Die aktuellen Diskussionen zu Yoga

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    Sind Haltungen wie Kopf- und Handstand, Schulterstand und Pflug zeitgemäß oder eher eine Spielart vergangener Zeit? Sind diese Übungen als gesundheitsfördernd einz

Wenn man die öffentliche Diskussion über Yoga (Zeitschriften, Bücher) aufmerksam verfolgt, schälen sich drei Themenbereiche mehr und mehr heraus, die zurzeit im Fokus stehen

    ustufen oder sollten man sie eher in die Kategorie einfügen, die einer breiten Allgemeinheit nicht empfohlen werden kann?
    Muss die Sichtweise, die heute als modernes Yoga bezeichnet wird und in dem entweder eine mehr sportliche oder mehr entspannungs-technische Ausrichtung im Vordergrund steht, nicht grundsätzlich überdacht werden?
    Gerne wird heute davon gesprochen, Mut zu neuen Inhalten zu finden. Trotzdem erscheint angesichts der Fülle neuer Inhalte, die möglich geworden ist, der Fundamentalismus, mit dem jede dieser neuen Richtungen sich von der Konkurrenz abzugrenzen pflegt, eine sehr bedenkliche Kraft zu entfalten.


Vielfalt und Abwechslung sind sicher sehr schöne und angenehme Umstände, aber bei allem Wohlwollen und jeglicher Toleranz (Toleranz meint ertragen, nicht lieben) sollte doch die Essenz des Yoga nicht aus den Augen verloren werden. Wie der Ayurveda ist Yoga unter anderem eine Übungspraxis, die Gesunderhaltung, Vorbeugung, Vermeidung und Abschwächung von Risikofaktoren für den Menschen im Sinne hat. Aber Yoga hat als großes Ziel auch „die Fähigkeit zur Versenkung (Samadhi)“ im Programm stehen. Und diese Aspekte sollten weit vor Wellness, Lifestyle und diversen Geschäftsinteressen stehen. Yoga ist nicht Sport, ist nicht Mode, nicht Alibi und schon gar kein Geschäftsmodell, sondern ist eine auf Erfahrungswissenschaft beruhende Methode zu Lebensformung.
Worauf begründet sich dieser Anspruch? Zunächst gibt es im klassischen Yoga nicht nur Asana und etwas Entspannung, sondern Yoga beginnt mit Selbstkontrolle (yama) und Verhaltensregeln (niyama), geht über Körper- und Atemarbeit weiter bis in die Ausformung der Geistesebene, die nach klassisch wissenschaftlicher Ansicht den Menschen ausmacht und allgemein als Bewusstsein bezeichnet wird. Dabei können religiöse und weltanschauliche Ansichten eine Rolle spielen, kann das mit neuen Lebensregeln und einer veränderten Lebensgestaltung einhergehen, muss es aber nicht. Yoga kann sowohl praktiziert werden von Menschen in Aschrams und dessen strengen Bedingungen bis hin zum Wohnzimmer eines Investmentbankers, wo höchstens noch der Lebenspartner von dieser Praxis erfährt. Es geht nicht um öffenliche Ausformung und Kundgabe, sondern um Inhalte und Wirkungsweisen. Wir tragen ja auch nicht die Landestrachten und Logos der Medikamentenhersteller mit uns herum oder vor uns her, denen wir vielleicht wie im Falle von Diabetes Überleben und Gesundheit verdanken.
Beginnen wir zunächst mit den Umkehrhaltungen und ihren Verwandten. Beim Kopfstand wird der Kopf und die Wirbelsäule belastet, beim Handstand Hand-, Arm- und Schultergefüge, beim Schulterstand Schulter und Schlüsselbeine. Dabei ist die Wirbelsäule beim Kopfstand natürlich ausgerichtet, beim Handstand ist sie Verbindungsträger zu den Schultern und Beinen und beim Schulterstand wird sie in einer unnatürlichen Beuge belastet. Diese Übungen sind also übungstechnisch nicht einheitlich einer Kategorie zuzuordnen, die alle in einer Schublade versammelt. Sie arbeiten und wirken unter anderem durch die Umkehrung, sind aber sehr unterschiedlich in Belastung und Ausformung und beanspruchen weiterhin einen unterschiedlichen energetischen Aufwand. Folglich sind die Wirkungen mit Ausnahme der auf Umkehrung basierenden auch unterschiedlich. Sowohl Knochen als auch Muskeln und Gewebe stellen sich auf Belastungen und Beanspruchung ein und bilden sich nach und nach entsprechend aus. Warum sollten die Wirbelsäule und der Kopf da eine Ausnahme machen. Das ist in vielen wissenschaftlichen Studien mehr als bewiesen. Außerdem werden in vielen Ländern dieser Erde große Lasten auf dem Kopf getragen, ohne das dort Gesundheitsgefahren auftreten. Für die Ausführung der Übungen ist es daher mehr erforderlich zu erkennen, wo ich jetzt gerade in meiner Belastungsfähigkeit stehe als mit verallgemeinernden Geboten und Verboten zu agieren. Und wenn der Übende dieses Urteil nicht zu leisten vermag, steht dies in der Verantwortung seines Lehrers. Und für den Lehrer sollte dann gelten, dass er nur Übungen unterrichtet, zu denen er selbst ein ausreichendes Erfahrungsgebäude hat aufbauen können. Regeln wie „nach A kommt B“ und „wenn A, dann B“ und „das muss so und nicht anders gemacht werden“, wie sie in einer Ausbildung normalerweise vermittelt werden, sind hier nicht einmal ansatzweise ausreichend.
Die Ausformung eines gesunden und leistungsfähigen Körpers ist im Yoga nicht der Sinn an sich, sondern eine Bedingung für die Arbeit in den höheren Stufen, die von der Technik her ein langes, entspanntes und ein gut eingerichtetes Sitzen erfordern. Dies gilt sowohl für Pranayama als auch für alle Stufen hinauf bis zur Meditation. Dabei kann Dehnung erforderlich sein, Öffnung und entspannungsförderndes Üben notwendig sein, aber diese Arbeiten sind doch dann nicht als der alleinige Inhalt, sondern mehr als Mittel zum Zweck anzusehen. Man übt einfach genauso viel, wie zum entspannten und schmerzfreien Sitzen notwendig ist. Darüber hinauszugehen ist gar nicht erforderlich. Für die Meisterung des Lotus wird man vielleicht etwas mehr Energie einsetzen müssen, auf einem Bänkchen aber kann nahezu jeder gut sitzen. Und eine stabile Wirbelsäule und gesunde Muskulatur ist auch im Büro und beim Spazierengehen hilfreich. Kunststücke ausführen zu können und Applaus dafür zu erhalten aber werden dabei nicht benötigt, im Gegenteil.
Yoga ist ein Rezept zur Einwirkung auf Konstitution und Prägung sowohl auf körperlicher, energetischer und geistiger Ebene und ist damit Arbeit am Bewusstsein. Und so unterschiedlich wie die Menschen sind auch die Wege zu betrachten, die zu einer erwünschten Korrektur führen können. Es gibt nicht den einen Weg, die eine Sichtweise und die einzige sinnvolle Konfiguration und so sind auch die möglichen Rezepte sehr unterschiedlich. Dass ein Lehrer dabei nur seine Rezepte bevorzugt und nur seine Erfahrungen einzubringen vermag, ist verständlich und auch nicht anders zu erwarten. Aber dies darf nicht zu einer Ideologisierung führen, die sich selbst und die eigene Richtung „ad absolutem“ setzt und andere Stile kategorisch ablehnt. Und so kann es passieren, dass ich in einer Stunde, die ich als Gast besuche, meine Übung im Detail anders gestalten möchte als es dort üblich angesagt wird. Und diese Freiheit möchte ich mir auch nicht nehmen lassen. Ich probiere gerne einmal etwas Neues aus, aber die letzte Entscheidung obliegt aber letztlich nur mir selbst.
Vieles an der laufenden Diskussion ist sehr stark an Details ausgerichtet und durchstreift nur sehr begrenzte Bereiche des Übungssystems. Meiner Meinung nach dürfen dabei aber die Grundzüge des Gesamtsystems nicht vernachlässigt oder sogar vergessen werden. Wenn Yoga alles und auch nichts sein kann, etwas anstrebt oder auch nicht, etwas bewirkt oder auch nicht, haben wir nicht nur das Ziel „frei sein zu wollen“ weit verfehlt. Vielmehr verwässern wir das Rezept, die Technik und lösen Sinn und Inhalte des Yoga auf zugunsten einer Mitnahmementalität, die schon in yama als Verbot (aparigraha) benannt wurde. Für mich ist das Ziel, samadhi zu erreichen, gleichbedeutend mit Freiheit, und Freiheit, oder anders gesagt: der Wunsch „frei zu sein“- und dazu zählt auch „frei zu sein von…“ – war und ist doch immer noch das Ziel aller Yogaübungen. Bei aller Intention und Begeisterung über Neuerungen sollten wir das nicht vergessen. Inhalte können sich verändern, Übungen verändern sich, aber der Weg an sich bleibt doch gleich. Und wenn wir nur etwas Artistik, Wellness und Lifestyle im Sinne haben oder einfach nur ein bisschen rumturnen wollen, sollten wir es nicht Yoga nennen. Yoga ist der achtstufige Weg, der von yama und niyama über asana, pranayama, pratyahara, dharana und dhyana bis zu samadhi geht. Nicht mehr und nicht weniger! Er gelingt nur in voller Selbstverantwortung, großem Selbstvertrauen und dem Mut, sich selbst ins Gesicht zu sehen.
Und mal ganz ehrlich: Wenn wir im Wald herumjoggen, sagen wir doch auch nicht, dass wir den leichtathletischen Zehnkampf trainieren.