Gelingende spirituelle Praxis – Unterricht vs. Übungsstunde

Wir erleben gerade jetzt in den Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und der Schließungen von Studios und Praxen, wie wichtig es ist, das spirituelle Praktiken wie Yoga und Meditation in ihren vielfältigen Formen nicht nur unter gruppendynamischen Voraussetzungen praktiziert werden können, sondern das jeder Einzelne in seiner ganzen Individualität in der Lage sein muss, für sich und zu Hause zu üben. Dazu wäre es notwendig, die Praxis der Spiritualität nicht nur als Übungsstunden in Studios anzubieten, sondern diese wunderbaren Erkenntnisse der Meister der Vergangenheit immer auch zu unterrichten und dafür Sorge zu tragen, das wirklich jeder zu jeder Zeit seinen spirituellen Sehnsüchten nachgehen kann. Vielleicht bestätigt die Pandemie-Zeit, die wir gerade erleben, diese meine Ansicht.



Unterrichten heißt konkret, nicht nur die oberflächliche Praxis weiterzugeben, also Übungsstunden anzubieten, sondern auch über Hintergründe, über Methoden, über Aufbau und Abfolgen und die Möglichkeiten, Informationen zu recherchieren und Erkenntnisse zu schöpfen gesprochen werden muss. Wie baut sich zum Beispiel eine Übungspraxis im Yoga auf, worauf ist bei Zusammenstellungen von Übungsreihen für die eigene Praxis zu Hause zu achten und wie kann ich mich selbst dazu motivieren, um, wie beim Beispiel Yoga, auf die Matte zu gehen, oder beim Beispiel Meditation sich aus sein Kissen zu setzen und zu üben. Und gerade diese Informationen müssen nicht nur in Lehrer(innen)-Ausbildungen, sondern auch und ganz besonders und von Anfang an in der ganzen Breite der Teilnehmer(innen) gestreut werden. Das erfordert Aufwand, Geduld und großen Einsatz in der Ausbildung von Lehrer(inne)n, erfordert Geduld und Einsatz im alltäglichen Unterricht von den Lehrer(inne)n und viel Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft einschließlich Geduld, besonders wegen häufiger Wiederholungen des Stoffes, bei den Übenden. Und vielleicht ist es eine Überlegung wert, sich einmal Gedanken zu machen über die Grundlagen, die wir mitbringen müssen, um überhaupt eine spirituelle Praxis beginnen zu können. In meiner Beobachtung sind viele seltsame Vorstellungen, Erwartungen und Einstellungen zu diesen Themen in der Breite der übenden Menschen zu verzeichnen, die sich, etwas kabarettistisch ausgedrückt, auch oftmals aus wissenschaftlicher Sichtweise in Phantasie- und Märchenwelten bewegen und die in ihren Aussagen durch nichts zu belegen sind. Das macht sie aber nicht deshalb allein schon falsch. Jede Ansicht, auch wenn sie den Wissenschaften, den Traditionen und den allgemein als anerkannt geltenden Möglichkeiten widersprechen, sind ernst zu nehmende Wirklichkeiten eines Menschen.



Weiterhin werden im Grunde in üblichen Übungsstunden nur die Vorzüge und ganz tollen Ziele und Möglichkeiten einer Praxis betont, selten aber wird vor den Gefahren und den unvermeidlichen Folgeerscheinungen gewarnt, die eine Praxis immer, und das nicht nur bei falscher körperlichen Anwendung, heraufbeschwören kann. Jede Körperarbeit birgt auch Gefahren, jede Vorstellungswelt beeinflusst das alltägliche Leben und jeder neu geweckte Wunsch nach Verbesserung, Bewusstseinsweitung, Optimierung oder Spezialisierung der persönlichen Möglichkeiten birgt Konsequenzen. Und jede Konsequenz verändert das alltägliche Leben.

  • Nahezu jeder Mensch unserer Gesellschaft lebt in einer Beziehungsstruktur, hat Freunde, Verwandte, Kollegen, Nachbarn und Tätigkeitskreise privater Natur, die stets ihre Sicherheit dadurch erhalten, ihre Mitglieder in gewohnter Weise zu erleben. Verändert sich Verhalten und/oder Ansichten eines Mitglieds, steht dessen Teilhabe an den gewohnten Strukturen in Frage. Besonders dann, wenn die spirituelle Praxis greift und mehr und mehr nicht nur als Ausgleichssport betrachtet wird, sind Auswirkungen auf das private Umfeld unabwendbar.
  • Körperliche Übung jeder Prägung verändern die Struktur und das Verhaltensmuster unserer Körper, verändern die Art und Weise des Fühlens und Erlebens. Außerdem verändern sie ebenfalls die Struktur unserer physischen Hülle. So wird beim Yoga die Muskulatur weicher, die Bewegungsmöglichkeiten weiten sich, oftmals auch ungewollt, und stellen damit ganz andere Anforderungen an die Belastungen des Lebens. Mit weicher Muskulatur und hoch-beweglichen Gelenken muss einfach anders umgegangen werden. Sie brauchen zur Sicherung der Stabilität andere Trainingsinhalte und hier und da natürlich auch Schutz vor übergroßer Belastung. Besonders die Saisonsportarten wie Skifahren sind hier ohne ausreichendes Vorbereitungstraining in der Ausübung problembehaftet.
  • Weiterhin seien hier Praktiken wie die Meditation oder das Pranayama angesprochen, die die Sensibilität und Wahrnehmung des Übenden deutlich erweitern können. Man muss dabei wissen, das dieses eben nicht nur in der Richtung „positiv“ stattfindet, sondern das dieses immer für das ganze Spektrum gilt. Auch als negativ geltende Wahrnehmungsmöglichkeiten werden erweitert und nicht jedem Menschen gefällt das auf Anhieb. Die beiden genannten Praktiken verändern aber nicht nur die Wahrnehmung des Übenden, sondern dieser wird in der Folge auch von seiner Umgebung anders wahrgenommen. Auch das muss man mögen und verarbeiten, und manchmal habe ich den Eindruck, das viele darauf einfach schlecht vorbereitet sind.

Es sei noch einmal angemerkt, das ich hier in diesem Artikel nicht von den Übenden spreche, die spirituell wirksame Übungen wie Yoga als Ausgleich für Berufsbelastungen, als Vorbeugung vor Krankheiten oder als Gesundheitspflege praktizieren. Ich spreche vielmehr von den Übenden, die gepackt werden von der Sehnsucht nach Veränderung des eigenen Seins, sei es die gefühlte eigene Rolle in der Gesellschaft, sei es die eigene Wahrnehmung oder auch die erlebte Wahrnehmung durch andere [1. Ich zum Beispiel war, solange ich zurückdenken kann, d.h. schon in der Familie, in der Schule, im Beruf und hier und da auch bei Freizeitaktivitäten, Mobbing-Aktivitäten anderer ausgesetzt und habe mich daher zu einem Einzelgänger entwickelt, was weitere Probleme mit sich brachte, da unsere Gesellschaft das Einsiedeln generell skeptisch betrachtet. Um zurückzufinden bzw. die größten Problemfelder meines Lebens zu begrenzen, habe ich mit Karate-Do, Yoga und wenig später mit einer Meditationspraxis begonnen. Heute bin ich zwar gefühlt immer noch Einsiedler, aber ich habe durch diese Praxen gelernt, mich relativ problemlos in sozialen Umfeldern zu bewegen, zumindest, ohne groß anzuecken oder aufzufallen.].

Woran arbeitet eine spirituelle Praxis eigentlich? Was sind dabei Zielvorstellungen und wie sind diese zu erreichen? Was an den Beschreibungen ist Mythos und was ist erreichbar? Und welche Voraussetzungen muss ich mitbringen, damit eine Praxis dieser Art gelingen kann? Das sind die Fragen und Felder, die einer Antwort bedürfen.



Was den Menschen auszeichnet und vor vielen anderen Lebensformen unterscheidet, ist seine Neigung, Beziehungen aufzubauen und so mit anderen zusammen zu arbeiten, das sich auch große Aufgaben bewältigen lassen. Wir haben heute in der Menschenwelt eine hoch differenzierte Arbeitsteilung, so das nahezu jeder hochspezialisierte Leistungen zu erbringen vermag. Diese werden dann allen anderen zur Verfügung gestellt, so das schlecht erfüllte Aufgaben wie die Herstellung von Waren oder die mangelhafte Bereitschaft zu Dienstleistungen nur selten in Erscheinung tritt. Wie jeder nachvollziehen kann, beschreibt dieses einen Idealzustand. Aber auf diese Weise hat der Mensch tatsächlich seine Vorherrschaft und seine Räume in der Welt geschaffen und diese gegenüber anderen Lebensformen dauerhaft verteidigt. Allerdings befeuern die Systeme und Einrichtungen, die dafür notwendigerweise geschaffen wurden, auch große Verwerfungen innerhalb der Menschenwelt. Genannt seien Armut und Reichtum, Macht, Ohnmacht und Krieg, Krankheit, Schwäche und Siechtum sowie die allgegenwärtige Angst, innerhalb der Menschenorganisationen durch den Rost zu fallen, sprich allein zu sein und keine Hilfe bzw. Teilhabe durch andere mehr zu erhalten. Was wir heute als vordringliche Beschränkung des Menschen in westlichen Gesellschaften erkennen können, ist, das Angst mehr und mehr einem Grundmotiv des Denkens wird. Die Angst vor den Paketen Krankheit, Armut, Ohnmacht und dem Alleinsein sind die Grundängste, die dann zu Gier, Hass und Verblendung [5. Wie das z.B. in der buddhistischen Terminologie genannt wird.] führen. Diese werden, um aktiv sein und wirken zu können, stets begleitet von einer gehörigen Portion Nichtwissen, den sich daran anschließenden Irrtümern und somit von einer falscher Selbsteinschätzung. Und genau hier setzt jede spirituelle Arbeit zunächst einmal an. Die richtige Einschätzung der Stärke seines Körpers, Erkenntnisse über dessen Funktion und Möglichkeiten sind ein Grundpfeiler jeder spirituellen Arbeit. Ein weiterer Grundpfeiler ist im Erkennen seines Nichtwissens angelegt, das in seiner Folge ja die vielen Irrtümer erst möglich macht und die dann zu zusätzlichen Problemen des Lebens führen. Jede spirituelle Arbeit beginnt daher damit, eine richtige Selbsteinschätzung zu generieren. Ein weiteres Feld sind Erkenntnisse über die vielfältigen Konzepte und Konventionen, die dem Einzelnen vorschreiben, wie und in welcher Form er zu leben habe und die häufig einer spirituellen Öffnung im Wege stehen. Aber auch jede spirituelle Tradition schreibt eine spezielle Form vor, in der das „richtige“ Denken sich einzufinden habe, um dabei sein zu können/dürfen. Das ist zeitweise notwendig und wichtig, darf aber nicht zu einem neuen Dogma gerinnen. Dann wäre es keine Öffnung mehr, sondern nur ein Wechsel in eine andere Anschauung. Und dann seien noch die vielen Gruppendynamiken erwähnt, die gerne dazu führen, das der Einzelne eben nur noch genau das macht und für möglich hält, was seine Freunde, Mitstreiter und was alle anderen, durch die Medien dargestellt, auch machen.

Eine Selbsteinschätzung und/oder eine eigenständige Entscheidung, die zu einem spirituell wirksamen Weg führt, kann aber nicht in Wort, Schrift, Bild oder Film weitergegeben werden. Man erkennt das daran, das viele Bücher von vielen Menschen gelesen werden, aber nur wenig des Inhalts jemals umgesetzt haben. Das ist in der Arbeit mit Büchern menschlich und durchaus normal. Ganz anders ist die Arbeit mit kompetenten Lehrern. Sie erfolgt hier fast ausschließlich aus der Zwiesprache zwischen Lehrer und Schüler und über den Umweg von „Erfahrungen machen können“. Der Lehrer hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen und Übungen zu schaffen, diese auszuwählen, diese so zusammenzustellen, das sie einem Schüler die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu machen, dieser also etwas bemerkt, erkennt, realisiert, was ihn direkt angeht. Aus dieses Erfahrungen heraus generieren Körper und Geist das Wissen, das dann zu einer anderen Selbsteinschätzung führt. Es sind also Erfahrungen, die das Rad der Veränderungen in Gang setzen. Und wer jemals einem Kind beim „Laufen lernen“ zugesehen hat, versteht, was ich hier auszudrücken versuche. Sind erste Erfahrungen eingetreten, wirken diese als Motiv für das Weitermachen. Das Rad dreht sich weiter und weiter. Neugierde, wie weit das noch gehen kann, sich das noch öffnen wird, kommt bald hinzu und lässt das Rad sich immer weiter und weiter drehen.

Dieses Rad setzt die spirituelle Entwicklung in Gang, körperlich, mental und geistig. Sie wird oftmals als Sehnsucht ausgedrückt, Sehnsucht nach einer Veränderung meines Seins, welche sich in Ruhe, Gewissheit, Mut und Gelassenheit ausdrückt und als innerer Frieden wahrgenommen werden kann. Die Angst weicht dann der mutigen Gelassenheit, der Aufschrei verhallt in der Stille, und vieles von dem, was ein Leben erstickt hat, weicht vor der Freude am Leben zurück, die im Raum von Stille und Gelassenheit langsam aber stetig sich immer weiter ausbreitet. Und plötzlich hat sich das Leben gewandelt, die frühere Selbsteinschätzung verliert ihre Wichtigkeit, denn allem voran bestimmt jetzt die Freude am eigenen Sein die Abläufe des Tages. Widerstände werden aufgeben, die Ansichten anderer sind und bleiben zwar wichtig, berühren aber mein Sein innerlich nur wenig. Ich stehe dann fest und sicher auf dem Boden des Lebens, spüre Freude und Stille in mir und bin begeistert angesichts der wiederentdeckten Buntheit der Welt. Ich habe mein Leben zurück gewonnen.



Kommen wir nach diesem kleinen Ausflug zurück zur Praxis. Wir müssen als erstes einmal uns über Motivation und die Hintergründe unseres spirituellen Übens klar werden. Dazu kommt dann die Selbsteinschätzung, von der ich oben bereits gesprochen habe, die uns bewusst sein muss, um überhaupt Veränderungen zu bewirken und diese dann auch erkennen zu können. Dann muss ich mir, um zu verstehen, Einblick und Zugang in die Systematik der begonnenen Übungen erarbeiten, um zu begreifen, was ich da eigentlich tue, weil nur Verstehen Wissen erzeugt und mir das ein gewisses Maß an Sicherheit bietet. Wenn ich dann alles zusammenstelle, ich also weiß, warum und weshalb ich übe, wenn ich weiß, wie mein Üben wirkt und was es zu erreichen im Stande ist, kann ich mich auch selbst motivieren zu üben und bin erstmals in der Lage, einerseits für mich eine Entscheidung zu treffen, darauf folgend mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und dieses vielleicht sogar zum Positiven zu wenden, sei es bezüglich Gesundheit, Mut, Gewissheit oder Sicherheit. Wie geschieht das alles in der alltäglichen Praxis? Wie bereits angeführt, brauche ich von Zeit zu Zeit einen kompetenten Lehrer(in) als Gesprächspartner [4. Das kann auch ein(e) Freund(in) sein, der neben mir seine spirituelle Praxis übt, die gleichen Stunden besucht oder unter der gleichen oder einer vergleichbaren Tradition für sich arbeitet.], mit dem ich Zwiesprache halten kann und mir so hilft, zu verstehen. Dazu bedarf es eben nicht nur der Übung, sondern des Unterrichts oder zumindest eines Blickes von außen. Dieses wird mich in die Lage versetzen, eigenständig und ohne Aufforderung von Seiten einer Autorität [2. Diese kann auch Krankheit sein, Überlastung oder Stress…, weil mich auch diese unter Druck setzen können.] meine Übungen durchzuziehen. Ich empfehle dazu in etwa die nachfolgende Konfiguration. Wichtig ist es, täglich zu üben. Dazu genügt eine sinnvolle und meinen jeweiligen Anforderungen genügende Kurzübungspraxis von 10 bis 30 Minuten bei Körperübungen und/oder zwei Standardrunden [3. Standardrunden in der Meditation sind so viele Minuten lang, wie ich dies mir vorgenommen habe oder wie es mein Lehrer(in) mir empfiehlt. Das können 5 Minuten sein, aber auch die klassischen 25 oder sogar länger…] in der Meditation. Dann sollte ich mindestens einmal pro Woche bei den Körperübungen eine allgemeine Praxis durchführen, die alle Körperpartien arbeiten lässt und im Falle von Yoga mindestens 90 Minuten andauert. Entsprechend wären in der Meditation dann dreimal zwei Runden zu meistern. Und dann ist es notwendig , innerhalb von zwei bis vier Wochen einmal mit einem Lehrer(in) oder einem Freund zusammen zu arbeiten. [3. Das kann in Zeiten von Pandemien auch über Telefon, Skype oder Zoom erfolgen, wenn ein direktes Zusammentreffen nicht möglich ist.] Mit diesem(r) sollte ich meine Fragen besprechen, mir die Richtigkeit und Wirksamkeit meiner Praxis bestätigen lassen und er/sie gibt mir Ratschläge und Anregungen für mein weiteres Vorgehen. Und natürlich erhöht diese Bestätigung meine Motivation, auch in Zukunft weiter zu machen.

Sollten Sie also die Sehnsucht verspüren, ihre spirituelle Praxis auch in der Zeit einer Pandemie weiterzuführen, empfehle ich die oben beschriebene Vorgehensweise. Machen Sie eine kurze tägliche Praxis, nehmen Sie sich einmal in der Woche die Zeit, grundlegend zu üben und halten Sie den regelmäßigen Kontakt zu einem/ihrem Lehrer(in) aufrecht oder versuchen Sie, einen solchen aufzubauen. Stellen Sie sich und anderen Fragen, lesen sie nach, recherchieren Sie und versuchen Sie zu verstehen, was Sie da und wofür Sie das eigentlich tun wollen. Ihre Sehnsucht [4. Sehnsucht: inniges, schmerzliches Verlangen…] hat einen Grund. Sie bezeichnet eine Lücke, einen Mangel oder oft sogar eine Möglichkeit, die sich gerade offenbart und die Sie wahrnehmen sollten. Der Sehnsucht zu folgen und damit auf einem ihrem Inneren entsprechenden Weg zu sein macht Sie glücklich und zufrieden. Nutzen Sie die Chance, die sich gerade jetzt bietet, wo mögliche gesellschaftliche Ablenkungen auf ein Minimum geschrumpft sind!




Spiritualität ist der Weg in der Mitte

Wo immer ich heute diskutiere [1. Diskussionen sind notwendig, auch und besonders über Politik und Gesellschaft im globalen Maßstab, da der Verdacht nicht wirklichkeitsfremd erscheint, dass zunehmend mehr und mehr Regionen der Welt aus den Fugen geraten und der allgemeine Trend der zu beobachtenden Akzeptanz mehr und mehr den Krieg als Mittel der politischen Auseinandersetzung wieder mit einschließt.] sehe ich mich mit der oft auch ungestellten Frage konfrontiert, warum ich mich selbst eigentlich so umfangreich mit Spiritualität befasse, wo die Welt und deren Konstruktionen doch viel mehr der Aufmerksamkeit bedürften. Die Frage ist berechtigt, ist nachvollziehbar und in der Wichtigkeit der Beantwortung auch hoch zu priorisieren. Aber sie geht von der Annahme aus, dass Spiritualität (Geist, Geisteswissenschaft, Religion) zur Weltlage keinerlei Beitrag leisten könne. Diese Annahme ist falsch, und daher möchte ich nachfolgend  verständlich versuchen, diese Annahme zu begründen und für ihre Beachtung zu werben.

Spiritualität beschäftigt sich mit dem Mensch-Sein an sich, beschäftigt sich mit der Frage, was der Mensch sei, warum er das ist und wohin die Reise gehen könne, allerdings betrachtet der fragende Mensch diese Aufgabe nicht aus einer objektiven, sondern vielmehr aus einer subjektiven Sicht oder Perspektive. Daher lautet die objektiv perspektivierte Frage „Was ist der Mensch?“, aus der subjektiv perspektivierte Sicht aber „Was bin ich?“ und folgerichtig in der Erweiterung „Was ist mein Weg?“. Des Weiteren wird auch im Beantwortungsversuch nicht die Perspektive eingenommen, was muss sich in der Welt, in anderen Menschen ändern, sondern die Antwort wird immer lauten müssen, „Was und wie kann ich mich verändern?“, um damit auch die mich umgebende Welt in die Veränderung (Verbesserung) mitnehmen zu können. Richtig ausgesprochen beschäftigt sich Spiritualität heute mit dem Subjekt, das je nach Tradition „Ich“, „Selbst“ genannt wird oder sogar unbenannt bleiben kann. Daher ist die Beschäftigung mit Spiritualität auch schwierig, besser gesagt abstrakt  und erschließt sich erst nach ausgiebigem Studium. Viele Schriften der Vergangenheit sind auch in ihrer Sprache ungewohnt facettenreich, bedienen sich Bildern und Aphorismen [2. Ein Aphorismus ist ein Gedanke oder ein Urteil, das aus wenigen Sätzen selbständig bestehen kann.], was darauf zurückzuführen ist, das in der Zeit ihres Entstehens die wissenschaftlich Begrifflichkeit der heutigen Zeit noch nicht erfunden oder gebräuchlich war.

Spiritualität fragt also danach, wer ich selbst als Fragender wirklich bin. Da ich selbst als Subjekt nicht mich selbst als Objekt beobachten kann, muss ich die Perspektive der gebräuchlichen Beobachtung (Ich als Subjekt sehr ein Objekt) aufgeben und bin gefordert, eine für die Aufgabe bessere, brauchbareren Blickwinkel zu finden. Alle Techniken der Spiritualität (Meditation, Zen, Yoga, TaiChi) bearbeiten diesen Schritt, diesen Sprung, der zu einer anderen Sichtweise auf die Welt, nicht auf die uns umgebende, sondern die uns beinhaltende Welt, führt. Dabei erfahren wir (Spiritualität baut, da tiefe und innere Vorgänge und Verbindungen nicht belegt, nicht bewiesen werden können, auf Erfahrung auf und nicht auf Wissen), wie vernetzt wir in Wirklichkeit sind und wie verstrickt und wie verbunden wir ins Netz des Lebens eingewoben sind. Diese Erfahrung (Wir haben erfahren, dass es so ist; daher wissen wir, wie es ist.) letztlich bewirkt, dass es uns nicht gleich sein kann und darf, was um uns herum geschieht. Wir sind in jedem Fall betroffen, nichts geschieht ohne Rückkopplung auf uns selbst.
Für das Leben in der Gemeinschaft, dazu gehört, da das Netz des Lebens nicht an der Grundstücksgrenze, an der Ortsgrenze und der Landesgrenze aufhört und neu beginnt, der ganze Globus, ergeben sich ungewohnte und bedeutende Schlussfolgerungen, in denen „interessiert mich nicht“ oder „ist für mich weit weg“ nicht mehr vorkommen können. Unsere Verantwortung weitet sich auf das ganze Lebensgefüge aus. Es gibt keine Schubladen mehr. Alles was Leben trägt, unterstützt, möglich macht oder beeinflussen kann wird wichtig. Das aber sollte dann nicht ins andere Extrem (Von „der Mensch darf alles, ich darf alles tun“ bis „ich darf gar nichts mehr tun, wenn…“)  ausgedehnt werden, wo nahezu alles heilig wird. Die Natur und die sie bildende Evolution besitzen auch den Grundsatz „Fressen und gefressen werden“. Darüber kann, darf und sollte man sich nicht erheben wollen. Es ist das Maß, das hier eine Rolle spielt, es ist das Gefühl von Gerechtigkeit, von richtig und falsch, das hier eine mit in die Betrachtung einfließen muss. Der Weg liegt in der Mitte. Er fordert Balance und Neuausrichtung zu jedem beliebigen Zeitpunkt, ist immer in Bewegung, ist immer neu.

Der Unterschied von Wissen und Erfahrung ist der, das Wissen festgefügt ist und Erfahrung sich allgegenwärtig anpasst. Diese Mitte, die wie eine Schlangenlinie sich vorwärts bewegt, ist der Weg der Erfahrung, Spiritualität ist der Weg der Erfahrung. Dieser Weg ist nicht ausgeschildert, ist nicht bekannt, ist nicht lern- oder planbar. Er kann nur erfahren werden, wenn er gegangen wird. Daher ist Erfahrung die Grundlage von Spiritualität. Soweit die Theorie. Wie aber geschieht so etwas in der Praxis?

Zunächst einmal ist wichtig zu verstehen, wie Glaubenssätze und -inhalte entstanden sind und wie sie ihre Bedeutung wechseln. Nehmen wir die oft publizierte und vertretene Ansicht, echte Yogi(ni)s ernähren sich selbstverständlich vegetarisch. Nun ist es sicherlich gut und gültig, sich so zu ernähren, nur, mit Yoga hat diese Ansicht ursprünglich nichts zu tun. Keine der wichtigen Schriften des Yoga (Hatha Yoga Pradipika, Patanjali Sutras, Upanischaden) schreiben eine Ernährungsweise vor. Ernährung muss die Lebensumstände berücksichtigen, unter denen Menschen  leben. Dazu sind die Belastungen der Menschen im Alltag, die sie umgebende Natur samt Klima, Vegetation und Temperatur heute auch Infrastrukturen zu berücksichtigen. In den Großstädten der Welt kann jeder Ernährungsstil, so man ihn sich leisten kann, verfolgt werden,  in der Trockenheit einer Wüste, im Sumpf der Tropen wird das deutlich schwieriger, auf der Hochebene von Tibet, vielleicht noch abseits der großen Handelswege, ist das schier unmöglich. Weiterhin sind Menschen untereinander verschieden geprägt und ausgestattet. Manche können essen was sie wollen, ohne anzusetzen, andere werden satirisch gesagt schon beim Gedanken an Essen zunehmen…, so dass immer von Fall zu Fall entschieden werden müsste. Zu berücksichtigen ist auch, ob und welche Ernährungsweise über Jahrzehnte gefahren wurde. Eine überschnelle Umstellung hat dann immer auch Konsequenzen in der Versorgung, die Entzugserscheinungen ähnlich sind. Im Grunde finde ich es vernünftig, die Entscheidungen darüber nicht vorzufertigen, sondern sie jedem selbst zu überlassen. Das heißt auch, als Yogalehrer oder –schule nicht für eine ganz bestimmte Art sich zu ernähren zu werben.

Dann, als weiteres Beispiel, sind alle Schriften immer in den Lebenskontext eingebunden, in dem der Schreiber lebte und arbeitete. Zum Kontext gehören gesellschaftliche Organisationsformen, gelebte Religiosität einschließlich deren Tabus und auch die Möglichkeiten von Zeit- und Machtmanagement. Diese Motive, als Kultur zusammengefasst, bestimmen stark die Lebensumstände, denen auch der Schreiber der Schriften unterworfen ist. Dieses Alles kann mit dem Zustand heute einerseits nichts mehr zu tun haben, kann andererseits auch vollkommen falsch oder immer noch richtig sein. Weil viele Menschen eine bestimmte Meinung vertreten, muss es aber nicht zu jeder Zeit und immer für alle gültig sein. Hier sind Übersetzungen und oft auch Neuausformungen wichtig, um die Umstände für jetzt und hier einzubetten. Sehr schön ausformuliert ist dieses Prinzip in den Kalama Sutta, einem Brief Buddhas an eine seiner Gemeinden:

Kâlâma- Sutta (Anguttara Nikâya III. 66)

Geht nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber selber erkennt: diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden, dann möget ihr sie aufgeben.

Die beiden Beispiele (Ernährung, Kontext des Schreibers) machen deutlich, dass wir alles Wissen, alle Ansichten, Meinungen und auch die Auswahlen, die wir getroffen haben, immerzu und jederzeit alles infrage stellen dürfen und dieses, wenn wir ehrlich sind, auch müssen. Das genau ist ja Spiritualität, das ist der Weg der Mitte. Nichts gilt für immer, denn: was heute richtig ist, kann morgen falsch sein, was heute super funktionierte kann morgen in einer Katastrophe enden. Nichts ist endgültig, fertig oder abgeschlossen. Nichts existiert für sich allein und ist getrennt vom Ganzen. Alles ist Eins.

Frei übersetzt und zusammengefasst, kann man sagen, dass diese Ausrichtung nicht nur für Spiritualität gilt, sondern das ganze Leben durchziehen sollte. Auch in den vielen anderen Bereichen des Alltagslebens, von der Arbeitswelt bis zum Urnengang bei politischen Wahlen, sollte geprüft und immer wieder hinterfragt werden. Es gelten fast immer die nachfolgenden und daher zu Recht berühmten Sätze:
„Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ -Heraklit von Ephesus- und
„Um klar zu sehen genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“ -Antoine de Saint-Exupéry-




Beweglich statt gesund und Akrobatik statt Haltung?

Wir leben heute in einer Zeit, in der Spirit(ualität) eine Chance hat, sich auszubreiten und etwas zu bewirken. Yoga, Meditation, Langsamkeit, Achtsamkeit und Konzentration ist in aller Munde, wird millionenfach praktiziert und sollte langsam doch auch greifen!? Diese Hoffnung motiviert mich jetzt schon seit zwanzig Jahren, und wenn ich die Augen öffne, soweit wie möglich vorurteilsfrei schaue sehe ich eher das Gegenteil eintreten. Die Menschen werden mehr und mehr zögerlich, sind zunehmend abgelenkt, bringen einfach erscheinende Dinge nicht mehr zusammen und zeigen sich hilflos und verwundbar.

Die Medien nennen diese Neigung meist Angst, stellen diese dann als unbegründet dar und verstehen nicht. Liegt das jetzt auch in der großen Beliebtheit von Praktiken wie Yoga und Mediation und deren Struktur begründet? Oder sollten wir die Ursachen nicht doch besser bei der Unfähigkeit der Menschen suchen, Erkenntnis praktisch umzusetzen, und die nicht mehr verstehen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie leben. Diese Frage so gestellt wirkt auf mich wie die Gesellschaftsfrage, ob denn Revolution oder Resignation (laufen lassen…) der richtige Weg sei, eine Verbesserung herbeizuführen. Die Frage ist in meiner Auffassung nach einfach falsch gestellt und die Methoden, die dabei zu einer Be- oder Verurteilung anstehen, werden einfach nicht verstanden. Yoga und Meditation sind die Techniken, mit denen ich mich beschäftige. Lassen Sie mich daher an deren Beispiel etwas zu Klärung der Problemstellung beitragen.

Wenn ich mit Yogaaktivisten spreche oder über Yoga lese, habe ich manchmal den Eindruck, man setzt ganz allgemein beweglich mit gesund und Akrobatik mit Haltung gleich. Das stimmt aber so nicht. Yogaübende werden sicherlich feststellen, dass sie im Laufe der Übungsjahre zunehmend beweglicher werden. Das ist richtig. Doch das ist nicht das Ziel der Übungen, sondern ist mehr kollateral zu sehen. Yogaübungen sollen unter anderem auch von Verspannungen befreien, richtig. Sie sollen andererseits aber auch gesunde Spannungen – ich nenne das Tonus – erhalten, denn diese sind wichtig für ein erfülltes Leben. Hier ist das Maß die Mutter aller Dinge. Und dieses Maß ist individuell unterschiedlich und kann daher nicht über einen Kamm geschoren werden. Die meisten Menschen kommen mit einer durchschnittlichen Beweglichkeit ganz gut zurecht. Sie möchten schmerzfrei und leicht die Dinge tun können, die ihnen vorschweben und die sie glücklich machen. Die Intention zu üben (die Absicht, wegen der eine Übungspraxis ausgeführt wird) ist von der Beweglichkeit her bei einem Balletttänzer sicher anders ausgeprägt als bei einem Schachspieler. Daher stellt ein Yogalehrer seinen Kursteilnehmern auch oftmals die einfache Frage: Wohin und was genau willst du? Schmerzfreiheit ist eben anders zu erreichen als ein Sitzen-können im Lotus. Natürlich sind es immer die gleichen Übungen, die verwendet werden können. Aber die Intension (die Intension eines Begriffs ist die Menge der Merkmale, durch die die Übung charakterisiert wird), die der Übung beigemessen wird, ist dafür anders ausgelegt. Der Balletttänzer wird eine hohe Beweglichkeit und Leichtigkeit in der Bewegung beabsichtigen, der Schachspieler möchte eher lang und stabil sitzen können wollen. Bei beiden ist die Konfiguration (Zusammenstellung) der Elemente ganz unterschiedlich zu gestalten. Gesund ist eine ausreichende Prägung von Spannung und Beweglichkeit für das im Alltäglichen zu führende Leben.

Ein ähnliches Bild entsteht bei der Betrachtung der Begriffe Akrobatik und Haltung. Für mich ist die äußere Form der Ausführung keine Haltung, sondern eine Pose (bewusst eingenommene Stellung des Körpers, um ein bestimmtes Ziel damit zu erreichen), die in ihrer Wirkung zu Haltung (innere Einstellung; die Verfassung, das Auftreten) führen kann. Hier ist die Pose praktisch das Akrobatische und die innere Einstellung die Haltung. Akrobatische Posen zu beherrschen ist ein wunderbares Hobby, weil hier Demut (Scheitern können) und Hartnäckigkeit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gelernt  und verbessert wird. Aber sicher nicht alle Yogaübenden wollen ihr Tun so als Hobby bestreiten. Viele kommen wegen physischer oder psychischer Defizite erstmals mit Yoga in Berührung, andere wollen vorbeugen oder einfach nur unter freundlichen Menschen sein. Dafür erscheint Akrobatik doch mehr fehl am Platze. Natürlich möchte ein Yogi irgendwann sicher auf dem Kopf stehen oder seine Beine im Lotus falten können, aber ersteres erfordert Belastungsgewöhnung und letzteres ausreichende Dehnung. Beides ist aber mit immerwährender Leichtigkeit und Entspannung allein nicht erreichbar.

Wo wir in Yoga und Meditation  -welche zu Yoga gehört wie Asana- zu deren positiven Wirkungen hinarbeiten ist Haltung im oben genannten Sinne. Das beschränkt sich, worauf der Begriff innere Einstellung schon hindeutet, nicht allein auf das korrekte Ausführen der Pose, sondern ist eine Gesamtansicht der Intention samt Intension und Haltung nach vorheriger Definition im gesamten Lebensgefüge des übenden Menschen, das heißt: 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr und angepasst an wechselnde Körperkonstitutionen, an das ansteigende Lebensalter und natürlich das Geschlecht. Da ist oftmals auch Genügsamkeit gefragt, denn wir haben nur einen Körper für ein Leben. Wenn wir ihn zerstören oder verderben, ist ein glückliches Bewohnen desselben nicht wahrscheinlich. Ich empfehle allen, die sich mit Yoga beschäftigen, sich darüber klar zu werden, warum sie das tun. Wenn sie die dabei mögliche Akrobatik einfach nur geil finden und sich dabei sauwohl fühlen, schön, etwas Haltung bleibt sicherlich hängen. Auch das ist Klarheit. Alle anderen müssen sich überlegen, wie sie die Übungen im Inneren ausgestalten müssen, um ihre Absicht in der Wirklichkeit auch näherzukommen.

Dazu gehört dann auch eine eventuell aufschäumende Einsicht, im Leben etwas grundlegend verändern zu müssen, umzusetzen. Dazu wird in anderen Beiträgen jetzt schon oder auch später mehr zu finden sein.




Yoga als Übungsweg

Yoga an sich ist eine lebenslange Übungspraxis. Dabei bezieht sich der erste Teil „Übung“ wie in der Sprache angelegt  auf Motive, die der Übung bedürfen und daher nicht, noch nicht  oder nicht vollständig zur Verfügung stehen. Die Bedeutung des Wortteils „Praxis“ bezieht sich auf die Motive, die verfügbar sind und lediglich der Vergewisserung (der Erinnerung) bedürfen. Mit anderen, kürzeren Worten ausgedrückt übt man, was man noch nicht kann und praktiziert, was nicht in Vergessenheit geraten sollte.
In der westlichen Welt wird der Mensch als Trinität von Körper, Geist und Seele betrachtet, wobei die letzten zwei in aller Regel noch als Geist-Seele zusammengefasst werden und somit nur noch eine Dualität übrigbleibt. Das Übungssystem Yoga ist unter diesen Gesichtspunkten nicht beschreibbar. Versuchen wir eine Beschreibung der körperlichen Motive, die geübt werden können in westlicher wissenschaftlicher Ausdrucksform, stoßen wir sehr schnell an unüberwindliche Hindernisse.
Da sind zunächst die physischen Voraussetzungen eines Körpers, die mit den Begriffen Muskeln, Sehnen und Bindegewebe beschrieben werden. Knochen und Organe an sich entziehen sich ja einer direkten Übung, sind aber durch die Erstgenannten mehr oder weniger kollateral erreichbar. Weitere Motive physischer Übungen sind der Atem, der als ein raumschaffendes Wesen angesehen werden muss sowie die energetische Versorgung, die zwischen Atem und Stoffwechsel angesiedelt wird. Weitere Motive wie Spannungszustände, räumliche Ausdehnung, Bewegungsausrichtung, Entspannung, Schwerkraftnutzung und –widerstand sind in westlicher Nomenklatur gar nicht beschreibbar.
In der Yogasprache sind all diese Motive mit Strukturen beschrieben, die unter Anderen sich sehr grob betrachtet mit Energie (Prana) und Ausrichtung (Elemente) beschäftigen.
Übungen für den Geist gibt es in westlichen Systemen fast nur in Psychiatrie und Psychologie, wobei beide sich meist darauf beschränken, gesellschaftlich abnormales Verhalten und Denken in Normalität zurückzuführen. Wachstum, Entwicklung, Evolution und Erweiterung geistiger Fähigkeiten sind hier nicht vorgesehen, ja mehr noch, erscheinen dem westlich geprägten Geist als unsinnige Ziele und werden in aller Regel als krank diagnostiziert. Die Seele dann ist in westlicher Nomenklatur ein unveränderliches Wesen, das sich lediglich noch religiösen Praktiken öffnen kann, wobei diese streng und unerbittlich Glauben als ihre Grundlage setzen. Bei Unglauben droht ewige Verdammnis und Fegefeuer.
Im System des Yoga ist der Geist lediglich ein Werkzeug zur Alltagsbewältigung. Ansonsten wird diese Funktion mehr oder weniger als störend und hinderlich für den Wesenskern (Seele) betrachtet, soll also gezügelt und eingebunden sein. In der Methodik der Übungen werden daher Fähigkeiten angestrebt, in denen der Geist zu schweigen hat. Die Seele oder der Wesenskern aber ist göttlich und unveränderlich, frei von Geburt an und ewig im Sein.
Wenn wir also uns das Übungssystem des Yoga anschauen wollen, kommen wir um die Akzeptanz einiger begrifflicher Besonderheiten nicht herum, wobei es unbedeutend ist, ob diese Motive in Sanskrit oder einer alltagssprachlichen Begrifflichkeit benannt werden. Weiterhin ist nur Lernen derselben nicht ausreichend, sondern die Motive dieser Beschreibungsformen müssen auch wahrgenommen und umgesetzt werden können. So sind Pranaströme keine geistigen Bilder, sondern wahrnehmbare und  brauchbare Werkzeuge in Übung und Praxis. Die Elementenlehre beschreibt die Wahrnehmung von Schwere, Spannung, Ausrichtung und Ausdehnung und Bandhas (Siegel) und Mudras (Gesten), die auf den bereits genannten Motiven aufbauen, beschreiben Werkzeuge, mit denen diese Wahrnehmungen zu bewusster Veränderung eingesetzt werden können. Entspannungsfähigkeit und Spannungsaufbau sind dabei ebenso notwendig wie Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Die Meditation weiterführend beschäftigt sich mit der Fähigkeit, unbewusste Motive zu ergründen, auszuschalten oder zu verändern. Ihr Ziel ist ein durch Erfahrung und gesellschaftlicher Norm unbelasteter Geist, der auch schweigen kann und der in der Lage ist, Neues zu formen, schöpferisch zu sein.
Sich diese Werkzeuge zu erarbeiten, wird „Üben“ genannt; sich diese Werkzeuge zu erhalten und bewusst einzusetzen zu können, wird „Praxis“ genannt. Beide zusammen bilden das Übungssystem des Yoga. Zeit, Geduld, Hingabe und die Bereitschaft, Neues zu versuchen sind die Eigenschaften, die auf Matte und Kissen mitzubringen sind. Es hat nichts zu tun mit Fun, Leistung, Sport oder gar pseudoreligiösem Eifer, nichts zu tun mit Ausstieg und Neuorientierung und schon gar nichts mit Weltanschauung. Es ist nur … ein praktischer Übungsweg!




Die negative Emotion und Yoga

Wenn sich Menschen heute über Yoga unterhalten, spielen Emotionen entweder keine oder eine ausschließlich positive Rolle. Das ist bemerkenswert, werden Emotionen doch weitestgehend unbewusst abgestrahlt und bilden ein Gefüge, dass sich auf Erfahrungen, Ansichten und Erlebnisse vergangener Lebensjahre bezieht und können daher selten ausschließlich positiv besetzt sein. Ich möchte mir daher die Frage stellen, woher einerseits dieser Ausschluss kommt und andererseits, ob diese Ansicht richtig ist und nach welchem Prinzip dabei die negativen Motive ausgeblendet werden können. Dem Klischee zufolge dämpft Yoga die Emotionalität der negativen Form und fördert positive Motive. Wie kann es aber sein, dass in der gleichen Lebenswirklichkeit Yogaübende sich überwiegend positiv angesprochen fühlen, während die große Zahl der Nichtübenden durchwachsene Erfahrungen machen müssen.

Nun könnte eine Ursache für diese Grundhaltung in einem religiös geprägten Weltbild zu suchen sein, in dem wie zum Beispiel im Katholizismus der ketzerische Gedanke eine Sünde ist und darum tabuisiert wird. Dann wären Aussagen, die negativ zu werten sind, eine Verfehlung und würden unter ein Selbstverbot fallen. Bei religiös motivierten Menschen müssten neben Tabuisierungen dieser Art noch andere Motive auftreten. So sind hier ritualisierte Handlungen (Gottesdienst, Gesang und Anrufung von Gottheiten) zu nennen, Ge- und Verbote (Essvorschriften, Alkoholverbot usw.), Kleidungsvorschriften (nur indische Kleidung) oder Zugehörigkeitssymbole (Om-Anhänger, Mala) und ähnliches. Wo ein oder mehrere Motive dieser Aufzählung regelmäßig praktiziert oder angetroffen werden, könnten ein religiöser Hintergrund im Yoga und darum ein Denkverbot bezüglich Negativität durchaus eine Rolle spielen.
Eine weitere Möglichkeit der Überbewertung positiver Motive und damit verbunden ein Ausschluss oder eine Ächtung negativ besetzter Emotionen kann in der gesellschaftlichen Grundausrichtung liegen, die heute als maßgebliche Norm zunehmend angetroffen wird. So beschreibt zum Beispiel der deutsche Philosoph Han in seinen Büchern, das Positivität als alleiniges Merkmal des Mainstream eine Gleichschaltung innerhalb der Gesellschaft bewirkt, weil die fehlende Negativität ihre ausgleichende Kraft nicht mehr wahrnehmen kann. Der/das Andere verliert damit sein Anders-Sein. Anders-Sein-Können aber ist eine der Grundlagen für Liebe und Mitgefühl. So ließe sich auch die zunehmende Entsolidarisierung innerhalb der modernen Gesellschaften und der Werteverfall erklären, der mehr und mehr um sich zu greifen scheint. Die Ablehnung von Negativität bei Yogaübenden wäre dann damit zu erklären, dass Yogaübende als Anhänger multikultureller Praktiken sozusagen die Speerspitze des Mainstream darstellen.
Ein mögliches drittes Motiv für die fehlende Negativität im Yogabereich wäre in der psychologischen Tatsache begründet, dass Yoga ein Übungsweg ist, durch den negative Denkmuster in positive umgewandelt werden sollen oder können. Gelingt dieses nicht, so war die Übungspraxis nicht ausreichend ausgeformt und müsste erweitert oder verbessert werden. Auftretende Negativität wäre damit persönliches Versagen, das entweder versteckt oder sogar verdrängt werden müsste, sollte das Selbstwertgefühl nicht Schaden nehmen.  Verstärkt wird dieses  Motiv durch die weit verbreitete Auslegung der Yogalehre (Bhakti), das negative Gedanken dem Übungsweg abträglich seien und daher vermieden werden müssen. Sie würde faktisch die schlechte  Welt erzeugen durch ihr bloßes Vorhandensein.
Drei Motive, drei Muster, warum der negative Gedanke in der westlichen Yogawelt so selten vertreten ist. Nun gibt es in den Schriften des Yoga durchaus Negativität. Häufig zu finden ist zum Beispiel eine Beschreibung, die sich mit den Worten „nicht dieses, nicht jenes“ verallgemeinern ließe. Der Yogi wird darin angehalten, durch Ausschluss des Falschen letztlich das Eine (Richtige) und damit das Gute (Erleuchtung) zu finden. Besonders in der Meditation ist dies nahezu die einzige Methode einer Übungspraxis. Durch Verbrennen des Karma, also der Vernichtung der negativen Motive in Erinnerung, Erfahrung und Erziehung (Indoktrination, Dressur, Schleier) wird die Seele gereinigt, geläutert und befreit.
In meiner Vorstellung ist die Ablehnung von Negativität weder möglich noch sinnvoll. Und diese Ansicht gilt nicht nur für die Zeit mit Yoga, sondern für alle Bereiche des Lebens einschließlich Partnerschaft, Familie und Arbeitswelt. Das Negative ist das andere, das nicht ich ist, das ebenso leben möchte wie ich, tätig sein möchte wie ich und frei sein möchte wie ich. Und meine Reaktion darauf kann sich nur in zwei Motiven ausdrücken: Liebe und Toleranz. Geliebt werden kann nur das Andere, und was ich nicht lieben kann muss ich zwangsläufig tolerieren. „Tolerare“ heißt ertragen, erdulden, und das sind negativ besetzte Begriffe. Lieben kann ich nur dann, wenn ich den Anderen in mir trage, mich selbst aufgegeben habe und mich durch ihn wiederfinde. Alles andere muss erduldet werden, muss ertragen werden, und so komme ich doch um die Einsicht nicht herum, dass das Negative wie das Positive zu dieser Welt gehören wie Wasser und Luft. Weder die Übermacht des Einen noch die des Anderen kann das Gleichgewicht bewahren, dass notwendig ist, um auf dieser Welt mit seinen unzähligen Bewohnern zu bestehen. Ich selbst stelle mir das vor wie Yin und Yang. Es sind zwei Motive, die eine Polarität bilden, wo das Eine nicht ohne das Andere sein kann. Ohne Negativität ist Positivität nicht möglich. Die Forderung, nur noch positiv zu denken und Negatives auszuschließen ist genau so absurd wie ein bisschen leben. Du lebst oder du bist tot? Dazwischen gibt es keinen Raum? Ohne Leben gibt es keinen Tod und ohne den Tod gibt es kein Leben.
Wir sollten die Negativität und damit auch die negativ besetzte Emotion nicht ablehnen. Ein erfülltes Leben braucht beide Seiten. Und auch dann, wenn die Emotion im negativen Gewand erscheint, aggressiv erscheint, können wir immer noch  „tolerare“ anwenden, es einfach ertragen. Wer ohne Fehl ist werfe den ersten Stein. Ich fürchte, wenn es ehrlich zuginge, werden sich nur einige wenige Werfer einfinden, und die werden bestimmt keine Steine werfen wollen, denn sie sind frei und haben den Weg bereits bewältigt, den viele Andere gerade erst begonnen haben zu gehen. Frei sein hieße Steine zu haben, sie aber (überwiegend zumindest) liegenlassen zu können, anstatt mit ihnen nach Anderen zu werfen. Steine aber gänzlich abschaffen zu wollen ist kein gangbarer Weg! Ohne das Spannungsfeld zwischen positiv und negativ gibt es kein Gefälle (das Energie erzeugt), keine Emotion und damit auch kein Leben.