Es sind Interpretationen, die den Fluss zum Stehen bringen…

Im spirituellen
Umfeld sind Sätze, die mit „Ich“ anfangen, oft verpönt. Und
meist wird dieses „Ich“ dann nicht als Subjekt, sondern als
Objekt betrachtet, wie zum Beispiel im Zen in der Frage: „Was bin
ich?“ Was aber bedeutet das? Für mich ist das eine der
schwierigsten Fragen, die ich kenne.



In unserer Sprache
ist die Trennung von Subjekt (Ich sehe/denke/bin…) und Objekt (das
Gesehene/Gedachte/Seiende…) selbstverständlich. Daher beginnen
viele Sätze mit „Ich…“ und deuten von da auf ein
Objekt. Subjekt und Objekt bewohnen so verwendet nicht die gleiche
Welt. Für das Subjekt ist alles, was nicht-Subjekt ist, Welt. Es
gibt daher immer ein „Ich“ und eine „Welt“. Bin ich aber
nicht auch in der Welt, bin ich nicht sogar ein Teil der Welt, gehört
also „Ich“ nicht zur Welt und die Welt nicht ebenso zum „Ich“?
Immanenz nennt die Wissenschaft dieses Phänomen, das wir aber aus
meist praktischen Gründen in unserer Sprache stets missachten. Man
nennt das Dualismus. Und Dualismus ist eine Setzung, die uns das
logische Denken, dem wir folgen (wollen), auferlegt. Geht das nur so?
Diese Frage beschäftigt mich seit langem.

Nach unserer Logik
ist Sein ein absoluter Begriff. Und Aristoteles hat
festgelegt, das „zu sein“ nicht gleichzeitig „nicht zu sein“
bedeuten kann. Nehmen wir den Menschen als Ding, so ist er jetzt im
Augenblick ganz sicher im Sein. In 200 Jahren allerdings wird er das
wohl nicht mehr sein können. Der Zustand des „nicht-Seins“ wird
also mit großer Sicherheit entstehen. Wie geht das aber dann, vom
„Sein“ ins „Nicht-Sein“ hinüberzuwechseln, wenn das nach
unserer Logik gar nicht langsam und kontinuierlich geschehen kann,
denn für einen Übergang müsste „Sein“ dann das „nicht-Sein“
ja bereits enthalten, um hinüber wechseln zu können. Nach
Aristoteles und auch nach heutiger Auffassung geht das nicht, ist das
unlogisch. Nun sind solche Fragen philosophischer Natur und für
Otto-Normal keine ernsthaft zu betreibenden Problemfälle. Wir
sterben einfach, basta. So ist das eben! Das „Warum sterben wir?“
und auch die Frage nach dem „Danach“ sind nicht so wichtig.
Trotzdem, diese Frage liegt oft und ganz besonders in der Aktualität
wie ein Stein im Rucksack der Seele, bringt die Unsicherheit und
Ungewissheit doch die alltägliche Angst hervor, die allgemein üblich
in unserem Kulturkreis mit dem Tod verbunden wird. „Sein“ kann
nicht als absolut gesetzt werden. Trotzdem verwenden wir es genau so,
warum? Was fehlt? Müsste zwischen „Sein“ und „nicht-Sein“
nicht ein Übergang gesetzt werden, der so etwas wie Dauer besitzt?
Lässt das unsere Sprache überhaupt zu?



Eine Lösung des
Problems mit dem „Sein“ ist die Setzung einer „Seele“.
Diese ist unsterblich, ewig, wird uns ins Paradies nach guten Taten
oder in die Hölle nach schlechten Taten eintreten lassen oder
irgendwie wiedergeboren werden, um sich erneut zu bewähren. Wenn ich
einem Menschen die Seele abspreche oder behaupte, diese sei verloren,
werde ich große Reaktionen heraufbeschwören. Die Seele, auch gerne
Monade oder Atman genannt, obwohl weder jemals erkannt, gesehen noch
gewogen ist ein heiliges Gut. Sie erlöst vor der Angst. Aber sie
verhindert auch das Leben. 2000 Jahre christliche Geschichte [1.
Empfehlung: Schatten über Europa, Rolf Bergmeier, ISBN
978-3-86569-075-3] zeigen mehr als deutlich auf, wie groß die Angst
vor dem Seelenverlust sein kann und welche fatalen Wirkungen diese
neue Angst zeugt. Diese sind in weiten Teilen der Welt auch heute
noch oft größer als die Angst vor dem Tod. Haben wir mit der der
Setzung der Seele also nur eine Angst gegen eine andere eingetauscht?
War die Setzung der Seele nur ein cleveres Machtinstrument, das
Wenigen die Macht über viele gab? Diese Frage möge jeder selbst für
sich beantworten.

Was mich weiterhin
beschäftigt, sind Worte wie Selbst, Geist, Schöpfung usw. Nun hören
wir sehr oft in spirituellen Kreisen, das der/die Eine oder Andere
auf der Suche nach dem wahren Selbst sich befindet. Das zur
Zeit als aktiv empfundene Selbst wird folglich als unwahr aufgefasst,
das wahre Selbst aber ist im unwahren Selbst verborgen und wird durch
die Ausübung von Techniken aufgedeckt. Das „wahre Selbst“ also
steckt direkt im oder hinter dem „unwahren Selbst“. Was geschieht
dann mit dem unwahren Selbst, wenn das wahre Selbst erscheint? Stirbt
es? Wie dem auch sei. Wahr und Unwahr sind also bis zur Läuterung
gemeinsam in einem Ding zu Hause. Nach Aristoteles ist das aber
trotzdem nicht möglich. Sein und nicht-Sein, wahr und unwahr? Wo ist
da der Unterschied? Wer hat sein wahres Selbst schon jemals gesehen?
Wer hat sein Selbst, ob unwahr oder wahr, schon jemals gesehen? Was
machen diese Setzungen aus? Sie sind reine Spekulation. Warum
verwenden wir sie dann aber dauernd?

Eine weitere
wunderbare Bedeutung hat das Wort Geist. Es bezeichnet das
mentale Konstrukt, das wir wie oben schon gesehen „Ich“ nennen
und in eins gesetzt ist mit dem ebenfalls schon erwähnten Selbst.
Eine besondere Rolle spielt das neben Geist verwendete Wort GEIST,
das den Individuellen Geist weit überflügelt und ihn in eine
kosmische Umgebung setzt und damit das ausdrückt, was die Summe
aller geistigen Aktivitäten von Leben darstellt, auch gerne als
Speicherbewusstsein [2. Alaya vijnana] und Schatz des Lebens
bezeichnet. In vielen spirituellen Traditionen ist daher als
Übungsweg angelegt, von Geist zu GEIST zu gelangen, teilweise als
Transzendenz [3. Gott, etwas außerhalb der Welt stehendes, der
Grund, das der sinnlichen Wahrnehmung verschlossene.] oder auch in
dessen Gegenteil, als Immanenz [4. Das in allen Dingen enthaltene.]
bezeichnet. Mentale Zustände, in denen diese Barrieren überwunden
sind heißen dann Meditation oder Versenkung, Trance oder Hypnose.
Allerdings beschreiben trotzdem viele Lehren von
Bewusstseinstechniken diese Zustände als unvollkommen, ja sogar
gefährlich und es wird davor gewarnt, sie dauerhaft zu erreichen und
sozusagen in ihnen steckenzubleiben. Sie zeigen wie im Buddhismus
beschrieben nur an, welchen Fortschritt die Übenden gemacht haben
und diese werden immer wieder aufgefordert, auch diese Ergebnisse zu
überwinden. Darüber hinaus fortschreitende Zustände heißen dann
lichte Weite oder kosmisches Bewusstsein. Ich selbst kann dazu nichts
sagen, denn diese beiden sind mir weder zugänglich noch bekannt.



In unseren Sprachen
sprechen wir gerne, wenn wir die Welt und ihr Dasein positiv
überhöhen, von Schöpfung, was nichts anderes bezeichnet als
entweder von Gott gemacht oder aus sich selbst entstanden, je nachdem
welche Religion oder Weltanschauung der These zugrunde liegt. Im
Gegensatz zur Schöpfung ist die Welt meist schlecht und
unvollkommen, entweder durch den Menschen selbst gemacht [5.
Sündenfall im Christentum] oder durch den Einfluss von Stimmungen
wie Habgier, Hass und Neid [6. Buddhismus], die scheinbar aus dem
Nichts plötzlich auftauchen und die Welt vergiften. Die Schöpfung
selbst ist meist vollkommen und wird nur durch falsches Denken,
falsches Benehmen, durch falsche Geschichten oder Erzählungen
verdunkelt und muss daher nur befreit werden, um wieder ein Paradies
zu sein. Besonders große Organisationen berufen sich gerne auch die
Schöpfung und geben vor, Verwalter und Befreier derselben zu sein.
In der Historie erleben wir diese meist so in Szene gesetzt, das sie
durch den Glauben an diesen Anspruch große Macht gewonnen hatten und
haben und diese stets zu missbrauchen verstanden. Ich selbst halte es
daher mit Krishnamurti, der eine Organisation als Träger von
Weisheit als nicht vereinbar/machbar verstand.

Und dann müssen wir
noch über unser Verständnis von Zeit reden. Zeit, das sind
sich sogar die Wissenschaft und die Esoterik einig, gibt es nicht.
Zeit ist ein Konstrukt des Menschen, eine Erfindung des Menschen.
Nicht umsonst hat die Wissenschaft die Zeit erst an der Bewegung und
dann an dem Raum festgezurrt. Die Natur kennt nur einen Wechsel der
Jahreszeiten, die durch den Abstand zur Sonne und durch dies daraus
resultierenden Klimaveränderungen und Lebensbedingungen
gekennzeichnet sind. Weiterhin entsteht unterschiedlich in der uns
zugänglichen Welt ein Wechsel der Hell-Dunkel-Zeiten. Die Zeit, die
wir meinen zu kennen und die 24 Stunden und 3600 Minuten pro Tag in
einem 365 Tage usw. dauernden Jahr enthält ist ein künstliches,
nicht am Leben orientierten Produkt der Technik. Wir erinnern uns an
die Vergangenheit. Diese erstellt Regeln und Handlungsweisen, die
sich bewährt haben und die uns eine Fortsetzung eines Lebens
ermöglichen. Diese Vergangenheit wird ständig gefüllt mit einem
kontinuierlichen Strom von Erlebnissen aus der Gegenwart. Aus diesen
erinnerten Erlebnissen konstruiert und erschließt sich der Mensch
eine Idee der Zukunft, in dere er sich Fortschritt erhofft und die
eine möglichst angenehme Fortsetzung des Lebens ermöglicht. Ein
eigentlich genialer Schachzug, der das eben sichert, aber auch mit
Risiken behaftet. Denn die mögliche Zukunft, so sie denn nicht die
erhoffte Qualität besitzt, erzeugt auch Angst und Negativität,
erzeugt über den Wunsch nach Sicherheit auch Gier, Hass und Neid.
Und hier entstehen auch die Leiden, die das menschliche Leben so
reichhaltig ausfüllten und die eigentlich unsinnig und unerwünscht
sind. Was für diese Lage wichtig wäre und was mir im europäischen
Denken oft fehlt sind daher Begriffe, die eine Dauer in der Gegenwart
auszudrücken imstande sind und die eine Neigung beschreiben können,
eine Neigung, die positive und negative Motive in Bewegung zu bringen
imstande ist. Nun ist in meiner Anschauung Negativität nicht
grundsätzlich schlecht, aber sie sollte mit der Freude, die ich
jetzt mal Positivität nennen möchte, zumindest in einer
ausgeglichen Balance stehen. Meiner Ansicht nach sind Freude und Leid
die Würze des Lebens. Beide in Balance zu halten ist Lebenskunst,
sie durch Erfahrung ineinander zu verweben aber ist Weisheit. Angst
und Leid zu überwinden geschieht durch das Bewusstsein ihrer
Beschaffenheiten, die Kenntnis über die Ursachen und die unendliche
Neuausrichtung der Neigungen, die einen Ausgleich, eine Balance
ermöglichen. So wird im Thema Freude und Leid für mich ein Schuh
daraus.



Es gibt viele
weitere Worte und Redewendungen die in diesem Rahmen gerne und oft
Verwendung finden und gebraucht werden, um etwas zu beschreiben, was
nahezu unbeschreiblich erscheint. Die hohe Anziehungskraft dieser
Beschreibungen drückt die Sehnsucht der Menschen aus, zurück in
einen wie immer auch geartetes paradiesischen Zustand zurückzukehren,
wo das Leben und das Sein vollkommen und leicht und jeglicher
Gefahren enthoben ist. Dafür dann sind Menschen bereit, zu üben, zu
sitzen, zu singen, zu tanzen, zu praktizieren oder zu kämpfen, um
nur einige Techniken zu nennen, und sie wenden viel Zeit und Energie
auf, um dabei sein zu dürfen bei der großen Befreiung.

Nun könnte
man aus meiner Wortwahl schließen, das ich das alles ganz
entsetzlich finde und empfehlen würde, dass man das dringend
abstellen müsse. Nun, das oder zu Gegenteil ist der Fall. Ich
schätze Menschen sehr, die sich um ihr Seelenheil bemühen und
bereit sind, dafür Opfer zu bringen. Und ich wünschte mir, das es
mehr und mehr werden.

Was ich mit meinen
Zeilen erreichen möchte ist aber die Einsicht, das es nicht die
Wortbedeutungen sind, die in der Spiritualität eine Rolle spielen.
Es sind auch nicht die unzähligen Aktivitäten und Bemühungen, die
für Veränderungen aufgewendet werden, die ich hier beschreiben
möchte. Was mir am Herzen liegt ist die Ansicht, das es vor allem
nicht allein darum geht, andere Menschen zu überzeugen, einen von
mir favorisierten Weg zu gehen, sondern das jeder einzelne Mensch
selbst und für sich zu der Überzeugung gelangen muss, seinen
eigenen spirituellen Weg zu gehen. Und dafür können gerne
Gleichgesinnte helfen, können unterstützen, können sozusagen
helfen, bei der Sache zu bleiben, aber letztlich ist jeder für sich
auf dem spirituellen Weg allein unterwegs. Seinen Weg erst einmal für
sich selbst zu gehen ist die Bedingung, in der Entwicklung überhaupt
möglich ist. Und dabei sind die Worte und Beschreibungen anderer, so
gut sie auch gemeint sein können, eher hinderlich als förderlich.
Der eigene Weg ist immer ganz neu, wird an jedem Tag neu sein, und
ist immer verschieden vom Weg der anderen. Das ist meine Überzeugung.
Und daher ist es auch sehr schwer und sehr verwegen, große
Organisationen zu gründen, die die Lehre einer wie immer gearteten
Freiheit in die Welt hinaustragen. Die Freiheit kann immer nur die
Freiheit des Einzelnen sein. Es geht einfach nicht anders. Und jeder,
der darüber lange genug nachgedacht hat, wird wie ich irgendwann zu
diesem Punkt kommen müssen. Ob dieser danach noch überwunden werden
kann, ist für mich ungewiss.



In vielen
spirituellen Texten wird mit den Bedeutungen von ich, sein, selbst,
Geist und Seele dialektisch gespielt. Ihr Verwendung bezieht sich auf
Bedeutungen und Schlussfolgerungen, die genau betrachtet einen in
sich geschlossenen Kreis bilden. In unzähligen Verkettungen werden
diese Begriffe ineinander verwoben, werden zu Argumentationsketten
verbaut, die letztlich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führen.
Dieses Ergebnis kann wie folgt beschrieben werden: „Du tust nicht
genug, daher…“. „Du musst mehr tun, damit…“ ist auch ein
schönes Ergebnis dieser Ketten. Gemeint ist damit aber nur, das du
etwas tun musst für andere, für die Organisation zum Beispiel, für
den Guru, den Meister, für die Gemeinschaft und, und, und. Mehr tun,
größer wirken, mehr investieren, ist das Ziel dieser Dialektik.
Dabei sprechen alle Traditionen und besonders der Buddhismus davon,
das unser Leiden daher kommt, das wir eben immer mehr wollen. In
meiner Anschauung ist Freiheit nur in sich selbst verwirklichbar. Nur
ich selbst kann für mich und damit auch für meine Umwelt frei sein.
Mein einziges Wirken besteht dann darin, für andere ein Vorbild zu
sein. Viele große Meister waren unscheinbar, wurden oft verkannt
oder zogen sich in die Einsamkeit zurück, da sie ihr
„nicht-wie-alle-anderen-zu-denken“ für sich und andere als
Gefahr empfanden. Sokrates wurde gezwungen, den Giftbecher zu leeren,
Laotse zog sich in seiner bekannten Geschichte in die Einsamkeit der
Berge zurück und ward nie mehr gesehen, und unzählige Andere werden
ebenso gehandelt haben, von denen daher nie etwas bekannt werden
konnte. Anders zu sein war und ist immer noch gefährlich, und der
Weise erkennt das auch und handelt entsprechend.

Wie kann ich mich
also verhalten, meiner Meinung nach, gegenüber den oben
beschriebenen Wortschöpfungen und Gefahren, die darauf basieren?
Unsere Sprache verwendet nun einmal ich und sein, verwendet Selbst
und Seele, und die Schöpfung ist auch, wie im letzten Satz zu sehen,
nicht gerade selten. Ich helfe mir so, das ich Sprache generell als
unvollkommen empfinde, ich Kommunikation insgesamt als unvollkommen
empfinde, und das schließt so vielfältige Dinge mit ein wie
Rituale, Gesten, Zeichen, Musik, Kunst, Literatur, Offenbarungen und
die vielen anderen wortlosen Ausdrucksformen ebenso. Wir Menschen
können eben nicht nur ausdrücken, was in uns vorhanden ist, sondern
auch das, was wir gehört haben und nur vermuten, was uns suggeriert
wurde, was uns Angst zu machen droht oder sich durch geschickte
Manipulation in uns verfestigt hat. Und da wir zur Zeit erleben, das
Kommunikation überhand nimmt und wir sozusagen fast erschlagen
werden von der Vielfalt und dem Reichtum an Bedeutungen, empfehle ich
einem alten Sprichwort gemäß: „Fragen zu stellen ist wichtiger
als Antworten zu finden!“. Ich frage mich zum Beispiel immer
häufiger, was ich meine oder gemeint habe, wenn ich einen Satz im
Gespräch oder im Artikel wieder mal mit „Ich“ begonnen habe,
frage mich, was für mich das Wort „selbst“ bedeutet, wenn es bei
mir Verwendung fand, und vermeide Worte wie Schöpfung oder Seele in
meinen Beschreibungen, da sie alles und auch nichts bedeuten können.
Das Verb „sein“ allerdings und das Verständnis von Zeit sind in
unserer Sprache unverzichtbar, und ich muss mir sehr bewusst darüber
sein, was genau sie bedeuten und wie ich sie entsprechend verwenden
sollte.



Wie gerne würde ich empfehlen, in eine Sprache zu wechseln, in der diese dialektischen Verfahren nicht bekannt sind und keine Bedeutung gewinnen konnten. Neben einigen Sprachen von Naturvölkern ist heute allerdings die Wahl dazu sehr beschnitten. Es gibt nur eine alte, nicht dialektisch vergorene Kultursprache, die diesem Anspruch meiner Meinung nach gerecht wird, und diese kommt auch heute schon im eigenen Volk immer seltener zum Tragen. Gemeint ist das klassische Chinesisch, die Sprache Chinas aus der Zeit von Laotse und Konfuzius. Und daher möchte ich gerne eine kleine Kostprobe anhängen, wie diese Sprache aussah, die ohne Verkettung in Dialektik auskam, und die doch eine Hochkultur begründet hat.

Himmel, Erde,
tief-dunkel, gelb
Welt, Zeit, fluten, brach-liegen
Sonne,
Mond, anfüllen, Abendstrahlen
Gestirne, Sternbilder, aufreihen,
ausbreiten
Kälte, kommen, Hitze, gehen
Herbst, ernten,
Winter, horten

(Unter dem) unergründlichen (tief-dunkeln) Himmel (die) gelbe Erde,
(in der) Welt (die) Zeit, (das eine) flutend, (das andere) brach(liegend),
Sonne (und) Mond füllen an (die) Strahlen des Abends,
Gestirne (und) Sternbilder reihen (sich auf und) breiten (sich) aus,
(Die) Kälte (des Winters) kommt, (die) Hitze (des Sommers) geht,
(Im) Herbst (wird) geerntet, (im) Winter gehortet.

Der aus den
Tausend-Zeichen-Klassiker stammende Text, den jeder Gebildete seiner
Zeit auswendig zu lernen hatte, drückt aus, was wichtig ist zu einer
bestimmten Zeit zu tun im ewigen Wechsel der Jahreszeiten:

Wenn Sonne und Mond
am unergründlichen Himmel (tief-dunkel) den Abend über der gelben
Erde bestrahlen, wenn die neue Jahreszeit sich wandelnd (flutend)
über die unberührte (brachliegende) Welt ergießt, wenn die
Gestirne und Sterne sich aufreihen, wenn die Hitze des Sommers sich
in die Kälte des Winters zu wandeln ankündigt, ist Herbst und die
rechte Zeit zu ernten und die Nahrung für den Winter zu horten.

In beginnenden Herbst erscheinen Sonne und Mond am Abend gemeinsam am Himmel in wunderbaren Sonnenuntergängen. Die meist klaren Herbstnächte erlauben erstmals wieder den Sternen, anders als in den warmen Jahreszeiten, sich am Himmel zu zeigen. Die Jahreszeit erlebt erneut einen Wandel, aus Hitze wird Kälte werden und die Menschen sind angehalten, zu ernten und Nahrung für den Winter zurückzulegen.

Wie klar und ausdrucksvoll wird hier beobachtet, wie ein Jahreszeitenwechsel sich ankündigt. Und ganz klar wird den Menschen ans Herz gelegt, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. Keine Pflicht und kein Sollen erfüllt die Zeilen. Alle Worte erscheinen wie selbstverständlich. Und niemand wird sich widersprechend gegen diese Zeilen erheben wollen. Könnten doch unsere europäischen Sprachen sich auch so klar ausdrücken…, der Fluss würde dann wieder fließen.




Fragen, Freiheit und der bevorstehende Lebensabend

Mich haben seit meiner Jugend viele Fragen beschäftigt, von denen einige zu den grundlegenden Fragen der Philosophie gehören. Allerdings war meine Ausgestaltung dieser Fragen nicht auf einen theoretischen Ablauf ausgerichtet, sondern meist durchaus praktischer Natur. Trotzdem heißt „praktisch“ nicht immer auch oberflächlich, denn auch Praxis verlangt in letzter Konsequenz gedankliche Tiefe und Gründlichkeit. Über einige dieser Tiefenfragen möchte ich jetzt in diesen Zeilen für mich eine Frage beantworten, die seit einiger Zeit mein Denken beherrscht: Was mache ich mit und in meinem Ruhestand, der mit jedem vergangenen Tag immer näher heranrückt. Wo befinde ich mich dann, was wird sein und was wird mich dann noch erfüllen? Das ist die Fragestellung dieser Zeilen.

Wer bin ich?
Das ist im normalen Umfeld und unter normalen Bedingungen eine unsinnige Frage. Die Antwort lautet meist: Du bist der Hansi Peter oder einfach nur ein einzelner Mensch, ein Mann oder bei antwortenden aufgeklärten Menschen ein konkreter Mitmensch. Allerdings ist der Name, der Mensch nur ein Wort. Bereits der anders sprachige Mitmensch wird dieses Wort schon nicht verstehen. Hinter dem Wort steht eine Idee, eine Kategorie [1. Gattung, Klasse, Gruppe], ein Teil der beschreibbaren Welt oder ein Gegenstand, wobei das neue Wort wie das alte nur ein weiteres Wort darstellt. Wir können dieses Spiel immer weiterführen und werden selten bzw. nie ein Ende finden. Unser Denken benutzt Wörter, die etwas bezeichnen, um andere Wörter, die etwas bezeichnen, zu bezeichnen. Wenn wir also eine sogenannte Aussage machen wie ich bin ein Mensch, und das ist ein Wesen, das denkt und auf dieser Welt wandelt, benutzen wir Wörter, um ein Wort zu beschreiben. Da wir so aber immer im Relativen bleiben, können wir auch nur relative Aussagen machen. Relative Aussagen gelten aber nur in einem bestimmten Rahmen, den wir dann ebenfalls zu setzten haben, wobei wir auch hier immer in der Relation bleiben müssen. Zurückkommend auf die Ausgangsfrage können wir daher in der Relation viele Aussagen machen, im Absoluten aber  keine.

Was bin ich?
Wenn ich diese Frage beantworte und dabei etwas Mühe hineinlege, wir ein Satz herauskommen, der mich als Mensch begreift, ein Wesen, das sich aus der Masse der Wesen abhebt durch Eigenschaften und Fähigkeiten, die in dieser Formation nur dieser Gattung aufzufinden ist. Meist wird der Mensch in diesem Kontext beschrieben als bewusst, also als ein Wesen, das denkt und sich dieser Fähigkeit auch bewusst ist. Eine etwas kompliziertere, aber auch genauere Beschreibung würde lauten, das der Mensch ein Wesen ist, das denkt, sich dessen bewusst ist und sich dieses Bewusstseins auch  vergegenwärtigen kann, wobei das „kann“ ein wirkliches kann ist, Menschen können das, müssen es aber nicht und können es auch lassen, was, wenn man Mitmenschen genau beobachtet, auch oftmals genauso zu geschehen scheint. Ich bin also ein Mensch mit dieses Fähigkeiten und Anlagen. Und ich bin frei sie zu nutzen oder auch nicht.

Warum bin ich hier?
Jetzt und mit dieser Frage beginnt eine gewisse Spannung in die Fragestellungen zu geraten, denn hier  können, je nach Art, Tiefe  und Neigung der Betrachtung sehr unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Hier sind der Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt. Grundlegend unterscheide ich hier zwei Kategorien, wobei ich der Ersten eine Grundannahme anheimstelle und der Zweiten eine Grundannahme grundsätzlich verwehre. Diese Grundannahme stellt die Existenz einer Autorität oder Ursache nicht in Frage, die Absolut genannt werden kann. In unserer Alltagssprache heißt das dann Gott, Atman, das Universum, der Ursprung, das Schicksal, die Vorsehung oder ähnlich. Hier wird ein Absolutes zugrundgelegt, das außerhalb der Relativität unseres Denkens steht und Macht oder etwas Unabänderliches besitzt. Alle Religionen, nahezu alle Kulturen und Organisationsformen der Menschen besitzen ein solch Absolutes oder bestimmen einen oder etwas aus ihrer Mitte, um dieses Zentrum zu schaffen. Die andere Kategorie verzichtet gänzlich auf die Existenz oder Installation eines Absoluten und findet sich somit ab in der Ungewissheit des Relativen, wobei auch hier Regeln und Kulturformen entwickelt werden, die folgerichtig  als bewusst-relativ verstanden werden. Diese kategorische Form ist sehr schwierig zu beschreiben, da das Kreisen in der Relation andere Formen der Autoritäten notwendig macht. Als Beispiel der letzten Form seien der  Advaita Vedanta und der Buddhismus des Mahayana genannt. Unzählige Antworten gibt es also auf die Ausgangsfrage und es gelingt nicht, diese Frage zu einem Abschluss zu bringen. Sie bleibt offen und verlangt damit vom Fragenden eine Entscheidung, die immer wieder neu bekräftigt werden muss.

Habe ich hier auf der Welt eine Aufgabe zu erfüllen?
Nahezu alle Kulturen, Religionen und Ansichten in und über die Welt beantworten diese Frage mit ja, und im gleichen Kontext würde eine Antwort nein stets als eine krankhafte Geistesstörung angesehen. Was ist oder kann also Aufgabe eines Lebens sein. Da wir auch hier in Relationen denken müssen sind viele Antworten möglich. Die grundlegendsten davon beinhalten immer die Fortsetzung, den Erhalt der Art, des Lebens und damit der uns bekannten Welt. Es ist bezeichnend für diese Fragestellung, das eine Antwort nein auch das Erlöschen der Frage bedeuten würde. Setze ich die möglichen Rahmen der Betrachtung enger, könne eine Antwort möglich sein, das Leben auf der Welt zu verbessern (Hunger, Armut, Not abzuschaffen) oder über eine Öffnung und Weitung des Bewusstseins neue Möglichkeiten zu erschließen.

Was ist wichtig?
Diese Frage fragt nach einem Rahmen, in den ich künftige Entscheidungen einbetten kann und mir eine Hilfe dabei gibt, die mir Sicherheit vermittelt. Doch wie wir gesehen haben in der Argumentation oben, gibt es keine richtige, keine einzige Antwort auf diese Frage außerhalb der Relativität. Auch hier ist der Rahmen von mir selbst zu setzen, und innerhalb dieser Konfiguration dann sind Entscheidungen sicher möglich. Es gibt sehr weite Rahmen, sehr enge Rahmen, beide mit der Möglichkeit großer Autoritäten oder auch, wie in den bereits genannten Weltanschauungen, der Verzicht auf Setzungen. Wichtig auf jeden Fall ist die Annahme, dass unser Leben als Art erhaltenswert ist und weitergeführt sollte. Damit verbunden ist auch die Sorge um die Erde, die zumindest heute noch die einzig mögliche Lebenswelt darstellt. Wichtig wäre also zu leben, das Leben und somit auch die Erfahrungen und Wissen darüber weiterzugeben an künftige Generationen.

Wie wir bisher sehen konnten kreisen die Fragen nach dem Grund und der Gestaltung eines Lebens immer um die gleichen Punkte, und wie immer die Fragen auch umgestaltet werden, die möglichen Antworten handeln von sich wiederholenden  Motiven:

  • Meine Antworten können immer nur relativ gestaltet sein, benötigen eine Rahmensetzung
  • Solche Rahmen werden Weltbild, Religion oder Kultur genannt. Sie regeln das Zusammenspiel einzelner Wesen.
  • Wichtig erscheint einzig die Weiterführung der lebendigen Welt, die zurzeit nur auf diesem Planeten bestehen kann.
  • Wir haben auf jeden Fall eine Aufgabe.

In den grundlegenden Fragen gibt es nicht Gerechtigkeit, nicht definierte Besitzstände, nicht Macht, nicht Status und nicht Notwendigkeit. Was wir leicht erkennen können ist die übermächtige Wirksamkeit der fortgesetzten Relativität aller Annahmen und die Notwendigkeit, sich für seine Person zu entscheiden. Was wichtig wird, ist in welchem Rahmen ich leben möchte: selbstbestimmt oder aus einer Nicht-Entscheidung heraus, indem ich fraglos akzeptiere, was gerade so ist. Letzteres bedeutet, in eine Kultur und Religion hineingeboren zu sein, dort ein durchgeregeltes Leben zu leben ohne Wenn und Aber, ohne Fragen und … ohne Unsicherheit, denn genau diese Sicherheit ist ja der Kern jeder kulturellen Anbindung. Seltsam für mich ist, dass die meisten Menschen die letztgenannte Möglichkeit wählen. Wenn ich so in die Runde meiner Gespräche schaue geht es überwiegend um Status (wie denken andere über mich, und ich über andere), geht es um die Bewältigung des Alltags in einer Kultureinbettung, die nicht hinterfragt wird, geht es um Gerechtigkeit (andere haben etwas, was mir vorenthalten wird…), geht es um Besitz (Haus, Familie, Boot, Besitz) und nicht zuletzt um Macht (wer bestimmt, was jetzt und morgen Alltag ist und wird). Wie aber sollen Antworten oder Möglichkeiten von Antworten zu Fragen gefunden werden können, wenn die Basis, der Hintergrund und das Fundament nicht ausgeleuchtet wurden. Und daher möchte ich jetzt eine weitere grundlegende Frage einfügen, die aufgrund der letzten Zeilen doch unabkömmlich zu sein scheint: Sind die Rahmen und Rahmenentscheidungen, die ich einmal getroffen habe, über ein ganzes Leben gültig, und muss ich nicht, zumindest wenn ein neuer Abschnitt des Lebens bevorsteht (Entscheidung für Familie, für ein anderes Umfeld, für einen Ruhestand), diese nicht von Grund auf neu zu setzen? Und muss ich vor allen anderen Fragen nicht dabei wieder mit der allerersten Frage [2. Wer bin ich oder spekulativ: wer will ich sein?] beginnen.

Geht es mir und anderen weiterhin gut mit meinen Entscheidungen?
Für die neue Frage, die hier etwas knapper formuliert ist, benötige ich neue Kriterien der Beurteilung, neue Hilfestellungen und Karten, die aus dem Dickicht führen helfen. Anders ausgedrückt, müssen zu den Kriterien, die ich bisher zugrunde gelegt habe, neue hinzukommen, um die alten Rahmen und Entscheidungen überprüfen zu können und erweiternd, um neue Inhalte überhaupt auffinden zu können? Was könnten das für Kriterien sein?
Doch betrachten wir zunächst einmal ein paar mögliche Lebensabschnitte, die andere oder spezielle Rahmenentscheidungen benötigen. Als Kind sind wir, wenn es gut läuft, von Eltern umsorgt, deren Augenmerk darauf gerichtet ist, uns das nötige Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem ein Leben gestartet werden kann. Dann kommt die Zeit des Lernens, in der ich die Fähigkeit entwickle, in der mich umgebenden Welt zurechtzukommen und zu bestehen. Dann gründe ich eine Familie und erziehe und bilde den Nachwuchs aus, was die Aufgabe der Sicherung der Art konsequent verfolgt. Parallel dazu schaffe ich für mein Leben die Sicherheiten, die ich brauche, um gestaltend weiterzugehen und alt werden zu können. Und dann kommt der letzte Abschnitt, der Ruhestand. Wenn es gut läuft, sollte spätestens dann alles getan sein und das Leben sollte frei werden dürfen, denn die Aufgaben sind erfüllt, die Notwendigkeiten sind erledigt und die Sicherheiten sind gegeben. Muss der neue Lebensabschnitt, das sei zu bedenken, nicht aus diesem Grunde schon auf neue Fundamente, neue Rahmen gesetzt werden? Und welche Kriterien helfen bei der Neuausrichtung?

Wohin kann/wird mein Weg mich führen?
Der Ruhestand baut auf einer Einbettung in die kulturellen Sicherheiten auf, in der wir unser bisheriges Leben gestaltet haben. Da sind die Sozialkontakte, die mich einerseits unterhalten und die andererseits für die vielen kleinen Hilfestellungen notwendig sind, die für mich als älterer Mensch notwendig werden. Dann ist die materielle Sicherheit zu erwähnen, die mir ein unbeschwertes Leben ohne Not ermöglicht. Sind beide vorhanden, kann die Zeit mit sinnvollen, darunter durchaus auch nutzlosen Tätigkeiten und Ideen gefüllt werden. Dazu helfen die konventionellen Rahmenbeschreibungen nicht mehr weiter, es sei denn, man ignoriert den Beginn des neuen Lebensabschnitts und macht einfach weiter wie bisher. Haus und Garten pflegen, die Enkel versorgen und fernsehen ab dem frühen Abend würde ich in diesem Rahmen erwähnen wollen. Hat man sich aber mal mit grundlegenden Fragen beschäftigt, wird das einfach nicht ausreichen, um dem weiteren Leben Sinn und Fülle zu verleihen. Dann sind zumindest für mich die Fragen nämlich neu zu stellen, neu zu untersuchen, auf was denn das Leben beruht. Denn erst jetzt, in fortgeschrittenem Alter, wird für diese Sisyphus-Aufgabe genügend Zeit zu Verfügung stehen. Seit Menschengedenken sind es die Alten, die, von der Plage des Alltags entlastet, als Ratgeber der jüngeren Generationen fungierten. Ohne Aufgabe und offenen Auges durch die Welt schlendernd, sehend, wozu anderen die Zeit fehlt, fragend dort, wo andere durch Aufgabenerfüllung zu tief im Alltäglichen verstrickt sind, gelingt ihnen diese segensreiche Arbeit ohne Mühe, denn Zeit und Freiheit sind die grundlegenden Motive für das Gelingen von Weisheit, wie diese Gabe seit alters her genannt wird. Das Menschen weise sein und werden können scheint aus unserer Kultur fast vollkommen verschwunden zu sein. Das ist in meinen Augen ein großer Verlust, denn das Spezialistentum, das wir an seine Stelle gesetzt haben, mag zwar über reichlich Wissen und Systematik zu verfügen, aber Erfahrung haben diese gehetzten Menschen oft nicht, auch verfügen sie nicht über nutzlos verbrachte Zeit und schon gar nicht über die Freiheit, auch ungesetzte Gedanken verfolgen zu können.
So die Fragestellung verfolgend, komme ich jetzt wieder zu den Kriterien zurück, die zu dem Gedankengebäude geführt haben. Denn die Rahmenbedingungen, die möglich sind und die zu weiteren Aktivitäten und Öffnungen führen können, heißen Freiheit, Zeit haben und unbeschwert in den Tag hineingehen zu können sowie unbeschwert und ohne Ziel sein Denken vertiefen zu können. Das Ziel, kurz genannt, sei Weisheit. Das ist für mich die Aufgabe eines erfüllten Ruhestandes, die Tätigkeit im alt und frei sein. Um Weisheit zu entwickeln muss der Fokus auf das Leben, auf den neuen Tag, auf den Restbestand an Tagen sich ändern dürfen. Hierzu ist nicht „immer weiter so“ gefragt, sondern gefragt sind vielmehr anhalten, schauen, wirken lassen, offen bleiben und alles und jedes hinterfragen zu dürfen.
Ich für mich werde dieses Ziel verfolgen, wenn mein letzter Arbeitstag vergangen ist. Ich für mich habe vor, weise zu werden. Und wenn es denn gelingen sollte, sehe ich weiter und dann schreibe ich auch darüber, wenn Finger und Augenlicht dies noch zulassen. Und ich bin genauso gespannt auf das Ergebnis wie der Leser dieser Zeilen.  So stelle ich mir den Abschluss vor, den Lebensabend, und so werde ich ihn hoffentlich auch bestreiten!




Spiritualität ist ein fragendes Fortschreiten in die Ungewissheit

Wo immer der Mensch an seinem In-Der-Welt-Sein arbeitet, also etwas zu regeln, zu verändern, zu berichtigen oder zu erweitern sucht, wird er mit den Grundfragen des Lebens konfrontiert, und die heißen erstens „wozu/warum/wofür das alles?“ und anderseits „was/wer bin ich?“. Diese Fragen, der sich jeder Mensch in seinem Leben irgendwann stellen müsste, um befriedet alt werden zu können, sind so oft diskutiert und unterschiedlich beantwortet worden wie keine anderen Fragen, dreht sich doch die Philosophie, Theologie, Psychologie und Soziologie im Grunde um nichts anderes als um das.

Sehr unterschiedlich sind die Perspektiven, Vorgehensweisen und Ausgangsbeschreibungen für die Behandlung dieser Fragen, und wir müssen, wenn wir in der Reflektion erfolgreich bestehen wollen, uns immer wieder fragen, ob die Wahl, die wir zu Beginn dafür getroffen haben, ausreichend und zielführend war. Meine Ansicht dazu ist die, das wir uns niemals richtig für einen Ausgangspunkt entscheiden können und daher aufgefordert sind, immer wieder neu zu beginnen, immer wieder neue Perspektiven zu suchen. Im Grunde führt erst das Scheitern und Neubeginnen zu Erfahrung und damit zu der Sicherheit, die durch stetige Wiederholung die Angst vor dem nächsten Scheitern auf ein Minimum reduziert. Diese minimale Angst, man könnte sie auch Lampenfieber nennen, ist dann die Spannung, die ein erfülltes und gelassenes Leben ermöglicht und zu Freude führt, Freude am lebendig sein, Freude am Leben selbst.

Philosophie und Theologie beschäftigen sich seit 2500 Jahren und mehr mit diesen Fragen und haben sehr reichhaltige Antworten hervorgebracht, die letztlich immer, wenn sie von den Mächtigen der Welt vertreten wurden, zur Grundlage einer Gesellschaftsform weitergeformt wurden. Beherrschten in früheren Jahrhunderten überwiegend Religionen diese Gestaltungsebene, so herrschen heute Wirtschaftsstrukturen und Weltanschauungen. Drei davon sind heute für unser Leben wichtig. Sie sind bekannt als Positivismus, Idealismus und Lebensphilosophie. Diese drei bilden den Kern der möglichen Anschauungen in der westlich geprägten Welt.

Der Positivismus ist eine Richtung in der Philosophie, die fordert, Erkenntnis auf die Interpretation von „positiven“ Befunden, Mathematik oder Logik zu beschränken, also solchen, die im Experiment unter vorab definierten Bedingungen einen erwarteten Nachweis erbringen. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Positivismus]

Idealismus bezeichnet unterschiedliche Strömungen und Einzelpositionen, die hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist bzw. dass Ideen bzw. Ideelles die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Idealismus]

Lebensphilosophie ist eine Strömung der Philosophie, die als Gegenentwurf zu einseitiger Betonung der Rationalität nach Art der Naturwissenschaften das Werden des Lebens, insbesondere seine Ganzheitlichkeit allein mit Begriffen und Logik nur unzureichend erfassen und beschreiben würden. Zu einem umgreifenden Leben gehörten ebenso nicht rationale, kreative und dynamische Elemente. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Lebens-philosophie]

Wenn wir uns diese drei Strömungen genauer ansehen werden wir feststellen, dass alle drei in unserem Leben eine Rolle spielen, obwohl sie sich grundlegend widersprechen. Der Positivismus, der dem Materialismus nahesteht und beweisbare, belegbare Nachweise einfordert, bestimmt unsere praktische und wirtschaftliche Lebensweise mit einer Ausnahme, nämlich einer Ausrichtung auf den freien Markt, der als Grundidee eine idealistische Vorstellung vertritt. Moralisch fühlen wir uns überwiegend ebenfalls dem Idealismus verpflichtet, zu leben und anzuwenden pflegen wir aber eine mehr positivistische Sichtweise, was im Grunde einer Lüge gleichkommt. Bei Gestaltung und Ausfüllung des persönlichen Lebensinhaltes greifen wir dann gerne auch auf lebensphilosophische Ansichten zurück, weil die Befriedung der Triebe und die Fähigkeit zur Intuition so attraktiv sind. In der Summe ist unser In-Der-Welt-Sein von einer subjektiven Auswahl aus diesen drei Möglichkeiten geprägt, wobei wir bei der Wahl im Grunde stets egozentrisch den eigenen Vorteil in den Mittelpunkt stellen. Wir wählen also einfach gesagt stets die Sichtweise, die uns am bequemsten erscheint.

Mit Yoga und Meditation arbeiten wir neben der Herstellung von körperlicher Gesundheit und Kraft auch an den zwei Fragen, die eingangs so einfach in den Raum gestellt wurden. Um hier aber Perspektiven finden zu können, in denen ein Üben (was immer auch ein Scheitern-Können beinhaltet) stattfinden kann, müssen wir uns unserer Position bewusst werden, aus der heraus wir jetzt beginnen. Wir müssen sehen, dass wir uns in Denken und Handeln in Konstruktionen der Wirklichkeit bewegen, die von Ausstattung und Handhabung her nicht von uns selbst stammen können, sondern Produkte von wissenschaftlich arbeitenden Disziplinen sind. Diese als Denkstruktur zu verwenden verhindert eine realistische Positionserfahrung, denn Wissenschaft lebt von Verifikationen (einerseits belegbare, messbare und wiederholbaren Gesetze, andererseits Theorien, wo etwas belegbares nur begrenzt möglich ist) Ohne eine Position können wir aber nicht beginnen, an uns selbst zu arbeiten. In der alltäglichen Lebensbewältigung mögen allgemeine Gesetze und überzeugende Theorien zwar angenehm und nützlich erscheinen, für die Arbeit am Selbst allerdings bedarf es wesentlich mehr Klarheit und Ehrlichkeit. Man kann Bequemlichkeiten nicht abstellen, wenn man sie nicht wahrnimmt. Man kann Vorurteile nicht erkennen, wenn man sie nicht in Frage stellt. Man kann Praktiken und Übungen nicht beurteilen, wenn man sie nicht erprobt und durchlitten hat. Man kann Fragen nicht so beantworten, weil scheinbar alle sie so zu beantworten pflegen. Man kann nicht so handeln, weil alle so handeln. Man kann nicht zur Wahrheit vordringen, wenn man Anschauungen und Dogmen glaubt und sie unhinterfragt gewähren lässt. Was wir tun müssen, um voranzukommen, ist selbst Fragen stellen. Nicht die Antworten, sondern die Fragen sind entscheidend, nicht das Wissen (das meist von anderen stammt), sondern die Erfahrung ist wichtig. Und dafür müssen wir zumindest uns selbst gegenüber ehrlich sein. Ehrlich sein bedeutet in diesem Sinne, unsere wahre Kondition zu erkennen, uns nicht weiter selbst zu belügen. Was wir können muss uns bewusst sein, was wir nicht können ebenfalls. Was wir können ist dauerhaft zu erhalten, was nicht gekonnt wird ist zu üben, um es verfügbar zu machen. Üben bedeutet auch immer ein Scheitern-Können zu riskieren, und dafür sind Mut und Selbstvertrauen wichtige Eigenschaften. Diese beiden Eigenschaften werden im Zirkelschluss genau durch stetes Üben erarbeitet. Das erfordert Ausdauer  und manchmal auch Leidensfähigkeit, vor allem aber erfordert es, gegen den inneren Widersacher anzukämpfen. In meiner Vorstellung kann man nicht zu einer Veränderung vordringen, ohne jetzt eine Position zu haben und diese mit Mut und Ausdauer auch wieder verlassen zu wollen. Spiritualität (das ist die immerwährende Suche nach der Antwort auf die beiden Fragen) ist daher ein Fortschreiten in die Ungewissheit.

Fragen zu stellen ermöglicht sich zu entwickeln, sich weiter zu bewegen.  Fertige Antworten zu haben erzeugt immer nur Stillstand.