Yama und Niyama im Wandel der Zeit

Wann immer heute mit Yoga und seinen Techniken begonnen und umgegangen wird, kommt man automatisch mit den Grundlagen dieser Lehre in Berührung und wird mit den Begriffen Yama und Niyama konfrontiert, die einen Verhaltenskodex für Übende beschreiben:

Yama (Kodex gegenüber der Außenwelt):
1. Ahimsa (Nicht-Gewalt) oder die Abwesenheit von Gewalt und Grausamkeit
2. Satya oder Wahrhaftigkeit und Wahrheit
3. Asteya (Nicht-Diebstahl) oder das Verbot zu stehlen
4. Bramacharya (Führung zu Gott) oder das Gebot, sich auf das Wesentliche hin zu bewegen
5. Aparigraha (Nicht-Zugreifen) oder das Gebot, sich nicht Bestechen zu lassen.

Niyama (Kodex gegenüber sich selbst):
1. Shauca (das Geklärte) oder Sauberkeit, Reinheit
2. Santosha oder Genügsamkeit
3. Tapas (Erhitzen) oder den Körper funktional zu halten
4. Svathyaya oder die Selbsterforschung
5. Ishvarapranidhara oder die vertrauensvolle Hingabe an Gott.

Beim genauen hinein lesen in die Gebote des Yama wird man feststellen, das diese Gebote für alle Teilnehmer an unserer westlichen Gesellschaft in Gesetzen geregelt und damit für alle bindend sind. Lediglich Wahrhaftigkeit und das Gebot, sich auf das Wesentliche hinzubewegen sind nicht unter Strafe gestellt, werden aber allgemein als Standard angesehen. Auch die Gebote des Niyama können allgemein als Verhaltensstandard oder zumindest als wünschenswert angesehen und werden, vielleicht mit anderer Begrifflichkeit, auch so von einer Mehrheit gelebt. Weiterhin gibt es vielfältige Versuche, diesen eher als archaisch empfundenen Begriffen neues, aktuelleres Leben einzuhauchen. Diese Versuche, die ich grundlegend durchaus begrüße, scheitern aber in aller Regel, weil die Umformungen und Auslegungen nur Teilbereiche der zu klärenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen darstellen können und zusätzlich noch von dogmatischen Lehrmeinungen durchdrungen bleiben. Eindrückliche Beispiele dafür sind der Vegetarismus (Ahimsa) und die oft gepredigte sexuelle Enthaltsamkeit (Bramacharya), die selbst in Wikipedia Einzug gefunden haben.

Betrachten wir mit ungetrübtem Blick die oben genannten Gebote und berücksichtigen den Lebensstandard, der in unserem Kulturkreis als allgemein vorausgesetzt gelten kann, berücksichtigen wir die religiöse Freiheit, die unsere Gesetze vorschreiben, so verbleiben unter Übungsgesichtspunkten:
1. Bramacharya mit dem Gebot, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren
2. Santosha oder die Genügsamkeit
3. Tapas oder das Gebot den Körper funktional zu halten
4. Svathyaya als das Gebot der Selbsterforschung

Kurz und in einem Satz zusammengefasst wäre das eine genügsame, sich auf das Wesentliche auszurichtende Selbsterforschung und Gesunderhaltung (Prävention). Das ist keine allzu außergewöhnliche Aussage, trifft aber im Kern die Voraussetzungen, unter denen die Übung des Yoga begonnen werden kann. Allerdings stehen heute der Zielsetzung einer Yogapraxis andere Hindernisse im Wege wie den Menschen vor 1000 Jahren. In der nachfolgenden Aufzählung seien solche beispielhaft aufgereiht und verarbeitet:
1. Da ist zunächst einmal die Zeitfrage. Eine Yogapraxis verbraucht mind. 2 Stunden an zwei bis drei Tagen einer Woche, wenn alle Module (Asana, Pranayama, Meditation, Selbststudium, Ruhe- und Wirkungszeiten) sinnvoll eingesetzt werden sollen.
2. Da ist die Fragestellung des großen Angebots an Studios, Kursen und Lehrern, die nahezu unzählige Variationen, Arten und Traditionen der Yogalehre (Praxis) anbieten. Nicht jede Form ist für jeden geeignet und oftmals sind es die weniger beliebten Formen, die wirklichen Zugewinn ermöglichen.
3. Dann ist zu nennen die Gewohnheit des Konsumierens, die auch vor Yoga nicht halt macht. Yoga an sich ist Selbsterforschung oder Arbeit an sich selbst. Mit ein paar Übungseinheiten unter Anleitung ist es oftmals nicht getan, sondern das Erlernte muss in den Alltag integriert werden.
4. Als großes Hindernis ist der Erkenntnisgewinn zu nennen, der stets Veränderungen des Gewohnten zur Folge hat. Weder das eigene Selbst noch die unmittelbaren Beziehungspersonen mögen Veränderungen und der sich Verändernde steht ständig unter Rechtfertigungszwang sowohl positiver (Ich geben die Gewohnheit auf, weil …) als auch negativer Art (Ich möchte die Gewohnheit aufgeben, aber scheue die Schwierigkeiten, die dieses nach sich ziehen würde, weil …).
5. Dann wären bei sich einstellender positiver Wirkungen der Stolz und die Missionsneigung zu nennen, die so manchen Übenden allzu schnell ergreift und die sich oft negativ auf das soziale Umfeld auswirken.
6. Weiterhin ist die Versuchung groß, sich selbst als Lehrer zu etablieren und vergisst dabei gerne und schnell, das auch das Üben an sich selbst nicht vernachlässigt werden darf.

Somit hätte eine zeitgemäße Grundlagenzusammenstellung im Sinne von Yama/Niyama so etwa nachfolgende Struktur und Umfang:

Yama (Kodex gegenüber der Außenwelt):
1. Konzentriere dich in der Lebensgestaltung auf das Wesentliche. Nicht alles was als modern und hipp gilt fördert dein Leben. Vieles davon ist Selbstbelohnung oder Zerstreuung.
2. Schließe dich nur einer Gruppe an, wenn diese dich auch fördern kann. Findest du keine Gruppe dieser Art, ziehe aus einem wahrgenommenen Unterricht das für dich Richtige heraus und wahre Distanz.
3. Rechtfertige dich nicht für Dinge, die deine Praxis fordert. Es ist dein Leben, deine Zeit und deine Entscheidung.
4. Missioniere nicht und zwinge niemand zur Rechtfertigung. So wie es deine Entscheidung ist, ist es auch die Entscheidung anderer.
5. Nur wenn du auf dich selbst achtest, kannst du anderen helfen.

Niyama (Kodex gegenüber sich selbst):
1. Mache Genügsamkeit zu einer deiner Grundstimmungen. Esse soviel wie dir gut tut, arbeite soviel wie notwendig und übe wenn Übung gebraucht wird. Ansonsten halte Frieden mit deiner Seele (frei nach einem Sprichwort!).
2. Erhalte deinen Körper gesund und verwechsele gesund nicht mit schön! Selten ist ein Schönheitsideal auch gesund. Besonders die Molligkeit ist hier als Beispiel gut geeignet, ist sie doch für viele Menschen nachweislich die gesündeste Erscheinungsform. Nicht BMI, sondern „sich wohl fühlen“ ist das Maß der Dinge!
3. Die Selbsterforschung ist die Grundhaltung des Übens. Nicht jede Übung gereicht auch jedem zu Wohlbefinden und Gesundheit. Wähle das für dich Richtige auf der Basis von Selbsterfahrung.
4. Stelle genügend Zeit und Muße zur Übung und Erholung bereit. Zeit ist Geld, aber Geld ist nicht Gesundheit und nicht Wohlbefinden. Und „Erholung/Yoga to go“ ist ein Widerspruch in sich.
5. Konsumiere Yoga nicht! Es kann geschehen, dass du von Zeit zu Zeit eine Pause vom Üben brauchst, denn Neues muss sich auch setzen können. Nimm dir diese Zeit. Nicht immer, wenn der Fortschritt ausbleibt, ist mehr desselben die richtige Wahl. Oftmals ist auch weniger mehr.

So in etwa stelle ich mir einen modern gefassten Übungskodex im Sinne von Yama/Niyama vor. Die Aufzählung ist bestimmt nicht vollzählig und so mancher mag auch dieses Neugefasste als allgemein selbstverständlich betrachten. So wie Gesetze einer Gesellschaft tausende Seiten füllen, passt die Grundlage eines Übungswegs auch nicht in zehn Gebote. Allerdings sollte man sich immer mal wieder an die Gegebenheiten seiner Zeit erinnern. Alte, nicht mehr gebräuchliche Formen und Gebote sollten über Bord geworfen und neue Probleme oder Schwierigkeiten sollten benannt werden. Entwicklung ist eine Eigenart des Lebens als auch seiner Systeme (Yoga).




Diskussion über das Yoga Sutra Patanjali – Viveka

Hallo, bezugnehmend auf Ihren Artikel in  Viveka Heft 49 zu „Travelling Yoga“ möchte ich hiermit einige Gedanken darlegen, die mit diesem Thema zu tun haben. Zunächst einmal bewundere ich den Mut, mit dem die Autoren hier die Aussagen einer überlieferten Schrift auslegen.
Da wurde gesprochen über …

  • das Kontrollieren der Aktivitäten des Geistes
  • Beruhigen und bündeln der Aktivitäten des Geistes
  • Der Fähigkeit, sich einlassen zu können
  • der Offenheit, sich gegen Widerstände und Ablenkungen einlassen zu können
  • der Welt mit Offenheit zu begegnen und dies auch unter großen Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten

und so weiter. Keine dieser Beschreibungen gibt Patanjalis Text wirklich inhaltlich wieder!

Vielmehr beschreibt Patanjali den (siehe Deshpandes Übersetzung) arbeitenden und den denkenden Geist und begründet auf letzterem das Leiden des Menschen. Weiterhin gibt er eine Gliederung vor, an der die Gültigkeit von Schlussfolgerungen und dem damit erhaltenen Wissen überprüft werden kann. Ich habe zunächst einmal einen Auszug einer Ausarbeitung des Textes von Deshpande beigefügt, die ich im Rahmen einer Ausbildung angefertigt habe und die diese Intention der Schrift eindeutig belegt. Wenn Sie Interesse haben, kann ich Ihnen auch den gesamten Text zukommen lassen.

Die Sutren nach Deshpande:
Dem Text liegt die Übersetzung von Deshpande (Die Wurzeln des Yoga) zugrunde und bezieht sich lediglich auf die Versübersetzung ins Deutsche, nicht deren umfangreiche Auslegung. Weiterhin wurden auf die umständliche fremdsprachige Gliederung und Begriffsbestimmung weitestgehend verzichtet. Etwaige Verkürzungen der Sinngebung der vorliegenden Sanskritbegriffe durch ihre Übersetzung wurden in Kauf genommen.

Was ist Raja Yoga    Kapitel 1 / Verse 1-11
Raja-Yoga ist ein Übungsweg, der überwiegend mit geistigen und seelischen Bereichen des Menschseins beschäftigt und über diesen Zugang zur Vollkommenheit [das Ruhen in seiner Wesens-Identität] führen will. Es gibt nur einen vollkommenen Zustand des Seins, und dieser Zustand drückt sich in einem Zur-Ruhe-Gekommen-Sein des Geistes aus, so beschreibt Patanjali das Ziel des Yoga. Dies heißt aber nicht, dass hier (in diesem Zustand) keine Gedanken mehr erscheinen oder anwesend sind. Vielmehr könnte man an dieser Stelle eine Unterscheidung einfügen, welche die Gedankenwelt in einen arbeitenden Geist [leidlos] und in einen denkenden Geist (nach Ramesh) [leidvoll] einteilt. Das Denken ist ursprünglich konzipiert als ein arbeitendes Werkzeug, dass für die Bewältigung des Lebens in der Form als Mensch notwendig ist. Es sorgt für Essen, Kleidung und andere Bedingungen, die das Leben und damit das geistige (spirituelle) Wachstum fördern. Erst der denkende Geist, der sich über diese Aufgabe erhebt, führt den Menschen aus seiner Vollkommenheit und erschafft so diese Welt des Leidens, wie wir sie heute kennen. Wir nutzen den nachfolgend beschriebenen Übungsweg, um unseren Geist zu seiner eigentlichen Aufgabe zurückzuführen, damit das Leiden zu beenden und uns in die Vollkommenheit zu führen. Dieser vollkommene Zustand, den ich auch als Meditation oder Wesens-Identität bezeichnen könnte, ist ein Zustand reinen Seins, in dem der denkende Geist unbeachtet bleibt und keine Anbindung erfährt.

Raja Yoga gründet sich auf ein psychologisches System

Kapitel 1 / Verse 1-11
Raja Yoga behandelt und arbeitet wie alle psychologischen Systeme mit der gesamten Psyche des Menschen. Alle geistigen und seelischen Vorgänge sind damit angesprochen. In den Sutras werden 7 Unterscheidungen getroffen, welche die gesamte Bandbreite des Psychischen darstellen:

  • Es gibt ein Wissen, das auf direkter Wahrnehmung beruht und entweder aus dem religiösen Glauben oder aus philosophischer Einsicht kommt und oft auch Intuition genannt wird.
  • Aus Wahrnehmungen verschiedener Art entstehen Schlussfolgerungen. Diese sind ein Produkt des denkenden Geistes.
  • Über Überlieferungen (heilige Schriften und Erzählungen) wird Wissen aufgebaut und vom denkenden Geist verwendet.
  • Intuitive Wahrnehmungen, die in der Folge falsch interpretiert wurden und damit dem Wesen der Sache widersprechen, werden Irrtümer genannt.
  • Denkgebäude, die keinen Bezug zum Wesen der Dinge haben, nennt Patanjali Vorstellungen. Er nennt sie ”Worte ohne Bedeutung”.
  • Der Tiefschlaf, in dem zwar keine Wahrnehmungen erfolgen, der aber nicht mit dem Zustand der Vollkommenheit übereinstimmt.
  • Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, werden Erinnerungen genannt.

 

Alle geistig-seelischen Vorgänge können auf eine oder auf eine Kombination von mehreren dieser Unterscheidungen zurückgeführt werden. Diese Unterscheidung dient damit lediglich der Gliederung der breit gefächerten Thematik.

Patanjali geht damit von der Annahme aus, dass das reine und vollkommene Wissen nur über die Fähigkeit zur Intuition erlangt werden kann. Diesem Vorgang stehen aber, durch den denkenden Geist verursacht, Hindernisse gegenüber. Erlebnisse der Vergangenheit werden gespeichert, und als Grundlage für zukünftige Entscheidungen in umfangreichen Denkgebäuden, die nach P. keinerlei Grundlage besitzen, zu Regeln umgedeutet. Diese sind, da falsch, die eigentlichen Ursachen für jedes Leiden im Menschsein. Selbst richtiges, reines Wissen, das von Weisen schriftlich fixiert wurde, kann falsch ausgelegt und daher missverstanden werden. Einzig der Zustand des Tiefschlafes kommt dem angestrebten Zustand, dem reinen Sein, sehr nahe, aber gerade dort werden keine Wahrnehmungen aufgenommen. Doch kommt aus ihm die Sehnsucht nach dieser Freiheit und dieser folgend wird der Mensch zum Suchenden.

Noch detaillierter als Deshpande beschreibt Deussen in seiner „Geschichte der Philosophie, Bd1.3., Seite 512“ die ersten Verse des Textes in einer alten, aber auch sehr deutlichen Sprache:

Die Sutren nach Deussen:

  • Nunmehr die Belehrung über den Yoga
  • Der Yoga ist die Unterdrückung der FUNKTIONEN des Bewusstseins
  • Dann wird erreicht das Bestehen des Sehers in seiner eigenen Natur
  • Im anderen Falle teilt er die Natur der FUNKTIONEN (fünffach, mit und ohne klesha’s behaftet)
    1. Erkennen durch Erkenntnisnormen (Wahrnehmung, Folgerung, Überlieferung)
    2. Verkehrtheit ist die falsche Erkenntnis, welche bei dem stehen bleibt, was nicht Wesen der Sache ist
    3. Der bloßen Erkenntnis durch Worte nachgehend, des Objektes bar, ist die Annahme
    4. Die nicht auf einer realen Vorstellung fußende Funktion ist der Schlaf
    5. Das Nichtabhandenkommen des Objektes, dessen man inne ward, ist die Erinnerung
  • Die Unterdrückung der Funktionen geschieht durch Übung und Leidenschaftslosigkeit
  • Die Übung ist die Bemühung, darin zu beharren
  • Diese aber gewinnt festen Boden, wenn sie lange Zeit ununterbrochen gastfreundlich gepflegt wird.
  • Die Leidenschaftslosigkeit ist das Bewusstsein der Selbstbeherrschung eines nicht mehr nach wahrnehmbaren und schriftverheißenen Dingen Dürstendem.
  • Dieses Nichtmehrdürsten nach den Guna‘s erreicht seinen Höhepunkt bei dem „das Aufleuchten des Purusha“ Besitzenden

Auch hier wird eine Gliederung vorgenommen, um Erkenntniswege zu überprüfen. Auch Deussen beschreibt hier die Wirkung des denkenden und arbeitenden Geistes, nur werden diese nur in einem kleinen Nebensatz erwähnt, weil die „Behaftung mit und ohne klesha’s“ zur Standarddifferenzierung in der indischen philosophischen Kultur gehört und daher selten spezielle Erwähnung findet. Leidenschaft hier muss übersetzt werden als „in Zu- und Abneigung verfangen“. Von Fühlen, diskutieren und reflektieren ist diese Haltung weit entfernt. Im Bericht über Krishnamacharia kommt diese Haltung sehr deutlich zum Ausdruck: Er bestreitet jede persönliche Mitwirkung und rezitiert aus den für ihn ewig gültigen Schriften. Er lässt damit in seinem Denken keinerlei Leidenschaft zu und beruft sich immerfort auf die gültige Überlieferung, die im klassischen Yoga eine wahre Erkenntnisquelle darstellt.

Alles in Allem ergibt sich so für mich ein ganz anderes Bild über das „Yoga Sutra des Patanjali“. Wenn wir diese Überlieferung modern verändern und damit Motive einbringen, die das Sutra im Original ganz bewusst ausschließt, sollten wir das Ergebnis nicht mehr „Yoga Sutra nach Patanjali“, nicht mehr „Diskusionen über das Yoga Sutra des Patanjali“ sondern wirklich „Diskussion über ein modernes Verständnis der Yogapraxis“ oder einfach neudeutsch „Travelling Yoga“ nennen.
Es würde mich freuen, wenn Sie diese Texte in eine der erwähnten Mittwochsdiskusionen einbringen könnten.




Yoga, Meditation und das Leib-Seele-Problem

Wenn wir uns die Yogasutras des Patanjali vergegenwärtigen und nach diesen unsere Übungen gestalten, kommen wir um eine Definition unserer Begrifflichkeiten nicht herum. Yoga beschäftigt sich nach Patanjali mit dem „Zur-Ruhe-kommen“ der seelisch-geistigen Vorgänge und darauf aufbauend mit dem Ziel, zum Wesenskern des Selbst vorzudringen. Andere Autoren belegen diese Zeile der Sutras mit anderen Worten, wobei Bewusstsein, Denksubstanz oder auch alle Aktivitäten des Geistes genannt sein können. Was ist aber wesentlich und praktisch mit diesem Satz gemeint?

Exkurs (Körper, Geist und Seele): In unserer Kultur unterscheiden wir als Lebensträger zwischen den Begriffen Körper, Geist und Seele, wobei zwischen Körper und Geist die Sinne als Vermittler gedacht werden, die beiden Anteilen zugeordnet werden könnten. Weiterhin wird die Fähigkeit des Denkens oft sehr eindeutig dem Geist zugeordnet, wobei die Wahrnehmungen, die sich im Denken ausdrücken, eindeutig den Sinnen und daher auch dem Körper zugeordnet sein könnten. Zweifelsfrei sind Schlussfolgerungen und Erinnerung der Geistsphäre zugeordnet, wobei allerdings die Intuition sowohl dem Geist auch der Seele angehören könnte, je nachdem, mit welcher Definition dieser Wahrnehmungs- und Erkenntniseigenschaft versehen wird. Gedanken können aus der Erinnerung (Geist), der Wahrnehmung (vom Körper zum Geist) oder aus intuitiver Erkenntnis (von der Seele zum Geist) stammen. Nicht angesprochen wurde bisher die menschliche Fähigkeit zu träumen, die zwar dem Bewusstsein bzw. dem Unwort „Unbewussten“ zugeordnet wird, aber auch ein seelisches Phänomen sein könnte. Und ein wie auch immer gestalteter Gott – als Person, als Seins-Grund oder Herrscher -samt seinen Propheten und Stellvertreter sollten dann auch noch genannt werden. Alles in allem ist das eine sehr unübersichtliche Lage, aus der heraus argumentiert werden kann. So erklären sich auch die vielfältigen Systeme und Auslegungen, Philosophien und Psychologien, Weltanschauungen und Religionen, mit denen wir in der Auseinandersetzung des Begreifens und Erkennens zu kämpfen gewohnt sind.

Eine Antwort darauf werde natürlich auch ich schuldig bleiben. Aber ich möchte einige Überlegungen beitragen, die mir geholfen haben, ein für mich praktikables System zu entwickeln. Da es meine Überzeugung ist, das jeder Mensch letztlich sein eigenes System entwickeln muss, um Sinn zu finden, sollte dieses vom Leser auch nicht einfach nur übernommen, abgelehnt oder zerredet werden, sondern sollte lediglich als Beispiel dienen und erklären, warum und wie ich als Yogalehrer etwas unterrichte. Weiterhin ist dieses System auch nicht festgefügt, sondern gestaltet sich nach jeder Erfahrung, nach jedem Buch und jedem Gespräch neu und ist somit ein Bild des Jetzt (2012), das mit jeder Minute nach dessen Niederlegung weiter verschwimmt.
In meinem Denken sind Körper, Geist und Seele nicht getrennt voneinander, sondern stellen sich gleichberechtigt und ergänzt durch Historie und Konvention (Übereinkunft innerhalb der sich angeschlossenen Kultur) wie eine heterogene Gesamtheit (Dispositiv) dar. Dabei sind vielfältige Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Zusammenhänge denkbar, die sowohl direkt (Bild: Verbindung), begleitend (Bild: Magnet, der ein Stück Metall mit- oder anzieht) oder auch indirekt (Bild: Ökosystem) ausgestaltet sein können. In meiner Erfahrung ist in diesem Pentamer (Fünfgliedrigkeit) die Konvention (Verhaltensnorm) der größte formende Anteil, direkt gefolgt von der Historie (persönlichen Geschichte). Körper, Geist und Seele sind angesichts der Wucht geschichtlicher und kultureller Prägungen heute nahezu in den Hintergrund gerückt. Der Mensch kann in einem schönen oder hässlichen, kranken oder gesunden Körper glücklich und zufrieden sein und kann selbiges mit viel, weniger oder keiner Intelligenz erreichen. Viel schwieriger ist das Leben mit einer nicht konformen Vergangenheit (zB. vorbestraft sein), in einem feindlichen Umfeld (zB. als Mitglied einer religiösen oder politischen Minderheit) oder als Zugehöriger eines Volkes, einer Klasse oder Rasse. Die Seele bleibt, da sind sich alle Religionen und Weltanschauungen ausnahmsweise einig, von solchen Motiven eher unberührt.
Wenn also ein Zur-Ruhe-kommen geeignet sein könnte, etwas zum Bessern zu wenden, so muss dieses in Kultur und Vergangenheit und der Aufarbeitung derselben gesucht werden. Das sich diese Motive wie alles Wahrnehmen, Erinnern und Reflektieren letztlich im Geiste ausformt und kenntlich macht, ist lediglich ein sekundäres Phänomen.
Nehmen wir zunächst einmal die einfache Sachlage, die mit der Geburt in provinziellem oder städtischem Kulturkreis beginnt. Die daraus folgenden Erziehungsmotive sind unterschiedlicher als sie gar nicht sein können. Auf der provinziellen Seite erhält man Stütze und Geborgenheit in einer Gemeinschaft, die allerdings auch nur einen begrenzten Bewegungsradius zulässt. Anders in der Stadt, wo man sich im Rahmen der Gesetze durchaus umfangreich bewegen kann, allerdings erfährt man hier wenig Stütze und noch weniger Geborgenheit. Ein ähnliches, jedoch kleineres Gefüge findet sich in mancher Familie wieder.
Ein weiterer schwerwiegender Punkt ist die Abnabelung von Eltern und Familienangehörigen, die maßgeblich zur Erziehung beigetragen haben. Weil dieser Prozess selten gelingt, hatten alte Kultur- und Naturvölker die Initiation eingeführt, die einen neuen Namen, einen neuen Status und einen Neuanfang ohne die Last der Vergangenheit ermöglichte. Auch spirituelle Übungswege, die auch heute noch bis zu einem Klostereintritt gestaltet sein können, arbeiten mit diesem Motiv.
Dann konservieren wir unsere und unserer Mitmenschen Vergangenheit in Erinnerungen und Aufzeichnungen, die einen einmal begangenen Fehltritt oder eine Unsicherheit bis zum Sterbelager unvergessen machen. Einen Saulus, der als Verbrecher zu Paulus werden und eine Weltreligion gründen konnte, schafft einen Neuanfang heute nur noch hinter Klostermauern oder in der Fremdenlegion. Ein veröffentlichtes Buch, das Spielen in einem Film, die Teilnahme an Diskussionen oder Demonstrationen kann heute ein freies unbeschwertes Leben auslöschen. Sogar ein noch als Kind zur Entflammung gebrachter Weihnachtsbaum kann und wird heute als Waffe gegen einen politischen Gegner eingesetzt. Und wer sich als Teenie heute in Facebook leichtsinnig outet, bekommt ebenfalls einen unwiederbringlichen Fleck auf der ursprünglich weißen Weste. Die Vergangenheit hält uns fest im Griff.
Ein weiterer unbarmherziger Einfluss auf unser Leben hat die uns auferlegte Sprache und deren Zugehörigkeit zu einer Kultur. Das semantische Gefüge mancher Sprache lässt nicht alle Überlegungen und Gedankengänge zu. Sprache gehört zur Konvention, die eine Übereinkunft darstellt, die in aller Regel von der Mehrheit und den Mächtigen eines Volkes bestimmt wird.

Exkurs (Übersetzungen aus dem Englischen): In vielen Diskusionen, die sich um die Sinnstiftung eines Lebens drehen, wird zwangsläufig auch das Leib-Seele-Problem aufleuchten, das mittlerweile schon 2500 Jahre Philosophiegeschichte beschäftigt und zum Teil widersinnige Ergebnisse zeitigt. Dabei geht es oft nahe ausschließlich um sprachtechnische Schwierigkeiten wie zB die Übersetzung des englischen Begriff „mind“, der im Deutschen sowohl als „Geist“ als auch als „Geist-Seele“ übersetzt werden kann, wobei oft mit Geist das Denken und mit Geist-Seele das Bewusstsein angesprochen wird. Die alternativen Begriffe „awareness“ und „consciousness“ für Bewusstsein können aber auch als Wahrnehmung oder Besinnung verstanden werden und bieten daher keine Lösung an. Im Großen und Ganzen sind daher selbst die Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche schon mit Schwierigkeiten behaftet. Wie viel schwieriger gestaltet sich eine Übersetzung aus einer vergangenen Kultur und Sprache, wie sie das Sanskrit darstellt.

Nahezu jede Kultur beinhaltet Vorschriften und Regeln, die nahezu alle Regungen des Geistes und des Gestimmtseins reglementieren. Das geht von der Methode des Trauerns bis hin zur friedenstiftenden Auseinandersetzung, wobei nichts der persönlichen Vorliebe oder gar dem Zufall überlassen bleibt.
In diese Gefüge hineingeboren finden wir uns alle irgendwann mit der Aufgabe konfrontiert, ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen oder gar zu müssen. Und bei dieser Aufgabe hilft uns ein System wie Yoga, in dem es uns benötigte Werkzeuge in die Hand gibt. Diese bieten neben der Aufarbeitung körperlicher und energetischer Vernachlässigung einen Erkenntnisweg, der uns mit der Meditation bis zum Wesenskern des Selbst vordringen lässt und damit die Vergangenheit und die Konventionen jeglicher Art in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Das Leib-(Geist)Seele-Problem ist aus einer Yoga-Sichtweise nicht das vorherrschende Problem des modernen Menschen, sondern wichtiger erscheinen mir die Be- und Verarbeitung der Erinnerung und die Arbeit an Konventionen. Damit werden sich zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Blog weitere Artikel ausführlicher beschäftigen müssen.