Es gibt viel nachzudenken…

Es gibt viel nachzudenken, denn die Stimmungsfarben der Erinnerung verblassen mehr und mehr und mit den Jahren kommt die Zeit der Aufgaben immer näher. Aufgaben sind aufzuarbeiten, solange die Farben noch leuchten und nicht im Dunkel des damals versinken, und aufarbeiten heißt aufgeben. Die Neigung, festzuhalten ist mächtig, Energie und Raum sind zwar unendlich im Sein, aber begrenzt für ein Wesen. Somit erfüllt eine Aufgabe immer beide Perspektiven der Begrifflichkeit, die stets mit lösen beginnt und die mit davon sich lösen endet. Dualität und Begrifflichkeit sind mächtige Werkzeuge des Denkens, aber sie haben immer mehrschneidige Kanten. Denken wie es vorherrscht bevorzugt die Reflexion der Vergangenheit, die über die Gegenwart in die Zukunft projiziert. Und spätestens dieser Satz trennt die Inhalte des Denkens in mindestens zwei Portionen. Da ist einerseits das Wissen, das ganz klar Bilder, Schlussfolgerungen, Ableitungen und Formel aufweist und einen Blick in die Zukunft zulässt, und da ist die Erfahrung, die stets nur gegenwärtig gelebt werden kann und unablässig der Veränderung unterworfen ist.

Wissen und Erfahrung sind nie in Reinform vorhanden, sondern treten stets durchmischt auf. Zweitausendfünfhundert Jahre Philosophie-Geschichte legen Zeugnis davon ab, das Reinformen nicht verwirklichbar sind. Und hier sehen wir auch, welche Steine dem nur schlussfolgernden Denken einerseits und dem rein intuitiven Denken andererseits in den Weg gelegt sind. Wenn aber immer nur Mischformen vorliegen, muss es immer irgendwo eine Schwelle geben, wo erinnern und erfühlen ineinander fließen. Diese Schwelle zu finden jeden Tag aufs Neue ist eine erste, individuelle Aufgabe, die zu lösen ein sich zu lösen ermöglicht. Erfahrung zeigt sich in vielen Formen. Die einfachste Form ist die des Lebens an sich, die im Todeskampf und im Lebenswillen sich äußert. Gewaltig, unerbittlich wird hier Wissen und Erfahrung der Vergangenheit ignoriert zugunsten neuer, vollkommen unerprobter Verhaltensweisen. Sucht und das was wir so nennen zeigt immer in diese Richtung, und wir alle sind süchtig, sei es nach Leben, nach Atem oder Nahrung, nach Rausch, Betäubung oder Freiheit. Sucht so gedacht ist mächtiges Wissen von Erfahrung in Form eines Stromes, der sein Bett schon gestaltet hat, unaufhaltsam, reißend, vorhersehbar. Ganz anders zeigt sich die Stimmung, die, obwohl ebenso getränkt von Wissen und Erfahrung, bei Regen als Fluss und bei Trockenheit als Rinnsal, keine konstante Strömung und Kraft aufweist. Hier verschiebt sich die Schwelle, aufgrund welcher Kraft auch immer, als ein Anschwellen und Erblassen. Es ist das Veränderliche in der Stimmung, die uns zu schaffen macht, die mal aufrütteln, mal erbleichen lässt und die nicht zugesteht, das Morgen vorauszusehen. Hier angesiedelt erscheint das allzu Menschliche, die Stärke im Schwachen, die Schwäche im Starken, Gezeiten mit unbekannter Ursache. Anders als die Stimmung ist die Prägung mehr von Dauer. Der Sucht nicht ebenbürtig, erscheint sie mehr wie ein konstant fließender Bach, der, von einer Quelle gestärkt, noch auf der Suche nach Festigkeit sein Bett nicht endgültig gefunden zu haben scheint. Hier wirkt eine in vielen Durchläufen gefestigte Erfahrung auf einem festen Sockel von Wissen. Die Schwelle ist zwar fest verankert, aber durch ihre Verankerung erscheint ihr Wirkungsort räumlich begrenzt.

Sucht, Stimmung und Prägung sind die drei Pfeiler der Erfahrung. Sie sinnvoll leben zu können heißt sie kennen und unterscheiden zu können. Ein unterscheidendes  Kriterium dazu ist Stetigkeit, ein zweites Kraft, ein drittes Vorhersehbarkeit. Schön wäre ein stetig gespeister Fluss im Bett eines Stromes, mal anschwellend, mal locker fließend, aber immer in Fülle und Bewegung, ein stetiges Fließen in festen Bahnen dem Ozean entgegen. Leben ist Gestalten, auch wenn Extreme gemieden werden. Nur noch ein Bach der Prägung zu sein ist schon lebendiges Sterben. In der Jugend ein Bett sich gegraben habend, sollte Altern ein steter Fluss werden und niemals Erlöschen im Rinnsal sein. Dann noch irgendwann die drei Pfeiler zu überwinden und nur Ozean zu sein, der zum Ziel erlöste Fluss, das wäre die letzte Aufgabe, die ein letztes Aufgeben beinhaltet. Dann ist Stille, sagen die Gelehrten, ein schöner Gedanke…