Verstand/Denken vs Intuition/Gefühl in der Spiritualität

Wer sich jemals mit Spiritualität, Esoterik oder den vielen Theorien und Methoden des Yoga und der Meditation beschäftigt hat, kann eine für unser Lebensgefühl im 3. JT seltsame Entdeckung machen: Es wird stets deklariert, das unser Verstand, unser Denken die Ursache allen Übels sei und wir diesen misstrauen und mehr Aufmerksamkeit dem Gefühl widmen sollten. Diese Überlegung halte ich durchaus für richtig, aber sehr oft ist die Absolutheit, mit der diese Aussage getätigt wird, mehr als deutlich überzogen und daher für den der Tradition folgenden Übenden gefährlich. Warum sehe ich das so?



Zunächst einmal hat uns schließlich erst unser Verstand in die Meditationsräume geführt, weil er dem Gefühl, das es mehr geben müsse als dieser Verstand uns normalerweise zugesteht, Rechnung trug. Mit anderen Worten: Der Verstand und sein Denken haben uns erst ermöglicht, uns Gedanken zu machen über die Kunst und Möglichkeit, den Verstand in seine Grenzen zu weisen und führt das dann auch in der Praxis aus. Absolut gedacht sagt uns also unser Verstand, folgten wir den übertriebenen Aussagen der Spiritualitätsliteratur, das wir auf ihn verzichten sollten und hilft uns auch dabei, sich selbst ruhig zu stellen. Das Gefühle und Intuitionen trügen können, ist aber doch allgemein bekannt und auch bewiesen. Die Scheidungsraten in freiheitlichen Gesellschaften sorgen da für ein mehr als deutliches Bild. Das aber auch der Verstand zu vollkommen unsinnigen Entscheidungen fähig ist, können wir ebenfalls tagein und tagaus in den Nachrichten erfahren. Wie also lösen wir dieses allzu offensichtliche Dilemma?

Wenn wir der Lösung auf die Spur kommen wollen müssen wir nicht die Spiritualität oder den Rationalismus, mit anderen Worten die Gegensätze des Problems, die sich scheinbar nicht in Einklang lassen, befragen, sondern uns zunächst einmal die Voraussetzungen der Dilemmabildung anschauen. Das Dilemma entsteht doch nur dann, wenn wir schon vor unseren Überlegung beschlossen haben, das sich Gefühl und Verstand unversöhnlich gegenüberstehen, wir also einen Gegensatz voraussetzen und diesen als Setzung absolut gültig zu verstehen gedenken. In unserer Logik, die meist ein Entweder-Oder verlangt, ist eine dritte Möglichkeit scheinbar nicht vorgesehen. Gerne berufen wir uns dabei auf den Dualismus und die Gesetze der Logik, denen wir folgen, aber: Erstens stimmt das mit dem Dualismus nicht, denn auch der Taoismus und andere spirituelle Traditionen folgen einem Dualismus (Yin – Yang), denn der hat per Definition…

Als Dualismus werden vor allem philosophische, religiöse, gesellschaftliche oder künstlerische Theorien, Lehren oder Systeme zur Deutung der Welt bezeichnet, die von zwei unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Grundelementen ausgehen, beispielsweise zwei Entitäten, Prinzipien, Mächten, Erscheinungen, Substanzen oder Seh- und Erkenntnisweisen. Beide Elemente stehen häufig in einem Spannungsverhältnis oder sogar Gegensatz zueinander, können sich aber auch als Polarität ergänzen. Wikipedia (DE)

…nichts mit Gegensätzen zu tun, und zweitens: Warum um alles in der Welt werden diese beiden denn als Gegensätze verstanden? Was wäre so schlimm daran, wenn die beiden, wie Dualität es zulässt, sich polar verhalten und vielmehr ergänzen statt trennen würden?

Denken wir den letzten Satz des vorherigen Absatzes einmal zu Ende. Dazu müssen wir uns den Begriff bzw. die Definition von Polarität in der Philosophie einmal genauer anschauen:

Polarität ist ein Ausdruck der Philosophie für das Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen. Sie unterscheidet sich vom Dualismus, bei dem die Größen als antagonistisch gesehen werden. Bei der Polarität geht es nicht um einen unvereinbaren Gegensatz, sondern um ein komplementäres Verhältnis. Eine Polarität besteht aus einem Gegensatzpaar und der Beziehung zwischen den Polen: hell – dunkel, kalt – heiß, schwarz – weiß, Mann – Frau, Liebe – Hass, arm – reich, krank – gesund usw. wobei einem einzelnen Pol nie eine Wertung zukommt. Die Pole sind die zwei gegenüberliegenden Enden derselben Sache, untrennbar zu einer Einheit verbunden und bedingen einander. Wikipedia (DE)

Wenn wir den Text richtig lesen und verstehen, sind die Pole lediglich die beiden Enden ein- und derselben Sache und darum keine Gegensätze. Sie sind komplementär [2. aus dem Franz.: (sich) ergänzend]. Wenn ich diese Konfiguration annehme und entsprechend verfahre, entsteht das oben genannte Dilemma einfach nicht, da sich die Pole sowohl ergänzen als auch gegensätzlich zueinander stehen. Es entsteht umgangssprachlich die logische Folgerung „sowohl als auch“. Ich sollte also aus einen jedem verständlich zu machenden Beispiel heraus der Tatsache, total „verliebt zu sein und für immer bei jemanden sein zu wollen…“ verbinden mit der Warnung des Verstandes, der erkennt: „Ich bin zwar verliebt…“, der aber auch die Folgen des „…für immer…“ abschätzen kann und dann die Warnung ausspricht, das die Chance des Gelingens im 3. JT. statistisch bei 50:50 steht. In Analogie dazu wäre die Aufforderung der spirituellen Literatur, den Verstand und das Denken aufzugeben und nur noch aus dem Bauchgefühl heraus zu leben, durchaus mit dem Hinweis zu verbinden, das der Mensch dabei eine wichtige, notwendig und auch brauchbare Erkenntnisweise verlieren würde, ohne die ein Bestehen in der heutigen Zeit gar nicht mehr machbar wäre.



Dann gibt es oft, wie in der Überschrift auch angemerkt, in der Literatur die häufig zu findende Gleichsetzung von Intuition und Gefühl oder zumindest die Betonung der Nähe der beiden Begriffsinhalte. Auch das scheint mir doch ein sehr verwegener Gedanke zu sein. Genau so, wie „versus“ nicht Gegensatz, sondern „gegenübergestellt“ bedeutet, ist Intuition und Gefühl nicht ein- und dasselbe. Schon die Definition in Wikipedia…:

Intuition (von mittellateinisch intuitio „unmittelbare Anschauung“, zu lateinisch intueri „genau hinsehen, anschauen“) ist die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte, Sichtweisen, Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen zu erlangen, ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes, also etwa ohne bewusste Schlussfolgerungen. Intuition ist ein Teil kreativer Entwicklungen. Der die Entwicklung begleitende Intellekt führt nur noch aus oder prüft bewusst die Ergebnisse, die aus dem Unbewussten kommen. Kritisch ist hierbei zu sehen, dass bei positiver Wirkung einer – zunächst nicht begründbaren – Entscheidung gerne von Intuition gesprochen wird, während man im Falle des Scheiterns schlicht „einen Fehler gemacht“ hat, wobei es gerade keinen Mechanismus gibt zu prüfen, welche mentalen Vorgänge zur jeweiligen Entscheidung führten. Einige Wissenschaftler vermuten, dass dem Informationsaustausch zwischen dem enterischen Nervensystem und dem Gehirn auch eine Rolle bei den intuitiven Entscheidungen („Bauchentscheidungen“) zukommt.

…enthält einen klar formulierten Hinweis darauf, das Intuition und was damit gemeint ist, in der sprachlichen Verwendung einige Unschärfen erkennen lässt. Wenn der Verstand nur noch ausführt, was der Bauch sagt, erfüllt er seine Aufgabe nicht mehr. Wenn dann zutreffende oder richtige Entscheidungen durch „Positives Denken“ in den Himmel gehoben, im Falle des Scheiterns aber „nur“ zu einem Fehler gemacht werden, sind doch offensichtlich schon Vorurteile, Setzungen oder Narrative im Spiel gewesen. Im letzten Satz dann sehen wir dann auch genau die Ursache der Sprachverwirrung: Intuitive Entscheidungen werden mit Bauchentscheidungen gleichgesetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch beruhen Bauchentscheidungen auf Gefühl, ob Intuition aber im Bauch angesiedelt werden sollte, stelle ich in Frage. Denn sowohl Gefühl als auch Intuition leuchten einfach nur auf und müssen dann durch die Mitarbeit und Auslegung des Verstandes artikuliert und umgesetzt werden. Das dabei dann auch andere Funktionen des Geistes wie Narrative und andere Setzungen hinein strahlen können, ist sehr wahrscheinlich. Meiner Ansicht nach sind Verstand und Denken, Gefühl und Intuition vier Möglichkeiten der Wahrnehmung, die gleichberechtigt und ineinander verzahnt nicht voneinander getrennt werden können. Sie sind multipolar ausgelegt und sollten auch so gesehen werden.

Dieser letztgenannten Ansicht ist auch der Yoga, der sechs Sinne zählt und neben den bekannten fünf das Denken zu den Sinnesfunktionen zählt. Und zwischen Denken, Vernunft und Verstand sehe ich keine validierbare Unterscheidung. Wo hört Denken auf und Verstand und Vernunft beginnen? Und diese sechs Funktionen stehen dann im meiner persönlichen Wahrnehmung in der Übungspraxis sowohl polar als auch gegensätzlich nur der Stille gegenüber. In dieser Stille werden aber die Sinne nicht abgeschaltet, aber ihre Bedeutung und Wichtigkeit wird durch eine klar und eindeutig definierte Übungsweise massiv ab- bzw. eingegrenzt. Das erscheint in der körperlichen Praxis durch das unhinterfragte Befolgen der Anweisungen, wie der Körper zu bewegen und/oder zu halten sei, in der Meditation im Befolgen der Anweisung „nicht bewegen“ sowie im Verbleiben in der o.g. stillen Abgrenzung und/oder dem Verweilen in der vorgegebenen Konzentration. Der Begriff Stille bezieht sich also nicht auf das Hören oder Denken, sondern auf die Nicht-Umsetzung der durch die sechs Sinne erzeugten Impulse in Bewegung, Arbeit, Denken oder Spannung mit Ausnahme der durch den Lehrer oder die Tradition gegebenen Anweisungen für die Übung oder Übungsweise. Das könnte auch einfach mit einer Filterfunktion verglichen werden. Die sechs Sinne sind da und arbeiten ihrem Auftrag gemäß, aber nur die für die Praxis notwendigen Informationen werden den gesetzten Filter in Richtung Ausführung passieren können. Wir unterscheiden wie üblich in Übungs- und Unterrichtspraxis:

In einer Übungspraxis gibt es eine vorgegebenen Abfolge von Übungen, die über Verstand, Denken und Sinne gesetzt werden. Diese werden durch eine Vorlage, eine Erfahrung oder eine Zielvorstellung geprägt sein. Die Anweisungen werden genau befolgt und eingehalten. Es werden keine Bewertungen vorgenommen. Der Übende betritt den Übungsraum, er verlässt damit die alltägliche Sorgenwelt, durchlebt seine Übungen ohne Störung und kehrt mit dem Verlassen des Übungsraumes wieder ins Alltägliche zurück. Punkt. Üben ist ein Versuch, sich etwas zu erarbeiten, was seinen Platz noch nicht gefunden hat. Daher braucht es Führung, die zumindest auch schon durch eine Idee gelegt sein kann.

Eine Unterrichtspraxis wird im aktiven Teil wie die Übungspraxis durchlebt, enthält aber zusätzlich die Übermittlung von Wissen durch den Lehrer und die Möglichkeit, auch neue Anweisungen und/oder zugetragene Ideen zu erproben. Alles Weitere hat auch hier keinen Platz.

Die Meditationspraxis zeigt gewöhnlich einen in Bewegungslosigkeit gestellten Körper, der seine mentalen Bewegungen erfolgreich entweder in Stille (s.o.) oder in Konzentration eingrenzt. Da die Meditation kein Ziel kennt, kann man sie nicht üben. Man kann sie nur leben. Auch hier gilt das Verlassen des Alltäglichen und die Rückkehr zum Alltag nach Ende der Praxis als Erfolgsrezept.

Wenn ich das bisher geschriebene zusammenfassend bündeln wollte würde ich sowohl eine Unterteilung als auch eine Gegenüberstellung von Verstand/Denken und Gefühl/Intuition als unwirksam ablehnen. Die vier sind in meiner Vorstellung eine Multipolarität und daher nicht ein- oder abgrenzbar. Weiterhin halte ich die oft gehörte und gelesene Vorstellung, Yoga- und Meditationselemente in den Alltag übertragen zu wollen für eine Unzulänglichkeit, die als Verallgemeinerung nicht gelebt werden kann. Konzentrative, ausgrenzende und gefilterte Verfassungen sind im Alltag auch so zuhauf zu bemerken und müssen nicht mit den spirituellen Verfahren ähnlicher Prägung gleich gesetzt werden. Die Zeit der Übung in Yoga und Meditation sind begrenzte Zeiten und oftmals dazu nur in vor Störungen geschützter Umgebung angesiedelt. Sie in den Alltag tragen zu wollen verspricht wenig Erfolg. Trotzdem werden Yoga und Meditation den Alltag befruchten wie alles andere Erleben auch. Warum sollte es hier Ausnahmen geben. Gemachte Erfahrungen werden immer in die Gesamtheit des Empfindens eingearbeitet und wirken dort. Weiterhin ist zu bedenken, das jegliche Auswahl von Eindrücken und Auslegungen wie z.B. das „Positive Denken“ keine spirituelle Praxis genannt werden kann. Spiritualität leben heißt „Einen“ und „Zulassen“ und erlaubt weder Auswahl noch Bewertung. Einen heißt allen Sinnen [4. Die fünf klassischen Sinne plus Denken, einschließlich Verstand, Vernunft, Erfahrung, Intuition und mentales Fühlen, Unterbewusstsein, usw… ] ihren Raum geben und sie alle unbeschwert arbeiten zu lassen. Und die Entscheidung trifft nicht eine außen stehende oder intern übergeordnete Instanz, sondern die Summe der Sinnesfunktionen in innerer Abstimmung selbst. Sie alle tragen ihr Puzzleteil zur Entscheidungsfindung gleichberechtigt neben- und ineinander verzahnt bei. Welche Funktion dabei führend, bestimmend oder auch unberücksichtigt blieb ist dem Menschen selbst letztlich unbekannt. Die Einung entspricht sozusagen dem politischen Prozess eines Diskurses, der immer irgendwann zu einem Ergebnis führen muss. Die Sinne und deren Auslegung sind in politischer Systematik gesprochen Volk, Parlament und Regierung zugleich. Was in der Politik dann Demokratie genannt wird, ist in der Spiritualität zu „Innere Freiheit“.

Was folgt aus dieser Beschreibung für das Leben im Alltäglichen? Niemand kann genau und eindeutig bestimmen woher Empfindungen, Gefühle, Intuitionen und Visionen kommen und wie sie sich begründen. Wir haben nur gesicherten Zugriff auf erlebte aktuelle eigene Erfahrung. Eine gesprochene oder geschriebene Übermittlung ohne eigenes Erleben ist Halb-Wissen und daher immer mit Unsicherheit behaftet. Nun ist es so, das wir im 3. JT. nicht ohne Wissen und Halb-Wissen auskommen können, da niemand in einer so komplexen Gesellschaft alles was es gibt erlebt haben kann. Wir sind daher noch immer, auch wenn die Wissenschaften etwas anderes behaupten, neben Wissen auch auf Erkenntniswege angewiesen, die nicht bewiesen werden können und die ebenfalls mit Unsicherheit belegt sind. Aber das ist kein Dilemma, sondern die Wahrnehmung der purer Realität unserer Existenz. Unser Leben, unsere Entscheidungen, unser in der Welt sein ist mit Unsicherheit behaftet, denn es gibt kein Ewiges, auf das man sich berufen könnte. Alles ist vergänglich, das Leben selbst, das Wissen, die Erfahrung, das Erleben und alles Materielle ebenfalls. Sogar unser Planet, unser Sonnensystem und unsere Galaxis werden wohl nicht ewig existieren. Wir sollten, ja müssen uns mit der Endlichkeit und dem daraus folgenden Nicht-Wissen-Können abfinden, sonst wird unser Leben nicht gelingen. Wir machen sozusagen immer nur „das Beste daraus“. Mehr ist nicht möglich. Und wo Unsicherheit Standard ist, kann Gelingen, Sicherheit und Erfolg nicht garantiert sein. Und seien wir doch einfach mal ehrlich: Welche Funktion unserer mentalen Palette letztlich zu unseren Entscheidungen führt und warum … ist letztlich nicht von Belang. Entscheidung ist Entscheidung, und bereits deren Artikulation führt zu Konsequenzen. Wir sollten uns daher darauf einrichten, auch Misserfolge erleben zu können/müssen, und wir sollten lernen, auch die mit Haltung und in Würde zu überstehen. Das auch die Konsequenzen des Gelingens würdevoll und mit Haltung zu (er)tragen sind, muss nicht extra erwähnt werden. Auch das gehört zu gelebter Spiritualität.




Karmalehre und Philosophie als Bedingung der Meditation des Jnana-yoga

Der Versuch, eine Verbindung zu formulieren zwischen westlicher Philosophie und östlicher Weisheit ist eine meiner Arbeiten aus 12/1999.

Wir leben in einer unbegrenzten, unendlichen Welt, die eine sowohl denkbare als auch undenkbare Fülle von Möglichkeiten enthält, eine Welt, die weder durch Zeit noch durch Raum begrenzt ist und die keinen Zeitpfeil kennt. Aber als Mensch sind wir eine gebundene Form des Lebens, gebunden an die Physis eines Organismus, gebunden an eine Richtung in der Zeit, gebunden durch Begrenzung des Raumes und gebunden durch Endlichkeit. An einer Stelle, einem Ort und einem Moment in diese Welt geworfen, beginnt zunächst die Kette von Ursache und Wirkung unser Leben zu bestimmen, lässt uns dieser Automatismus keine oder nur noch wenige Möglichkeiten zur Wahl.

Hier liegt unser Ausgangspunkt, hier stehen wir am Anfang unserer Praxis. Diesen  Punkt zu erkennen, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung aus den Rad des Lebens. Als begrenzte und gebundene Form besitzen wir nur die Fähigkeit, eine begrenzte Auswahl von Möglichkeiten aufzunehmen, zu erkennen und auch zu nutzen. Diese Erkenntnis (der zweite Schritt) ist zwangsläufig eine Folgerung der ersten und ist von außergewöhnlicher Banalität. Trotzdem sagt sie uns klar und deutlich, wie unser Leben zu gestalten sei, wenn wir Veränderung anstreben. Wenn wir selbst unser Leben in die Hand nehmen wollen, selbst gestalten und wählen wollen, müssen wir (erstens) das bereits laufende Rad anhalten oder zumindest stark verlangsamen, müssen uns weiterhin (zweitens) über die Fülle unserer Möglichkeiten klar geworden sein und dann (der dritte Schritt) mit Bedacht wählen. Jede Wahl setzt das Rad erneut in Gang, jede Wahl ist eine Begrenzung und eine Einschränkung zukünftiger Möglichkeiten. Dies ist die dritte Erkenntnis, sie folgt aus den anderen und ist unvermeidbar und unwiderlegbar. Wir können als begrenztes Wesen nur begrenzt aufnehmen, einerseits wird alles nicht aufgenommene wie ein Opfer preisgegeben und daher Leiden verursachen, andererseits wird alles aufgenommene unsere zukünftigen Möglichkeiten begrenzen, eine weitere Auswahl erschweren oder verhindern und daher ebenfalls Leiden nach sich ziehen.
Was also können/sollten wir tun? Wir sind niemals frei in der Entscheidung, und wir können niemals ganz frei werden, denn dazu müsste uns als Mensch Unbegrenztheit zufallen. Wählen wir also unseren Teil aus, und dreht sich damit das Rad in eindrucksvollen Geschwindigkeit, so sind wir begrenzt für den Rest unserer Tage in dieser Form als Mensch, das Rad dreht sich und wir folgen ihm. Das nicht Erwählte wird bald als Verlust erfahren werden. Wählen wir nur begrenzt und sparsam aus, halten wir also das Rad nur in langsamer Drehung, verzichten wir damit auf eine Vielzahl von Möglichkeiten und damit verbunden von Eindrücken zugunsten einer unbestimmten Zukunft, was zumindest im Moment des Verzichts ebenfalls als Verlust erfahren wird. Lassen wir uns treiben im Strom der immerwährenden Bewegung um uns herum, wählen wir also nicht und bestimmen wir nicht, so verzichten wir auf die Selbstbestimmtheit unseres Lebens, andere wählen für uns und wir werden zu ”Getriebenen”. Wo liegt da die Lösung?
Die Bhagavad Gita hält daher einen Rat für uns bereit, der in etwa so lautet:
Wir wählen aus der Fülle der Möglichkeiten aus nach bestem Wissen und Gewissen, tun dann, was wir tun müssen, aber wir gestalten unser Tun so, dass wir nicht hängen an den Früchten dieser Handlungen.
Aber was genau bedeutet dieser Satz, und wie geschieht so etwas in der Praxis? Wie kann ich mir dies vorstellen? Ist dieser Sinngehalt dieses Satzes nicht paradox? Gerade doch aus dem Streben nach den Früchten heraus haben wir begonnen, den Mechanismus unseres Leidens zu durchschauen. Um das Leiden zu mindern, und das sind doch die Früchte unseres Strebens, haben wir doch mit einer Praxis begonnen und sind erst so auf diesen Satz der Bhagavad Gita gestoßen. Fehlt hier dann nicht etwas entscheidendes? Müssen wir dann aufgrund dieses Satzes die Wege des Vergangenen nicht trennen von den Wegen, die vor uns liegen? War der vergangene Irrweg nicht erforderlich, ja zwangsläufig dann auch richtig, um hierher zu finden? Und ist diese Aussage nicht eine neues Paradox, dass ich nämlich nur auf Irrwegen zur Wahrheit finde, und mein neu einzuschlagender Weg ebenfalls ein Irrweg sein muss? Und wie kann ich mit dieser Paradoxie im Gepäck fortschreiten?
Dieser Sinngehalt ist unserem, zu Differenzierbarem zugeneigten einfachen Denken nicht erfassbar. Wir brauchen eine Hilfe, um dies zu erfassen. Wir müssen sich widersprechende Aussagen nebeneinander stellen können, ohne sie in Beziehung zu bringen, ohne sie aufeinander wirken zu lassen. Diese Hilfe finden wir in der philosophischen Idee vom Hintergrund, vom Einen, vom Umgreifenden, von Gott, von Tao oder von Brahman, auf dem sich solche konträren Facetten (Paradoxien) abbilden lassen.
Auf diesen Hintergrund sehen wir die Paradoxie wie die zwei Seiten einer Münze, wir nehmen auf, ohne zu verarbeiten, betrachten ohne Auswahl und Urteil, verzichten also auf die Schlussfolgerung, die sich zB in der Theorie von ”These, Antithese (diese bilden die Paradoxie) und Synthese (Urteil) ausdrückt.
Diese Betrachtung dann schafft Bilder und Symbole, zu denen sich durch ”wirken lassen”, das ist eine bewusst herbeigeführte Unbestimmtheit in unserem Denken, in der unendlichen Fülle der Möglichkeiten eines unbegrenzten Universums Entsprechungen finden lassen, die in ihrem Bewusstwerden als Idee sich in unserem Denken Ausdruck verleihen.

Diese Idee (nach Platon), wir können sie auch Intuition (im Yoga) nennen, steht uns, einmal erkannt, dann als erweiterte, fast immer auch neue Möglichkeit offen. Durch ihre Herkunft aus der Fülle, aus dem Hintergrund,  verbindet sie uns symbolisch mit allem und ist daher dem, was wir als die eine Wahrheit bezeichnen, sehr nahe. Diese Betrachtung und dieses ”wirken lassen” erreichen wir in der Praxis der stillen Meditation. Aber diese Praxis erfordert Bedingungen:

  • Die Bereitschaft zur Analyse, des Erkennens, was ist (jetzt und hier).
  • Die Bereitschaft des ”offen-seins” und ”offen-bleibens” für unbestimmte Zeit.
  • Die Bereitschaft, weiterhin zu erkennen und zu lernen.
  • Die Bereitschaft, die aufleuchtenden Paradoxien solange zu ertragen.

 

Ohne diese Bedingungen ist die Meditation oft nur ein unbestimmtes Staunen, wird sie wie zu einer kurzen Flucht aus dem Häusermeer der Städte in die freie Wildnis der Natur, von der nach der Rückkehr nichts bleibt als eine sehnsuchtsvolle Erinnerung, die bald neues Leiden gebiert. Wirkliche Meditation arbeitet im und mit dem Meditierenden, sie formt und weitet, erhellt und vermindert so Leiden. Sie braucht dazu eine Analyse und Kenntnis dessen, was ist (zB: Erkenntnis des Prinzips von Ursache und Wirkung – Karmalehre des Yoga), und sie braucht eine Methode der Vorstellung, die nicht formt, sondern wahrnimmt (zB: Philosophie der Idee nach Platon). Kenntnis, Wahrnehmung und die Wirkung der Meditation führen nur gemeinsam zum Erfolg, so wie erst ein Tisch mit drei Beinen zum sicheren Stehen findet.