Selbstoptimierung
Wann immer und wo immer heute Yoga, Meditation und andere Praktiken der Bewusstseinsbildung geübt und verfolgt werden, spielen immer gesellschaftliche und kulturelle Grundeinstellungen des Übenden eine tragende Rolle und gestalten mit, ohne dass dieses beabsichtigt, erwünscht oder gewollt werden konnte. Wenn wir Yoga und Meditation heute aus mitteleuropäischer Perspektive wahrnehmen, kommen wir unvermittelt auf einen Begriff, der eine sehr große Rolle spielen muss: Selbstoptimierung.
Was versteht man darunter? Selbstoptimierung ist eine grundlegende Eigenschaft jedes Lebewesens, das über eine besondere Art des Lernens sich optimal an eine Umwelt anzupassen sucht, da diese durch die Anwesenheit anderer ebenfalls lernender Wesen sich beständig ändert. In der Soziologie kommt dazu noch ein weiterer entscheidender Punkt hinzu, nämlich das Menschen nicht nur in einer natürlichen, sondern auch in sozialen und kulturell bestimmten Welten leben und auch hier Anpassungen stattfinden, die aber meist vom Einzelnen nicht immer direkt wahrgenommen werden. Sie sind da und wirken, ob bewusst oder unbewusst erlebt.
Das heute gängigste und auch präsenteste Optimierungstool nennt sich Smartphone und ist nicht nur in der Handtasche, sondern meist bereits permanent in der Hand oder griffbereit in Hosentasche oder auf dem Tisch wahrzunehmen. Es verbindet Menschen miteinander, was an und für sich gut ist, aber es fordert auch. Nehmen wir die sozialen Netzwerke und ihr permanenter Zwang zur Präsenz. Um mithalten zu können, muss gelikt, gepostet und dargestellt werden, muss in Whatsapp gelesen und geantwortet werden, müssen Bilder, Beobachtungen und Späße erfunden, gesucht oder aufgenommen werden, um diese dann weiter zu verbreiten. Wird dem nicht gefolgt, erfolgt schnell Ausgrenzung und Kontaktverlust. Diese Kommunikationsform ersetzt in weiten Zügen mittlerweile das klassische Gespräch oder füllt selbiges zu weiten Teilen. Weitere Komponenten geben Inforationen darüber zurück, wieviel ich mich schon bewegt habe und folgerichtig mich noch bewegen muss, wieviel zu essen ist und welche Nahrungsmittel mir im Ernährungsplan noch fehlen, welche Termine und Events anstehen und was ich sonst noch so alles zu tun habe, um gesellschaftlich, beruflich, gesundheitlich (sportlich) und kulturell mitspielen und mithalten zu können. Ich glaube, was gemeint ist wird klar und ich muss das nicht weiter ausmalen. Zusätzlich treten Formen im beruflichen Umfeld auf, die eine permanente Überforderung darstellen, weil auch hier Abläufe, Anforderungen und zu erbringende Arbeitsleitungen durchoptimiert sind, was im Grunde nichts anderes bedeutet als mit „wenig Personal möglichst maximale Auslastung“ zu erzielen. Die Auswirkungen dieser Multibelastung sind Überforderung, Müdigkeit, Stress, fehlende Erholungszeiten und folglich Ausbrennen, es treten Konzentrationsstörungen und körperliche Angespanntheit auf, Erkrankungen häufen sich und erschweren so die Bewältigung der Anforderungen und so weiter. Wir alle kennen das.
Nun wird sehr häufig die Praxis des Yoga verwendet, um die negativen Auswirkungen der genannten Belastungen abzumildern oder auszugleichen. Das ist durchaus ein begehbarer Weg, aber man muss verstehen, wie weit diese Praxis, die ja auch einen zusätzlichen Zeitaufwand fordert, helfen kann und wo das Maß der Möglichkeiten überschritten wird. Yoga dient unter Anderem auch zur Wahrnehmung und Abmilderung von Belastungen, richtig, aber es kann diese auf hohem Niveau nicht dauerhaft kompensieren. Zur Yogapraxis gehört auch die Veränderung der Lebensgewohnheiten, die Belastungen entstehen lassen. Es geht also nicht, immer weiter zu machen in der gewohnt belastenden Weise und durch regelmäßiges Yoga einen Ausgleich erzielen zu wollen. Was in einer solchen Beschreibung fehlt ist die Funktion des Lernens.
Um das ganze Problem in einem Bild nachzustellen, wäre das so, wie wenn im Keller ein Wasserrohr undicht und der Kellerboden daher dauernd mit Wasser geflutet wird. Man kann natürlich regelmäßig sich mit Eimer und Putzlappen bewaffnen und den Boden vom Wasser befreien. Das gelingt über einen Zeitraum hinweg durchaus gut, aber der Keller bleibt nass und feucht und wird langfristig immer mehr sowohl dem Haus als auch seinen Bewohnern schaden. Besser wäre es, das defekte Wasserrohr auszutauschen oder abzudichten, so dass kein weiterer Schaden entstehen kann und der Keller langsam wieder trocken wird.
Es geht im Yoga vor allem Anderen darum, Bewusstsein für das Lebendige zu schaffen. Das heißt Belastungen ebenso wie Vorzüge zu erkennen und diese auch konsequent abzubauen und umzusetzen. Besonders überfordernde Belastungen müssen aus langfristiger Sicht konsequent entfernt werden. In der Phase eines Übergangs kann Yoga ausgleichen und helfen, richtig, aber es ist keine Praxis, die dauerhalt kompensieren kann. Schon ein gesundes, geordnetes und durchaus stressfreies Leben enthält genug Hürden, die eine geregelte Yogapraxis erfordern. Nur sind die Motive hier unbedeutender, kleiner und subtiler. Eine aufkeimende Erkältung wird gestoppt, die nahende Prüfung erfordert für kurze Zeit mehr Einsatz, kleine Probleme in Familie (mit Kindern, Eltern) und im Beruf treten auf und sind zu bewältigen. Belastungen sind allgegenwärtig auch bei sehr gesunder Lebensführung. Hier hilft Yoga, aufrecht und beständig zu bleiben.
So muss die Praxis der Selbstoptimierung aus der Yogaperspektive beschrieben werden und daher sollte sie auch eingebettet sein in das jeweilige Gesundheitssystem (in Indien: Ayurveda). Yoga ist nicht dafür gemacht, sich immer weiter schinden und somit immer mehr aus Körper und Geist herauspressen zu können.