir nicht erwartet und war auch nicht absehbar, selbst aus und mit Yoga nicht. Vieles, was ich begonnen und beendet habe, hat seine Schatten geworfen und seine Spuren hinterlassen. Aber immer bin ich doch der geblieben, der ich sein wollte, oft im nirgendwo zwischen modern und antiquiert, zwischen beliebt und übersehen, zwischen erfolgreich und dahin plätschernd, zwischen gefasst und zerbröselt, zwischen gerne gelebt und durchgestanden. Ich musste dafür weder Yogi sein noch sonst wie heilig, musste mich nicht so und so ernähren und so und so mein Leben gestalten, nur Hanspeter sein hat genügt. Und im selten stattfindenden Zurückschauen sage ich dazu nur: Es war ganz OK so.




Wir haben die Wahl, manchmal (2007)

Ich habe gewählt, und die Entscheidung zu gehen, nach Neuem zu suchen, war bestimmt nicht einfach, war bestimmt nicht leicht, und sie hat Kraft gekostet. Heute glaube ich zwar zu wissen, dass ich gar keine Wahl getroffen habe, denn es gab in Wirklichkeit keine Alternative als diese, als mich so zu entscheiden, aber damals war ich mir so sicher nicht, und der Zweifel fraß an meiner Selbstsicherheit wie der Rost an meinem Auto. Letztlich war es mein Stolz, eine an sich negativ besetzte Eigenschaft, die mich vorwärts drängte, die zu mir sagte: Du kannst hier nicht bleiben, du doch nicht…!. Ich bin heute sehr dankbar für diese Hilfe, und mein Verhältnis zu diesem Stolz hat sich deutlich gewandelt. Es ist oftmals gut, negative Eigenschaften zu besitzen, denn wo das Negative sich befindet, ist auch das Positive meist nicht weit. Und heute gehe ich denn diesen Weg ins Neue, von dem ich schon zu Beginn ahnte, ja fürchtete, dass er so einfach nicht sein würde. Meine Befürchtungen wurden weit übertroffen.

Das Neue betreten bedeutet, ins Ungewisse zu gehen, bedeutet Altes aufzugeben, ohne zu wissen, was an seine Stelle treten wird. Das Alte, das so schön eingewohnte, sichere und vertraute, das alles hinter sich zu lassen ist ein bedeutender Schritt, ein Schritt, der Mut erfordert, und bei mir war es mehr der Mut der Verzweiflung als der der Neugierde. Ich sah einfach keine andere Möglichkeit mehr, als zu gehen, und vieles in mir verweigerte sich anfangs, und vieles sträubt sich noch immer. Aber die Alternative, stehen zu bleiben, oder gar zurückzukehren, verursachte in mir eine Flut von Bildern, die voller Schrecken waren, voller Langeweile, voller Dünkel und Aussichtslosigkeit. Bleiben? Hier? Nein, niemals, und so geschah der erste Schritt, getrieben vom eigenen Stolz, und in dem Wissen, dass dieser Schritt ein Schritt ohne Rückkehrmöglichkeit sein wird.
Vieles hat sich verändert seit jenem Tage, und es gibt Dinge und Wahrnehmungen in mir heute, von denen ich nicht die Spur einer Vorstellung mit in diese Welt mitgebracht habe. Ein Kommen und ein Gehen ist in mir aufgebrochen, und eine Entdeckung folgt der Vorherigen auf dem Fuße. Nichts mehr von Langeweile, nichts von Wiederholung, kein Trott. Aber ich greife jetzt vielleicht etwas zu weit voraus. Der Weg ins Neue ist kein Weg in ein neues Leben, in eine neue Umgebung, der zu anderen Menschen oder der zu anderer Beschäftigung führt. Nein, der Weg ins Neue führt nach innen, führt zum in sich schauen, führt in sich selbst hinein. Das Draußen bleibt vollkommen unberührt, nichts ändert sich hier. Und hier innen finden wir eine Welt, die in sich so groß und umfangreich ist wie die Welt da draußen. Wie draußen, so ist auch hier alles in Bewegung, herrscht auch hier ein Kommen und Gehen, steht die Welt niemals still. Und doch, um diese Bewegung zu erfahren, muss es auch hier ein Stilles geben, denn wie anders als vor dem Stillen, dem Unbewegten, könnten diese Bewegungen wahrgenommen werden.
Die Erkenntnis, dass, wo Bewegung ist, auch ein Stilles sein muss, verwirrt zunächst, denn im Innen ist es anders als wir es gewohnt sind. Draußen im Großen, im Makrokosmos, halten wir uns, den Menschen, das Individuum, für den stillen Moment, um den herum sich alles dreht. Aber Innen aber, im Menschen, im Individuum, wer oder was ist dort still? Diese Frage trifft sehr hart besonders dann, wenn man eine Antwort versucht, denn jede Antwort, jede These hält einer Untersuchung, einer Analyse nicht stand. Und letztlich bleibt die Frage allein zurück, diese verfluchte Frage, und wo wir doch aus Verzweiflung aufgebrochen sind, wo wir den Abgrund verlassen wollten, tut sich jetzt ein neuer Abgrund auf, und dieser ist größer als jeder Vorherige, und er besteht aus einer Frage, einer einzigen Frage: Was ist es, dass so still ist in mir? Was ist es, dass mir erlaubt, das anzuschauen, das ich oftmals als ”mich selbst” bezeichnet habe? Ich sehe meinen Körper sich bewegen, ich sehe Energien, oder was auch immer das sein mag, sich in mir rühren, ich sehe meinem Denken zu und oftmals lache ich innerlich laut angesichts der Dinge, die sich da ereignen. Aber, wer lacht da über wen? Es ist und es bleibt verzwickt.
Also da gibt es eine Frage, und ich habe viele Antworten versucht, und keine konnte bisher meinen Anspruch erfüllen. Was tun in dieser Not? Bücher! Natürlich, wenn du etwas nicht weißt, dann lese es nach. Irgendwer hat sich bestimmt schon einmal damit beschäftigt, irgendwer war genauso ratlos wie ich, und vielleicht hat er/sie ein ganzes Leben gebraucht, um eine Antwort zu finden, und, er/sie hat diese bestimmt aufgeschrieben. Ich zumindest würde dies tun. Und so begann ich zu lesen, Wort für Wort, Zeile um Zeile, Buch um Buch, Autor um Autor, und mein Regal für Bücher wuchs und wuchs und wuchs. Vieles habe ich in den Büchern gefunden, brauchbares, unbrauchbares, und so manches meiner Wahrnehmung fand ich bestätigt, so manche Ansicht gestützt und doch, letztlich blieben auch all diese Worte nur Worte. Viele Systeme wurden beschrieben, Möglichkeiten der Erfahrung, ja selbst Ansichten des Seins, aber die eine Frage beantworten konnten sie mir nicht. Die Bücher halfen mir, das auszudrücken, was ich in mir fand, ja, sie halfen mir, eine Sprache zu bilden, um zu verbalisieren, sie halfen mir Vergleichen, Analysieren und all das… Doch die Frage, diese Frage, dieser Abgrund, er ist noch immer ständig präsent.
Viele Anregungen erreichten mich über dieses Lesen, über Philosophie und Yoga, östlich und westlich, von Kontemplation bis zu Meditation, von Tai Chi bis zu Bioenergetik, und alle sagen übereinstimmend: Nur so geht es, nur mit mir kommst du ans Ziel, nur meine Weise ist die Richtige, und schaue nicht nach anderen, habe Geduld und übe, gib dich hin, mache nur weiter dies und das und jenes und … und … und… Und manchmal frage ich mich, was hat das alles mit mir zu tun, was soll ich mit all dem, was soll ich denn bloß davon halten? Und ich erinnere mich eines Wortes, das ich, es ist schon lange her, einmal gelesen habe: Ich weiß, dass ich nicht weiß, dass ich nicht wissen kann, und wenn ich weiß, dass ich nicht weiß, weiß ich mehr als der, der zu wissen glaubt. Lange habe ich über diesen Spruch nachgedacht, und mit jeder Stunde gewinnt er mehr an Sympathie, mehr an Wirklichkeit. Wenn ich also einmal annehme, dass ich nicht wissen kann, was schreiben denn dann all die Autoren in ihren Büchern? Schreiben sie vielleicht nur etwas über DAS, streifen sie vielleicht nur einen kleinen Ausschnitt von DEM, beschreiben sie nur einen winzigen Teilaspekt eines Größeren? Und wenn dann jeder Autor einen Teilaspekt beschreibt, und ich viele Autoren, also auch viele Teilaspekte kenne, dann… und mir kam das Bilds eines Puzzles in den Sinn, und ich begann weiter zu suchen, und ich suche und suche und suche…
Vieles wurde mir auf dieser Suche klarer, vieles von dem, was ich früher nur erahnen, höchstens noch erfühlen konnte, kann ich heute in Worten beschreiben. Und doch sind die geschlossenen Türen nicht weniger geworden, sind die meisten Fragen ungelöst. Zieht man Unendlich von Unendlich ab, bleibt Unendlich übrig. So einfach ist das in der Begrifflichkeit, im Leben aber bedeutet es, vor einem Abgrund zu stehen. Ich habe mich gewöhnt an dieses Loch vor mir, und ich habe keine Angst mehr davor, hineinzuschauen, aber springen? Nein! Das ist etwas ganz anderes. Dazu reicht mein Mut noch nicht aus. Um zu springen muss ich abgeschlossen haben mit diesem Ich, muss ich das Gefühl haben, getan zu haben, was ich tun konnte, muss ich zu der Überzeugung finden, das alles das, was bleibt, springen ist, das alles getan ist außer dem einen. Und so ist mein spiritueller Weg der, zu tun, was noch getan werden muss. Bis dahin, bis alle Schmerzen erlebt, alle Gefühle erfahren, alle Leiden durchlebt wurden, bis wirklich alles getan ist, bis dahin ist noch ein weiter Weg. Mir hilft das Wissen um diesen Abgrund, weiterzugehen, hilft dieses Wissen, das Leben zu leben, es zu leben, so wie es ist. Und eines Tages werde ich wieder vor dem Abgrund stehen, und dann  werde ich  wissen, dass jetzt alles getan ist, werde wissen, dass jetzt nichts zu tun bleibt, als…, und dann werde ich springen, um auch die letzte Antwort zu erfahren auf die letzte Frage, die dann noch offen sein wird:
Was ist das, dass still ist in mir?




Die Sucht nach der Suche

Wir wollen immer mehr: mehr Geld, mehr Status mehr Macht mehr Erleuchtung. Was wir sind, das ist einfach zu wenig. Wir wollen immer besser werden: immer gesünder, immer klüger, immer umfassender informiert, immer erleuchteter. Denn so wie wir jetzt sind, sind wir uns einfach nicht gut genug. Wir wollen haben, haben, haben. Nur sein, das langt uns einfach nicht. Wir sind getriebene; Menschen, die glauben auf der Suche nach sich selbst zu sein und doch nur vor sich selbst davonlaufen. Da wir uns nie gut genug sind, suchen wir nach Menschen, die das erreicht zu haben scheinen, was wir uns erträumen: Erleuchtete, Weise, Meister, Gurus. Und je exotischer sie aussehen und je weiter sie weg sind, desto besser. Wer will schon von seinem Vater oder Mann lernen? Wie langweilig! Da macht es doch viel mehr Sinn (und ist auch ökologisch viel sinnvoller!) ins Flugzeug zu steigen und nach Indien zu jetten, um dort seinen Übervater zu finden. Wer will schon in den Augen der eigenen Mutter bedingungslose Liebe leuchten sehen? Wie öde! Da ist es doch wesentlich aufregender, mit Hunderten anderer vor einer lebendigen Verkörperung der Göttin zu sitzen und sich eine Sekunde lang von ihr umarmen zu lassen. Dass auch die Mutter oder die Frau eine menschgewordene Göttin ist, das ist dann doch zu schwer anzunehmen. Dann wäre man ja wirklich ein Kind Gottes oder gar der Geliebte der Göttin und als solcher vollkommen. Aber wer vollkommen ist, der braucht sich nicht mehr zu verbessern. Und dann? Dann wäre unser Leben sinnlos geworden. Denn der Lebenssinn des spirituellen Suchers besteht ja nicht im Finden, sondern im Suchen. In dem Augenblick, in dem er erkennt, dass er das, was er gesucht hat, immer in sich hatte, wird sein bisheriges Leben sinnlos. Wir suchen ständig nach Gott. Aber wir suchen immer im Außen nach ihm. Und an dem einen Platz, an dem er wirklich zu Hause ist, an dem er immer war und immer sein wird, da suchen wir nie: in unserem eigenen Herzen. “Du brauchst keine Götter zu haben neben mir”, hatte das Herz geflüstert und war prompt als Befehl eines alten Mannes mit weißem Bart missverstanden worden. Seit wir glauben, unser Glück im Außen zu finden, haben wir es nie wiedergesehen, und suchen und suchen und suchen…”
Hanspeter Sperzel (1999)




Allein-samkeit

Der Versuch, dem fesselnden Netz der Konventionen auszuweichen füllte einen großen Teil meines Lebens, und von Gelingen kann ich hier wirklich nicht sprechen. Mildern, oder mir nur etwas größeren Raum verschaffen trifft die Sachlage besser. Gleichgültig ob Schule, Ausbildung, Beruf, Verein, Bekanntschaft oder Beziehung, immerfort und überall stieß ich auf dieses Netz.Dieses Netz ist wie der Krake der Längen- und Breitengrade, der die ganze Welt überzieht. Ihr entkommen zu wollen ist sinnlos, das Entkommen-Wollen aufgeben aber erscheint wie ein Selbstmord in Raten. So wurde mein Leben mehr und mehr zu einem permanenten Ringen, das Kraft forderte und ständige Aufmerksamkeit. Erst jetzt, in der Lebensmitte und fernab der jugendlichen Illusionen endlich lockert diese Krake ein wenig ihren Griff. Viele festen Beziehungen sind mittlerweile in Freundschaft im herkömmlichen Sinne umgewandelt, wenige feste Beziehungen sind und bleiben auch aus meiner Sicht erwünscht, der Sohn ist erwachsen und lebt sein eigenes Leben, mehr und mehr bildet ein jahrzehntelanges Mühen einen relativ sicheren Grund durch die Vermeidung jeglicher Verpflichtung anderen gegenüber, weiterhin wirtschaftlich unabhängig geworden durch Beständigkeit und Nachsicht, konzentriert sich mein Leben heute mehr und mehr auf das Wirkliche, Wesentliche. Entkommen aber, das Netz abgeschüttelt haben gar: Nein, davon kann nicht die Rede sein!

So bleibt nun nur noch zu erklären, was das Wirkliche und das Wesentliche für mich denn sei. Fünf Menschen würden glaube ich fünf verschiedene Antworten geben, und wenn ich diese Antworten dann schaue, dann finde ich sie alle wieder in Büchern und Schriften, die bereits Jahrtausende gestaltet und verdorben zu haben scheinen. Und jede Antwort, die dort schon geschrieben steht, ist für mich wie keine Antwort. Alleinsein folgt keinen Regeln, denn wozu dienen diese im Alleinsein? Alleinsein braucht keine Worte und braucht keine Regeln. Allein nur erscheine ich mir frei, und wo auch das gesunde Alleinsein eines Anderen bedarf, so besteht doch noch die Chance, dann und dort mit wenigen Regeln möglichst frei zu sein. Und dies geschieht meiner Erfahrung nach dann am Wirkungsvollsten, wenn in der gemeinsamen Zeit jeder nur im Interesse des Andern denkt und handelt, das jeweilige Ich zurücksteht und das Du in den Vordergrund rückt. Das ist wohl bemerkt eine gewagte These, zugegeben, aber dem was Liebe bedeutet und wie sie allgemein definiert wird ist dieses am Nächsten. Wo sind nun das Wesentliche und das Wirkliche, von dem ich sprach? Im Alleinsein liegt es in meiner Ansicht jenseits jeder Konvention, in der Zweisamkeit befindet es sich in der Liebe, die „du“ zu „ich“ macht und in einer Gruppe existiert es nicht. Das klingt hart, beschreibt aber meine Erfahrung aus fünfzig wechselhaften Jahren.

Sie sind also immer da, die Fangarme der Krake, beeinflussen immer mein Denken und bedrängen mein Sein. Ich bin trotz Mühen nicht frei geworden, etwas freier vielleicht, mit einer Vision von Freiheit im Kopf, aber was heißt das schon. Ein bisschen Freiheit ist und bleibt ein Widerspruch in sich, und die Vision ist nur eine von vielen. Was bleibt ist die Möglichkeiten auszudehnen, Tau für Tau und Knoten für Knoten zu kappen und stückweise freier zu werden. Das Leben folgt seinem Lauf. Und auch wenn ich diesen nicht nachzuvollziehen vermag, so muss ihm doch entsprechen. Oft gestaltet es sich wie ein Ringen mit unbekannten und unsichtbaren Gegnern, die gerade dann aktiv zu sein scheinen, wenn ich mich zur Ruhe gebettet habe, mich ganz sicher fühle und die mir dann den Schlaf rauben als sei dieser eine Münze, die bei Nacht in einem Gully verschwindet. Aufgeben aber heißt mich selbst morden. Der lebendige Tod ist auch ein Tod, nur erscheint er mir qualvoller zu sein als leben im Mühen! Leben heißt somit für mich letztlich, die Freiheit zu suchen, mich um Freiheit zu mühen, auch wenn das sich nicht immer leicht und locker darstellt und scheitern darin wohl zum Gelingen dazu gehört. Es erscheint sich mir wie der Kopf einer Münze zur Zahl zu verhalten. Sie gehören zusammen und sehen sich doch nicht!




Ich kann nichts dagegen tun …

, „warum ich tue, was ich tue“, und „warum ich nicht ein anderes tue, was ich durchaus auchIch kann nichts dagegen tun, aber immer wieder, unregelmäßig und buchstäblich aus dem Nichts heraus taucht bei mir die Frage auf tun könnte“. Ich habe keine Ahnung, warum diese Frage auftaucht, worin sich dieses Auftauchen begründet und warum sie mir gerade jetzt in den Kopf schießt, wo doch auch so ganz andere Gedanken möglich wären.
Es gibt durchaus Erklärungen. Sie sind rational begründet, angesehen und gelten als berechtigt, sind allgemein verständlich und doch, sooft ich sie mir neu erkläre, sie befriedigen mich nicht. Da ist zunächst der gerne gebrauchte Hinweis auf das Unbewusste, auf die nicht verarbeiteten Erinnerungen, die Bilder oder Geschichten und den Versuch, diesen Missstand zu beheben. Dann finde ich auch gerne die gesellschaftliche Rolle, die ich, erst hineingeboren und später hinein gearbeitet, nun einmal zu spielen habe. Dann gibt es noch Erklärungen, die einen Gott oder ein Schicksal herbeizitieren, die meine Rolle so festgelegt haben, wie sie nun einmal erscheint.
Keine dieser Erklärungen lässt mich heute einen Schlusspunkt setzten unter diese Fragen. Dabei wäre es doch so einfach und auch so normal, dies einfach zu tun. Viele Menschen tun es, und sie stammen aus alle Schichten, wie unschwer in Talkshows und sozialen Netzwerken zu erlesen, zu erschauen und zu hören ist. Viele scheinen zufrieden zu sein und manche sind fast ein wenig stolz, wenn sie die Auswahl ihrer Entscheidung einer breiten Zuhörerschaft zum Besten geben dürfen. Viele scheinen auch glücklich zu sein mit ihrer Antwort. Warum kann ich mich dann nicht auch entschließen, endlich auch diese Auswahl zu treffen und ebenfalls glücklich zu sein? Macht es aber wirklich glücklich, wenn man sich entschieden hat? Was ist mit dem Verlust dessen, gegen das man sich entschieden hat. Was ist mit all den verpassten Gelegenheiten, den nicht wahrgenommenen Möglichkeiten und den vielen ungeschlagenen Schlachten?
Was wäre eigentlich, aus einer widersprechenden Perspektive betrachtet, wenn es zu dieser Frage nach dem „warum …“ gar keine richtige Antwort gäbe. Was wäre, wenn diese Frage gar nicht beantwortet werden will, sondern sich immer nur dann in einen Kopf schöbe, weil die gleiche Frage zu einer anderen Zeit immer auch eine andere Antwort erhalten kann? Sie wäre damit zu keiner Zeit abschließend festlegbar, wäre nicht beantwortbar. Was heute noch eindeutig und klar mit „nein“ beantwortet werden muss, kann morgen bereits durch andere Voraussetzungen, durch Entwicklung und neue Perspektiven zu einem eindeutigen „ja“ herausfordern. Vielleicht ist es besser, sich nicht wirklich grundlegend zu entscheiden, sondern die Entscheidungen nur so weit zu setzen, wie es unbedingt notwendig erscheint. Und morgen wäre dann eine neue Entscheidung möglich?
Unentschiedenheit erscheint anstrengend, gewiss, und Entschiedenheit fordert wahrscheinlich Opfer, sicher. Und stehen sich diese Möglichkeiten wirklich so unversöhnlich gegenüber? Zu dem „ja“ und dem „nein“ könnte sich ein „weder noch“, vielleicht auch noch ein „sowohl als auch“ gesellen, und als letzter Ausweg bliebe noch, der Frage zu widerstehen und sie offen stehen zu lassen, sie zu ignorieren oder gar auszusitzen. Und mehr Möglichkeiten zu gewinnen, so sagt man oft, ist doch immer auch ein Vorteil. Allerdings wäre die Welt weniger übersichtlich, noch schlechter überschaubar und vielleicht sogar ein wenig verwirrend.
Ich würde mich dabei entschließen müssen, einen Mittelweg zu gehen, manches zu entscheiden, manches aufzuschieben, hier zu kämpfen und dort vorsichtig zu sein, hier zu fordern und dort nachzugeben. Und gut zu vermitteln wird dieser Mittelweg auch nicht sein, lieben Menschen doch Klarheit und Kontinuität. Und doch, dieser dritte Weg hat seinen ureigenen Charme.
Nun denn, heute werde ich diesen grauen Weg wohl wieder gehen, und morgen?
Morgen ist nur … ein anderer Tag.