Der Karma-Gedanke in der Verdrängung
Die Idee vom Karma, wie sie allgemein üblich vertreten wird, ist etwa folgende: Wenn du im Leben gutes tust, dann wirst du dafür belohnt, wenn du böses tust, dann wirst du dafür bestraft. Und damit all das auch in aller Gerechtigkeit von statten geht, sitzt da irgendwo ein allmächtiger Buchhalter und macht Kreuze und Stiche, führt also ein Konto über seine Schäfchen.
Nun ist das ja alles schön und gut, aber … ich bin ein Vedantin, das heißt, ich glaube nicht an einen von mir getrennten Gott irgendwo, sondern… und da fängt es schon an, schwierig zu werden. Und bei aller Suche im Innen und Außen habe ich den Buchhalter noch immer nicht gefunden. Irgendetwas an dieser einfachen Sichtweise ist falsch, und ich möchte in ein paar Beispielen zu begründen versuchen, warum das so nicht stimmen kann:
- Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, warum degradiert er/sie/es sich zu einem Buchhalter. Warum führt er Buch über Gut und Schlecht, wo er doch bestimmen könnte, was geschieht. Warum gestattet er seinen Schäfchen Sünden, um sie dann zu bestrafen. Ist er vielleicht doch ein Sadist?
- Warum darf Arjuna in der Gita morden, ohne schlechtes Karma aufzubauen, während seine Gegner in der gleichen Schlacht verdammt werden? Warum macht der allmächtige Krishna dem grausamen Spiel nicht gleich ein Ende?
- Wie kommt es, das Gut und Schlecht sich im Laufe der letzten tausend Jahren immer wieder wandeln konnten. Was heute Gut ist, kann morgen schlecht sein und der Erfolg: heute gutes Karma, morgen schlechtes? Und das soll ein kosmisches Gesetz sein?
- Wie wir aus den Yoga-Sutren lesen können, sind Zuneigung und Abneigung gleichermaßen zu meiden. Sind wir also dem Guten zugeneigt, ist das Schlecht, sind wir dem Schlechten zugeneigt, ist das auch schlecht. Was nun?
Die Liste dieser Fragestellungen könnte noch viele Seiten füllen. Aber es sollte klar geworden sein, das sich etwas in dieser Denke einfach nicht zusammen reimt.
Ich möchte hier einen anderen Ansatz vorstellen. Dieser Ansatz ist ein bisschen weniger einfach, aber doch etwas weniger mit Fragen behaftet. Zunächst sind ein paar Leitgedanken festzuhalten, die mittlerweile, wo die Kulturen sich vermischen und berühren, allgemein anerkannt sind:
Gut und schlecht sind festgefügte Formen der Konvention.
Das bedeutet, das in der einer Konvention (Kultur) etwas gut sein kann, was in einer anderen als schlecht betrachtet wird. Und Konventionen sind überwiegend unbewusste Steuerungsmechanismen, Bedingtheiten, über die wir selten reflektieren.
Der Mensch ist ein psychologisch bedingtes Wesen
Der Mensch unserer Zeit ist viel mehr als bedingt anzusehen, als dies je in einer Zeit zu Bewusstsein gekommen sein kann. Und Bewusstsein, so wie wir es üblicherweise verstehen, ist nur ein kleiner Teil unseres Wesens, der über einem riesigen unbewussten Eisberg herausragt. Regiert wird der Mensch aber vom Ganzen, und so weiß er nur wenig über seine wahren Motive und Hintergründe.
Der Mensch ist eine Einheit aus Körper, Geist und Seele
Wir mögen es nicht wahrhaben, aber der Mensch ist Mensch nur als Ganzes. Wir essen nicht mit dem Körper, denken mit dem Geist und lieben aus unserer Seele heraus, sondern alle drei, die niemals getrennt waren, essen, denken und lieben gleichermaßen. Sie sind eins, nicht drei!
Alles ist Energie und gehorcht daher energetischen Prinzipien
Gleichgültig, ob Gedanke, Handlung, Gefühl, Wahrnehmung oder Stimmung, alles das ist Energie und gehorcht daher auch den Prinzipien, die für Energie allgemein gefunden werden können.
Wenn wir diese vier Sätze akzeptieren, und das sollte uns nicht schwer fallen, dann kann ein Karma-Gedanken geformt werden, der sehr viel klarer und genauer beschreibt, wie Karma wirkt und existiert.
Mit einem Beispiel lässt sich dies sehr anschaulich beschreiben:
Einem Bekannten geschieht ein Missgeschick, und durch dieses werde ich verletzt, gekränkt oder beleidigt und in mir baut sich eine Energie auf, die wir als Wut bezeichnen und die gegen den vermeintlichen Verursacher der Kränkung gerichtet ist, der damit in mir diese Wut provoziert hat. Er trägt damit Schuld und baut schlechtes Karma für sich auf. Aber auch ich baue schlechtes Karma auf, denn ich fröne einer Wut, die gesellschaftlich verpönt ist. Dumm gelaufen, sagt man dann dazu. Aber dieser allgemein anerkannte Gedanke ist falsch! Nachfolgend will ich versuchen, dies zu erläutern:
Das Missgeschick: Missgeschicke durchziehen unser tägliches Leben wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen. Aus ihnen entsteht Kummer und Leid ebenso wie manche Freude und Glück. Es ist eine Frage des Bewusstseins, dies zu erkennen und zu akzeptieren. Es hätte besser laufen können, ja, ist es aber nicht. Ist der, dem daher ein Missgeschick geschieht, schuldig? In aller Regel kennt die Konvention dafür eine einfache Regelung: Man entschuldigt sich und gut ist es!
Die Kränkung: Eine Kränkung wird uns nicht von außen zugeführt, sondern sie entsteht in uns selbst. Sie ist damit eine Energie, die aus uns selbst entsteht, in uns wirkt und in uns vergeht. Sie ist also salopp gesagt etwas „was uns gehört“, von uns gebildet wird, gelebt wird und auch wieder abgetragen wird. Kein Außenstehender vermag uns dieses an zu tun, wenn wir es nicht selbst wollten oder unbewusst vollziehen. Eine wahrgenommene Kränkung, einmal genauer betrachtet, ist eine Differenz zwischen unserem Selbstbild und einer Wahrnehmung, die diesem widerspricht. Sie ist damit etwas eigenes. Fügt mir also jemand eine Kränkung zu, so ist der Ausdruck oder Handlung des Anderen mit unserem Selbstbild nicht vereinbar. Das könnte uns kalt lassen, nicht bewegen oder aber zu Erläuterung und Öffnung einladen, aber kränken?
Die Wut: Mit der Wut verhält es sich wie mit der Kränkung, sie ist eine eigene Energie und dies sogar vollkommen. Und sie nur ist eine der möglichen Ausdrucksformen einer Kränkung (ist etwas, was krank macht!). Auch Trauer, Depression oder Zorn könnte Kränkung ausdrücken. Sie ist eine Energie, die Raum braucht und gelebt werden will. Sie muss nicht zwangsläufig ausgedrückt werden oder in Handlung münden. Ob und wie dies geschieht, ist eine Frage der Bewusstheit und Selbstanschauung!
Setzt ich diese Beschreibungen klar und präzise um, so entsteht aus der kränkenden Situation folgendes reales Bild:
Da gibt es einen Menschen, der mich anders sieht, als ich dies wünsche, und ich sollte mich jetzt fragen, welches dieser beiden Bilder denn der Wirklichkeit näher steht. Um dies heraus zu finden, bedarf es der Kommunikation mit dem Anderen. Geschieht dieses, so kann die Situation nicht nur gerettet werden, sondern durch die Auseinandersetzung erreiche ich einen Zuwachs an Erkenntnis.
Ist dies allerdings nicht möglich (auch andere Menschen sind manchmal gekränkt!) und Wut steigt in mir auf, erkenne ich diese Energie als meine eigene und gebe ihr Raum, ohne sie mehr als notwendig auszudrücken oder in Handlung fließen zu lassen. Die dazu notwendige Aufmerksamkeit muss ich einbringen. Sie ist notwendig, um den Automatismus des „in Handlung fliesen“ zu steuern. Alles weitere regelt sich! So baue ich auch kein schlechtes Karma auf, denn die Energie lebt und verwandelt sich durch unsere Aufmerksamkeit in Lebensenergie, die uns eher bereichert als beengt! Unterdrückte Energie jedoch würde im Geheimen ihre Kraft entfalten, die nur durch weitere Energie (Lebensenergie) gebunden werden kann. Ich habe nicht nur den schlechten Einfluss zu kompensieren, sondern muss auch noch einen zusätzlichen Bedarf decken. Schlechtes Karma baut sich ebenfalls auf, wenn in dieser Situation projiziert wird (der Andere ist schuld…), die Situation eskaliert und ich mir einen neuen Feind schaffe, der sich revanchieren wird. So fiele die Aggression meinerseits auch wieder auf mich zurück!
Der Versuch einer allgemein gültigen Formulierung?
Karma ist nicht die sehr einfache und logische Funktion des „wenn…, dann…“, sondern ein lebendiger Begriff von tiefer psychologischer Bedeutung. Es ist nicht etwas, was von außen mir aufgezwungen ist und damit unabwendbar erscheint, sondern eine tief in mir wurzelnde und mit meinem „in der Welt sein“ verbundene lebendige Fähigkeit des eigenen Wesens. Von daher ist es beeinflussbar, steuerbar und folglich auch vermeidbar. Einzige Bedingungen dafür ist sind Verstehen ihres Wirkens, der Einblick in die Natur ihrer Vernetzungseigenschaften und die Fähigkeiten, bewusst mit all diesem umzugehen. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht wirklich!
Der Schlüsselbegriff der Fähigkeit, mit Karma umzugehen, ist Bewusstheit! Dieses bedeutet zu wissen, was in mir vorgeht, warum dies geschieht und wie ich das Geschehen beeinflussen kann oder zumindest könnte. Dazu gehört weiterhin, meine Grenzen zu kennen und diese zu beachten. Bewusst zu sein ist keine dem Willensakt unterworfene Fähigkeit, sondern ein lebendiger und vitaler Wesenszug, der gepflegt und zugelassen sein muss. Das heißt zurückzugehen zu den Wurzeln des Lebensbaumes, ohne die frischen Triebe in der Baumspitze zu verlieren, also ein Spagat der besonderen Art.
Ein weiterer Schlüssel zum Karma ist die Kenntnis um die Art und Weise seines Wirkens. Dies ist umso wichtiger, als das Karma nicht diesen gradlinigen, linearen Denkweisen folgt, die wir ihm gewöhnlich zugrunde legen. Legen wir eine energetische Auffassung als Grund unter die Begrifflichkeit, so ist Karma der Ausdruck eines inneren Prozesses, der je nach Verfassung des tragenden Menschen bewusst oder unbewusst abläuft und der wie ein Energieanstieg betrachtet werden kann. Energie ist die sowohl die Fähigkeit zu handeln als auch die Fähigkeit wahrzunehmen. Sie ist unspezifisch und nicht vorgeprägt als Wut, Trauer oder Zorn, sondern ist neutral und weder gut noch schlecht, sondern kann einfach als Ausdruck des Lebendigen betrachtet werden. Wie eine sich aufbauende Energie sich ausdrückt, ist abhängig von der Art unserer Konditionierung, also Konvention, Erfahrung und Kultur. Diese drei sind gegenüber der aktiven Willensäußerung eines bewussten Menschen formbar und daher auch veränderbar.