Anpassung

Ich möchte mich jetzt einmal mit dem Wort „Anpassung“ beschäftigen. Ich weiß, das Wort hat in spirituellen Kreisen keinen guten Ruf. Die Notwendigkeit, sich anzupassen, das heißt mit anderen Worten gesagt die Reaktion auf die tagtägliche Beobachtung, das sich unser Lebensgefüge fast unaufhörlich verändert, manchmal schleichend und wahrnehmungslos, manchmal aber auch überraschend, blitzartig und oftmals zusätzlich mit großem Nachhall versehen.



Die beschriebenen Wirkungsweisen erscheinen zunächst konträr und stellen sich auf den ersten Blick dar wie Gegenteile, vielleicht auch als zwei Extreme in den vielfältigen Ausprägungen der Veränderungen, denen wir Menschen unterworfen sind. Aber das stimmt so nicht, denn die Extreme sind nur die Eckpunkte in einer eindimensionalen Linie, auf der sich menschliches Leben und seine Veränderungen abspielen kann. Die Linie beginnt mit der Wahrnehmung kleinster Veränderungen, die nahezu keinerlei Auswirkung zu haben scheint, selten vollständig wahrgenommen wird und endet im gegenüberliegenden Punkt in der blitzartigen Veränderung des gesamten Lebensgefüges, sei es durch schicksalhafte Wandlungen der Gesundheit, sei es durch Tod oder Geburt von Bezugspersonen oder einer Revolution des Gesellschaftsgefüges. Irgendwo auf dieser Linie sind alle Wandlungen eines Lebens in ihrer wirkmächtigen Stärke abgebildet. Und ich spreche hier nicht im Sinne von positiv oder negativ bewerteten Umständen. Sowohl das Auftreten eines neuen Leidens als auch die Heilung eines solchen der Vergangenheit sind wesentliche Veränderungen. Auch kann der Tod eines nahestehenden Menschen als auch die Geburt oder Bekanntschaft eines neuen Menschen ein Lebensgefüge verändern. Und auch die vielen Revolutionen der Geschichte haben nicht immer nur in eine Richtung geführt, auch wenn das nicht gleich in den ersten Folgejahren deutlich wurde.

Stellen wir uns einfach mal zu Beginn ein gegenteiliges Gefüge vor. Alle Tagesabläufe und Ereignisse sind streng, unwiederbringlich und in optimalster Weise geregelt. Vom Aufstehen über das Familienleben, die Tagesarbeit, die Ruhephasen, die Essenszeiten, über das gesellschaftliche Leben bis zur nächtlichen Ruhezeit ist alles vorgefertigt. Wir bekommen ausreichend Schlaf, essen und trinken nur gesunde und wohlschmeckende Lebensmittel, haben eine unseren Fähigkeiten angepasste Arbeit und nur Mitmenschen in unserer Umgebung, die unsere Ansichten teilen, vielleicht sogar genau so leben wir wir, und wir leben in diesem Paradies tagein, tagaus ohne plötzliche Leiden und Qualen, aber auch ohne unerwartete Freude und Erfüllung. Wer würde tauschen wollen ? Alle? Keiner? Ich weiß es nicht. Ich für meinen Teil würde mein jetziges Leben wahrscheinlich doch vorziehen.

Aber das sind ja nur Träume? Nein, auch das stimmt so nicht, denn genau so stellen sich liberale und fortschrittlich denkende Visionäre eine wünschenswerte Entwicklung in der Zukunft vor. Hat das selbstfahrende Auto der Zukunft noch so etwas zu bieten wie Fahrfreude? Ist mit der sofortigen Erreichbarkeit jeder Information so etwas wie eine aufregende Recherche noch möglich? Was wäre eine Abenteuerreise noch wert ohne Abenteuer, weil wirklich nichts mehr unerwartet passieren kann, oder vielleicht sogar erst vor gebucht werden müsste, um überhaupt passieren zu können? Und was wäre Erotik noch wert mit einem Kopfhörer auf dem Kopf, einem Bildschirm vor den Augen, einem berührungsaktiven Anzug am Leib, der eine vorgebuchte erotische Begegnung abspielt wie einen Kinofilm über das eigene Zuhause, weil ich ja stets weiß, was geschehen wird, weil ich es gebucht habe? Aber das ist ja alles nur Zukunftsmusik? Nein, das alles gibt es schon, zumindest in weiten Teilen. Wir haben unsere Freunde in Facebook, treffen uns mit Mitmenschen in Zoom, tauschen Profile aus, um passende Partner für Freizeit, Hobby oder Leben zu finden. Alles ist passend, genau zugeschnitten, genau abgestimmt. Nichts ist und bleibt dem Zufall überlassen. Jeder bekommt genau das, was er möchte, sich wünscht und begehrt, keine Überraschungen, keine Zufälle, keine ungeplanten Ereignisse. Super, oder?



Wie lange haben es, um der christlichen Erzählung zu folgen, Adam und Eva im Paradies ausgehalten? Sind sie nicht der allerersten Versuchung schon erlegen? Wie würde es uns wohl ergehen? Und doch wünschen sich die meisten Menschen wohl die Rückkehr ins wie immer geartete Paradies, und das wohl nur, um erneut von dort ausbrechen zu können? Aber ausbrechen können wir doch immer. Wir müssten dazu gar nicht erst ins Paradies zurück. Warum tun wir es dann nicht öfters mal? Das ist die Frage, die mich seit langer Zeit beschäftigt. Ich konnte sie bisher nur nicht in aller Fülle formulieren.

Kommen wir zurück in die aktuelle Realität. Und ich beginne zunächst einmal mit einem Rückblick, der mir sicher erscheint, in meine ureigene Erinnerung. Sie beginnt mit einem Bild im Alter von vielleicht 5 Jahren mit einem spielenden Kind zwischen Maler-Utensilien (Kalkwanne, Sandhaufen). Mein leiblicher Vater verputze damals einen Neubau von innen und nahm mich mit zu seiner Arbeit. Das nächste Bild zeigt mich am Grabe meines Vaters, den ich mit 8 Jahren verlor. Trauernde Menschen und strenge Regeln gab es an diesem Tag, und eine verzweifelte Mutter. Dann erinnere ich mich an meine Spielstätte vor der gemieteten Garage am Parkplatz vor dem Ortsbahnhof, in dem wir wohnten. Wie gesagt, bis zum zehnten Lebensjahr nur einige wenige Bilder von Ereignissen, die mir zum Zeitpunkt ihres Geschehens wahrscheinlich gar nicht recht bewusst waren, zumindest, was sie für meine Zukunft bedeuten werden. Gab es damals für mich irgendwie mal einen Anfang? Ich denke eher nicht. Wahrscheinlicher ist mir, das ich in eine Welt hineingeboren wurde und schlicht und einfach zu nehmen hatte, was Zeit, Ort und Menschen in meinem Umfeld mir boten. Eine Wahl hatte ich ohne Zweifel nicht. Hat diese Zeit trotzdem mein Denken, Fühlen und Sein beeinflusst? Ja, ganz bestimmt, und es hat Jahrzehnte gebraucht, mich davon zu befreien. Vielleicht hatte ich trotzdem Glück, weil meine Mutter oft keine Zeit für mich hatte und so konnte ich früh zu Selbstständigkeit wachsen. Vielleicht war es auch Glück, das ich nicht so gut Freunde und Verbündete finden konnte. So lernte ich, mich in einer meist feindlichen gesonnenen Welt zu behaupten. Spätestens mit 15 Jahren war mir klar, das ich ausbrechen musste. Ich bewarb mich entgegen dem Willen meiner Eltern in einer Großstadt für eine Lehrstelle und konnte mich durchsetzen. Ein erster Bruch, und eine folgenschwere Entscheidung. Wusste ich das damals? Ich denke, nein. Folgenschwer war, das meine Entwicklung, mein Denken und Wollen eine andere Richtung einschlug und ich dabei den letzten Rest meiner Heimatanbindung an das Dorf verlor. 1970 als 15 Jähriger Dörfler allein ohne Familie in Frankfurt, die Heimatlosigkeit im Gepäck. Mehr muss dazu wohl nicht gesagt werden.

Halten wir fest, was daraus folgernd wichtig erscheint: Es gibt keinen wirklichen Anfang. Man wird in eine bestehende Welt hineingeboren. Und es ist schwer, ohne Folgen diese hinter sich zu lassen. Und was ist mit dem weiteren Leben? War das festgefügt oder sich wandelnd? War der Wandel schleichend oder ruppig? Ich könnte jetzt weitermachen mit der Beschreibung. Der Ort wandelt sich dann, die Zeit ist eine andere. Die Menschen sind andere. Aber das Prinzip bleibt. Jede Wohnung, jeder Arbeitsplatz, jede Beziehung, jeder Abschied und jeder Neuanfang zeitigte Folgen. Sie alle waren nicht planbar, waren nicht absehbar oder konnten als vorbestimmt gelten. Das Leben zeigte sich als ein Labyrinth mit tausenden von Gängen, Winkeln und Abzweigungen. Jede davon brauchte eine Entscheidung, jede hatte Folgen und jede lenkte das Leben in eine andere Richtung. Im Grunde genommen waren mit jeder Entscheidung eine Anpassung notwendig. Jede Anpassung führt weg von einer gefühlten Sicherheit hinüber in ein neues, unbekanntes Terrain. Und selbst jetzt, mit 66 Jahren und im Ruhestand, war und ist Anpassung noch immer eine Aufgabe der Tage, Wochen und Monate, die seither hinter mir liegen und die noch kommen werden. Und ja, das ist gut so. Und ja, ich freue mich darauf, auch morgen noch neue Wege zu beschreiten, auch wenn die Möglichkeiten dafür mit jedem weiteren Lebensjahr schwinden werden. Und vielleicht erlebe ich auch meinen letzten Tag so wie Hesse ihn beschreibt:

Wohl an denn, Herz, nimm Abschied, und gesunde!

So, zurück zum Thema und die Augen trockenwischen… Das Leben bleibt nicht stehen und wartet. Das Leben fordert ständig Entscheidungen und Anpassungen an das Umfeld einer Wirkungsstätte, ob als Handwerker, Angestellter oder als Rentner, ob als Lebenspartner, als Freund oder sogar als Feind. Leben ist diese Fähigkeit zur Anpassung. Wer sich nicht anpassen kann, verwirkt sein Leben. Und eine Grundlage für kommende Anpassungen ist die Wahrnehmung der Welt, jetzt, hier, wie sie ist, wie sie wirklich ist. Dabei hat Wunscherfüllung, Traum und Vorstellung nur wenig Platz. Wirkliches wirkt direkt! Das ist der Schlüssel.



Schauen wir uns diesen Schlüssel einmal an Beispielen genauer an: Wirkliches wirkt direkt. Was bedeutet das? Betrachten wir zunächst eine Banalität. In der heutigen Zeit ist der Kauf eines neuen Computers eine stets wiederkehrende neue Aufgabe. Man geht in ein Geschäft, sieht neue toll aussehende Geräte und ist begeistert von der Innovation, der Neuerungen, der sich weiter entwickelnden Technik. Und dann, man steht vor dem Traum seiner Vorstellung, ein Gerät wie aus dem Bilderbuch. Es kommt Begeisterung auf. Und jetzt heißt es: kaufen… Sicher?

Anderes Beispiel: Man ist seit 30 Jahren in einer Firma, stets am gleichen Arbeitsplatz und kennt seine Wirkungsstätte wie seine Westentasche. Dann neue Kollegen, ein neuer Chef, und schon bald zeitigt der tägliche Umgang eine Wandlung. Die Kollegen nämlich formieren sich zu einem Mob, haben den Chef an ihrer Seite und piesacken unaufhörlich. Man hat offenbar beschlossen, dich loszuwerden. Und das heißt jetzt, sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, sogar kündigen vielleicht, und ganz neu irgendwo anders anfangen… Sicher?

Nun, ich bin und war da etwas anderer Meinung. Und meine Erfahrung in 50 Jahren bewusstem Leben gibt mir dabei recht. Begeisterung ist ein Ergriffensein von einem Geist, der, wie kann es anders sein, nicht immer auf dem eigenen Mist gewachsen ist. Der Hersteller einer Ware kennt die Feinheiten von Verkaufsstrategien bis ins kleinste Detail. Die magere technische Qualität wird durch ansprechendes Äußeres verdeckt, und wirkliche Mängel erscheinen erst dann, wenn das neue Gerät bereits in Betrieb und voll eingerichtet ist. Ein wenig Abstand von der Begeisterung und etwas Recherche sind oft hilfreich bei einer Neubeschaffung. Mein jetziges Gerät ist unscheinbar, punktet aber mit toller Qualität und Kapazität. Selten ist hohe technische Qualität von tollem Design begleitet. Wozu auch? Das kostet nur viel und bringt nur wenig. Ich zumindest bin bisher gut mit dieser Erkenntnis gefahren.

Und im zweiten Beispiel ist der Schlüssel die lange Erfahrung am Arbeitsplatz, die aufzugeben auch unter Mobbing-Aktivitäten nicht immer die beste Lösung ist. Ich selbst stand mindestens zweimal vor dieser Entscheidung, und diese hieß stets: Ich kämpfe. 30 Jahre Erfahrung sind große Waffen, denen Neuzugänge selten etwas entgegensetzen können. Man muss diese nur mit Geschick einsetzen. Dabei muss man nicht einmal gegen die Angreifer vorgehen, im Gegenteil, sich kollegial verhalten, helfen, sich nicht aufhetzen lassen, das sind die Waffen des Erfahrenen gegen einen Mob. Und selbst wenn die aktuelle Situation, vielleicht sogar nach einer Eskalation, niemand ist perfekt, mit Vorgesetzten zu besprechen ist, ist Kollegialität angesagt. Anschuldigungen können meist einfach widerlegt werden. Und nur wenig Vorgesetzte verzichten gerne auf einen erfahrenen Mitarbeiter, der eine gute Arbeitsleistung zeigt. Und Gleiches mit Gleichem zu vergelten, also seine Kollegen zu beschuldigen, ist ungeschickt. Meine Aussage diesbezüglich war stets: Ich verpfeife keine Kollegen. Und damit bin ich immer gut gefahren.

Wir haben heute die Situation, das nahezu alle Entscheidungen im Grunde von wissenschaftlicher Seite mit Ratschlägen versehen sind. Das mag hier und da auch helfen, aber es ersetzt nicht den sogenannten gesunden Menschenverstand, der sich mit einer Situation, einem Ereignis oder einer Wandlung direkt und bezogen auseinandersetzt. In Ratgebern werden vorgestellte Situationen mit Standardlösung bearbeitet, gelöst oder entschieden. Selten trifft das auf Situationen in der Realität zu. Und manchmal zeitigen selbst „vollkommen falsche“ Reaktionen einen glücklichen Ausgang. Leben kann nicht vorentschieden sein. Es lohnt sich oftmals, seinen Geist zu gebrauchen und hier und da auch mal etwas durchzustehen. Geschick, Mut und oftmals auch Aushalten sind große Werkzeuge mit weitreichender Wirkung. Wer sich traut, sie zu gebrauchen, schafft viele Wandlungen eines Lebensgefüges wie im Traum. Und auch aufzugeben ist oftmals ein Schritt in eine bedeutende Zukunft. Warum wohl heißt es wohl: ein Aufgabe lösen? Eine Aufgabe lösen heißt oftmals, sich anzupassen und endlich aufzugeben, am Erwünschten, Alten und Gewohnten festzuhalten, oder im extrem, alles hinzuschmeißen und neu zu beginnen. Weglaufen, so nannte man es früher mal auf dem Schulhof, ist oft keine Lösung, manchmal aber die einzig mögliche.



Leben ist ein Prozess aus Wandlungen, Sprüngen und Einschnitten. Es kann nicht vorausgesehen, geplant oder vorbestimmt werden. Es ist ein empfindliches Pflänzchen in einem großen Wald. Das Werkzeug zum Überleben heißt ANPASSUNG. Anpassung ist das Gegenteil des Resignierens. Sie ist erforderlich jeden Tag, jede Minute, zu allen Zeiten und an allen Orten. Sich anzupassen heißt reagieren, heißt, etwas Altes aufzugeben, etwas auszuhalten oder Neues zu beginnen. Und solange ein Leben diese Aufgabe bewältigt, ist es lebenswert und kostbar. Und selbst wenn es in hohem Alter nur noch dazu reicht, ein Lächeln auf dem Gesicht eines anderen Menschen zu erzeugen, ist Leben immer noch wertvoll und von Wirkung durchströmt. Leben ist Anpassung.

Exkurs: Betrachten wir in diesem Kontext einen Begriff, der oft gebraucht und selten verstanden wird. Betrachten möchte ich das Wort: Existenz. Wenn wir die Existenz zur Grundlage unseres Denkens und Handelns machen, heißt das in wörtlicher Übersetzung, sich herauszuhalten, sich außerhalb zu halten, sich anzupassen. Was aber in westlichen Philosophien selten gesehen wird, ist, das es eben nicht die eine Anpassung ist, die vorgenommen dann ein Leben erfüllt. Wir haben entschieden, mit dem Strom zu gehen, richten dieses ein und folgen dann der Entscheidung passiv und ohne nachzujustieren? Das ist etwa so, wie sich für einen Anführer entscheiden und diesem dann kritiklos nachzulaufen. Das ist so nicht gemeint mit Anpassung. Anpassung ist ein Prozess. Vorgestern habe ich geschaut und folge dem Anführer. Auch gestern noch folgte ich seiner Entscheidung. Heute aber könnte ich nachgedacht haben und bleibe stehen, folge nicht mehr nach. Und morgen könnt ich mich wieder entscheiden, zu folgen. Es ist niemals fertig. Wer kennt nicht die Entstehung eines Feindbildes. Heute hat sich jemand wie ein Feind verhalten, gestern auch und vorgestern ebenfalls, aber morgen könnte es anders sein. Ist dann mein Feindbild auch morgen noch gültig? Ich muss entscheiden, immer wieder, immer wieder neu. Anpassen ist ein laufender Prozess. Das gestaltet sich nicht ganz so einfach, ist oftmals auch das, was man chaotisch nennt. Sei es drum. Menschen suchen, sofern sie suchen, solange sie auf einer Suche sind, doch nicht letztlich nach Führung, sondern sie suchen nach Freiheit. Freiheit ist nicht immer gleich sein, nicht immer anders sein, sondern jetzt und hier eine Entscheidung, eine Anpassung seines Lebensgefüges gestalten zu können. Und das frei und ohne Vorgaben. Leben in diesem Sinn ist ständige Erneuerung. Wie meine Freiheit aussehen könnte, ist nie entschieden. Es ist eben nicht diese Freiheit, sondern: FREIHEIT.

Exkurs: Ein anderer Satz, der oft zu hören ist: Am Anfang war das Wort… Wie viele Menschen haben diesen Satz ohne umfangreiche Recherche jemals verstanden? Und der Satz geht ja noch weiter: …und das Wort war bei Gott… und Gott war das Wort… Hä? Ich habe Stunden und Tage gebraucht, um das auch nur annähernd überhaupt denken zu können. Und bis heute kenne ich nur die vielfältigen Auslegungen und Interpretationen dazu. Eine endgültige Erklärung dazu gab es für mich nicht. Das beginnt schon mit dem Anfang, der ein Wort gewesen sein soll? Welchen Anfang beschreibt das? Die meisten Interpretationen dazu scheitern doch schon an der Frage: Woher kam denn das Wort am Anfang? Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Wenn doch am Anfang schon etwas war, wo kam das dann her? Damit beschäftigen sich tausende von Philosophen seit Anbeginn der Geschichtsschreibung. Sie schrieben darüber dicke Bücher und erfanden Erklärungen, die immer denselben Makel haben: Sie benutzen eine Dialektik. Sie erklären damit in meinem Verständnis nach etwas, was nicht erklärt werden kann, denn die Logik kann nur auf etwas aufbauen, das bereits da ist. Und da ist die Henne schon wieder da. Oder war es doch das Ei?
„Am Anfang war das Wort…“ kann doch nur bedeuten, das wir den Beginn nur dort setzen können/müssen, wo der erste Namen eine Trennung beschreibt, die nicht real sein kann. Wir sehen somit etwas stur als getrennt an im Wissen, das diese Trennung gar nicht sein kann. Dieser erste Gedanke ist offensichtlich wohl nur ein großer Irrtum. Und auf diesem bauen wir dann die Welt, wie wir sie kennen. Das ist, gelinde gesagt, eine sehr wackelige Angelegenheit und für mein Denken ein permanenter, sehr schmerzhafter Stachel.



Man könnte Regale mit Büchern füllen, die immer neue Beispiele des Unvermögens beschreiben, das wir Menschen mit der Sucht nach dem Grund, der Ursache, der Basis, dem Absoluten, dem Unzerstörbaren, dem Unendlichen, dem Zeitlosen, dem Wirkmächtigen, dem Alle-Fragen- Beantwortenden oder wie immer der/die/das auch genannt wird, verbringen. In meinem Verständnis heute, nach dem Studium vieler Bücher und dem Hören vieler Geschichten und Erzählungen muss jeder irgendwann damit aufhören, damit ein Leben lebendig sein kann. Ich beschäftige mich heute ausschließlich nur mit der Frage, wie dieses Aufhören möglich ist, das Ende des Fragen-Stellens.

Oberflächlich betrachtet stellen wir Fragen, um Antworten zu bekommen. Das mag für viele Fragen des täglichen Lebens auch zutreffen. Aber die entscheidenden Fragen eines Lebens, bei mir zum Beispiel die Frage: „Was soll das alles (Welt, Leben, Existenz) eigentlich?“, können diese beantwortet werden, ohne zu betrügen? Und dabei ist es ohne Belang, ob ich mich selbst betrüge oder betrogen werde. Wie oben beschrieben bräuchten wir für eine klare Antwort einen festen Grund (Basis). Aber den gibt es nicht. Und da hilft es auch nicht weiter, wenn ich einen imaginären Grund erfinde wie zum Beispiel: „Da gibt es nichts…“, das ganze dann substantiviere und es „Leerheit“ nenne, nur um einen Namen dafür zu haben, um mit anderen darüber reden zu können. Nichts ist nicht. Wenn ich darüber nicht reden will, brauche ich auch keinen Namen dafür. Und warum will ich darüber nicht reden? Was, frage ich, könnte denn der Inhalt eines Gesprächs sein über nichts? Jeder, der sich mit Spiritualität beschäftigt, weiß, wo meine Beschreibung gerade sich befindet. Ich schreibe über das „Nichts“ der Buddhisten, über die Leerheit, die anstelle von Gott den buddhistischen Glauben begründet. Der Buddhismus als Religion, als Weltsicht, begründet sich darauf, das er im Gegensatz zu dem meisten anderen Religionen nicht an einen Grund, eine Absolutheit oder Transzendenz, sondern an Immanenz glaubt und die dabei aufspringende Lücke mit dem Adjektiv „leer“ oder dem Substantiv „Leer-Sein“ füllt. Und schon kann ich wieder, wie schon gehabt, ein wirkmächtiges Gedankengebäude errichten, wo real nichts ist. So ist das Denken.

Exkurs: Nun ist das Wissen bzw. die Beschreibungen der Hintergründe gerade im Buddhismus natürlich wichtig. Dieses Wissen dient zur Heranführung an die buddhistische Weltsicht bzw. zur Ablösung von Vorstellungen, die durch Kulturen und andere mehr dogmatische Vorstellungen sich eingeprägt haben. Allerdings bin ich der Ansicht, das neuen Ideen, die in ein Leben eindringen, wie die Pflanzen im Garten eine Zeit des Wachstums und der Betreuung bedürfen. Dazu wurden im Altertum nahezu aller großen Kulturen Schulen eingerichtet, in denen sich Menschen abseits von Alltag und den gesellschaftlichen Machtgefügen in geschützter Umgebung den neuen Herausforderungen nähern konnten. Eine solche Lebensweise gibt es heute eigentlich nur noch in der Form eines Klosters, in den sich Adepten, Suchende und Verlorene zeitweise einbringen können. Die übliche Vorgehensweise heute, eine Workshop zu besuchen oder in einer Einrichtung wie einem Studio regelmäßig Unterricht zu nehmen, aber die größte Zeit weiterhin im Alltäglichen zu verbringen, wird eher solchen Anforderungen nicht gerecht. Das dann neben der einen Thematik heute leicht noch viele andere Schulungen in Traditionen angeboten werden und man dann sozusagen ein Workshop-Hopping machen kann, ist zusätzlich noch ein Erschwernis der heutigen Zeit. Wenn man mich also fragen würde, wie eine Transformation in Spiritualität heute zu handhaben sein könnte, würde ich vorschlagen, sich eine der vielen Möglichkeiten herauszusuchen und sich dann durchzubeißen, lange dabeizubleiben und es durchzustehen. Es werden Hindernisse auftauchen, es wird Ärgernisse und Missverständnisse geben, und da darf man nicht vorschnell die Flinte ins Korn werfen und sich einfach anderen Schulungen widmen. Ich zum Beispiel habe 18 Jahre lang Karate geübt, bin seit 30 Jahren im Yoga unterwegs und habe nach einer ersten, etwa zehn Jahre langen Kontakt zu einem Zen-Kloster jetzt einen zweiten Anlauf in dieser asiatischen Meditationsform genommen, imdem ich mich jetzt seit mehr als sieben Jahren einer Zen-Sangha angeschlossen habe. Und ich übe noch immer hier und da mal eine Karate-Kata, und ich übe seit Jahren täglich Yoga und Zazen.

Der Weise sagt: „Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen“. So, ich glaube, das Reden sollte jetzt auch hier ein Ende haben. Aber was will ich eigentlich bezwecken mit dem Schreiber über etwas, worüber man weder reden noch schreiben kann? Wir sind Menschen. Menschen können über Dinge reden, die es nicht gibt, über Dinge nachdenken, die nur in der Phantasie existieren, uns vorstellen, jemand oder etwas anderes zu sein. Wir können heute uns hier begeistern, morgen irgendwo anders, und übermorgen schon wieder etwas neues beginnen. Allerdings wird diese Art der Schulung, so fürchte ich, wenig Erfolg bringen. Wir sind im Denken frei und ohne Festlegung. Das sollten wir wissen und das dürfen wir, trotz aller Formen und Vorgaben, niemals vergessen. Und wir müssen uns anpassen, immerzu, fortwährend, um dem Strom, dem Prozess des Lebens zu folgen. Und manchmal müssen sogar heraustreten aus dem Strom, den Prozess neu regulieren, um lebendig, um frei zu bleiben.

Was für ein Abenteuer das Leben doch ist!




Es sind Interpretationen, die den Fluss zum Stehen bringen…

Im spirituellen
Umfeld sind Sätze, die mit „Ich“ anfangen, oft verpönt. Und
meist wird dieses „Ich“ dann nicht als Subjekt, sondern als
Objekt betrachtet, wie zum Beispiel im Zen in der Frage: „Was bin
ich?“ Was aber bedeutet das? Für mich ist das eine der
schwierigsten Fragen, die ich kenne.



In unserer Sprache
ist die Trennung von Subjekt (Ich sehe/denke/bin…) und Objekt (das
Gesehene/Gedachte/Seiende…) selbstverständlich. Daher beginnen
viele Sätze mit „Ich…“ und deuten von da auf ein
Objekt. Subjekt und Objekt bewohnen so verwendet nicht die gleiche
Welt. Für das Subjekt ist alles, was nicht-Subjekt ist, Welt. Es
gibt daher immer ein „Ich“ und eine „Welt“. Bin ich aber
nicht auch in der Welt, bin ich nicht sogar ein Teil der Welt, gehört
also „Ich“ nicht zur Welt und die Welt nicht ebenso zum „Ich“?
Immanenz nennt die Wissenschaft dieses Phänomen, das wir aber aus
meist praktischen Gründen in unserer Sprache stets missachten. Man
nennt das Dualismus. Und Dualismus ist eine Setzung, die uns das
logische Denken, dem wir folgen (wollen), auferlegt. Geht das nur so?
Diese Frage beschäftigt mich seit langem.

Nach unserer Logik
ist Sein ein absoluter Begriff. Und Aristoteles hat
festgelegt, das „zu sein“ nicht gleichzeitig „nicht zu sein“
bedeuten kann. Nehmen wir den Menschen als Ding, so ist er jetzt im
Augenblick ganz sicher im Sein. In 200 Jahren allerdings wird er das
wohl nicht mehr sein können. Der Zustand des „nicht-Seins“ wird
also mit großer Sicherheit entstehen. Wie geht das aber dann, vom
„Sein“ ins „Nicht-Sein“ hinüberzuwechseln, wenn das nach
unserer Logik gar nicht langsam und kontinuierlich geschehen kann,
denn für einen Übergang müsste „Sein“ dann das „nicht-Sein“
ja bereits enthalten, um hinüber wechseln zu können. Nach
Aristoteles und auch nach heutiger Auffassung geht das nicht, ist das
unlogisch. Nun sind solche Fragen philosophischer Natur und für
Otto-Normal keine ernsthaft zu betreibenden Problemfälle. Wir
sterben einfach, basta. So ist das eben! Das „Warum sterben wir?“
und auch die Frage nach dem „Danach“ sind nicht so wichtig.
Trotzdem, diese Frage liegt oft und ganz besonders in der Aktualität
wie ein Stein im Rucksack der Seele, bringt die Unsicherheit und
Ungewissheit doch die alltägliche Angst hervor, die allgemein üblich
in unserem Kulturkreis mit dem Tod verbunden wird. „Sein“ kann
nicht als absolut gesetzt werden. Trotzdem verwenden wir es genau so,
warum? Was fehlt? Müsste zwischen „Sein“ und „nicht-Sein“
nicht ein Übergang gesetzt werden, der so etwas wie Dauer besitzt?
Lässt das unsere Sprache überhaupt zu?



Eine Lösung des
Problems mit dem „Sein“ ist die Setzung einer „Seele“.
Diese ist unsterblich, ewig, wird uns ins Paradies nach guten Taten
oder in die Hölle nach schlechten Taten eintreten lassen oder
irgendwie wiedergeboren werden, um sich erneut zu bewähren. Wenn ich
einem Menschen die Seele abspreche oder behaupte, diese sei verloren,
werde ich große Reaktionen heraufbeschwören. Die Seele, auch gerne
Monade oder Atman genannt, obwohl weder jemals erkannt, gesehen noch
gewogen ist ein heiliges Gut. Sie erlöst vor der Angst. Aber sie
verhindert auch das Leben. 2000 Jahre christliche Geschichte [1.
Empfehlung: Schatten über Europa, Rolf Bergmeier, ISBN
978-3-86569-075-3] zeigen mehr als deutlich auf, wie groß die Angst
vor dem Seelenverlust sein kann und welche fatalen Wirkungen diese
neue Angst zeugt. Diese sind in weiten Teilen der Welt auch heute
noch oft größer als die Angst vor dem Tod. Haben wir mit der der
Setzung der Seele also nur eine Angst gegen eine andere eingetauscht?
War die Setzung der Seele nur ein cleveres Machtinstrument, das
Wenigen die Macht über viele gab? Diese Frage möge jeder selbst für
sich beantworten.

Was mich weiterhin
beschäftigt, sind Worte wie Selbst, Geist, Schöpfung usw. Nun hören
wir sehr oft in spirituellen Kreisen, das der/die Eine oder Andere
auf der Suche nach dem wahren Selbst sich befindet. Das zur
Zeit als aktiv empfundene Selbst wird folglich als unwahr aufgefasst,
das wahre Selbst aber ist im unwahren Selbst verborgen und wird durch
die Ausübung von Techniken aufgedeckt. Das „wahre Selbst“ also
steckt direkt im oder hinter dem „unwahren Selbst“. Was geschieht
dann mit dem unwahren Selbst, wenn das wahre Selbst erscheint? Stirbt
es? Wie dem auch sei. Wahr und Unwahr sind also bis zur Läuterung
gemeinsam in einem Ding zu Hause. Nach Aristoteles ist das aber
trotzdem nicht möglich. Sein und nicht-Sein, wahr und unwahr? Wo ist
da der Unterschied? Wer hat sein wahres Selbst schon jemals gesehen?
Wer hat sein Selbst, ob unwahr oder wahr, schon jemals gesehen? Was
machen diese Setzungen aus? Sie sind reine Spekulation. Warum
verwenden wir sie dann aber dauernd?

Eine weitere
wunderbare Bedeutung hat das Wort Geist. Es bezeichnet das
mentale Konstrukt, das wir wie oben schon gesehen „Ich“ nennen
und in eins gesetzt ist mit dem ebenfalls schon erwähnten Selbst.
Eine besondere Rolle spielt das neben Geist verwendete Wort GEIST,
das den Individuellen Geist weit überflügelt und ihn in eine
kosmische Umgebung setzt und damit das ausdrückt, was die Summe
aller geistigen Aktivitäten von Leben darstellt, auch gerne als
Speicherbewusstsein [2. Alaya vijnana] und Schatz des Lebens
bezeichnet. In vielen spirituellen Traditionen ist daher als
Übungsweg angelegt, von Geist zu GEIST zu gelangen, teilweise als
Transzendenz [3. Gott, etwas außerhalb der Welt stehendes, der
Grund, das der sinnlichen Wahrnehmung verschlossene.] oder auch in
dessen Gegenteil, als Immanenz [4. Das in allen Dingen enthaltene.]
bezeichnet. Mentale Zustände, in denen diese Barrieren überwunden
sind heißen dann Meditation oder Versenkung, Trance oder Hypnose.
Allerdings beschreiben trotzdem viele Lehren von
Bewusstseinstechniken diese Zustände als unvollkommen, ja sogar
gefährlich und es wird davor gewarnt, sie dauerhaft zu erreichen und
sozusagen in ihnen steckenzubleiben. Sie zeigen wie im Buddhismus
beschrieben nur an, welchen Fortschritt die Übenden gemacht haben
und diese werden immer wieder aufgefordert, auch diese Ergebnisse zu
überwinden. Darüber hinaus fortschreitende Zustände heißen dann
lichte Weite oder kosmisches Bewusstsein. Ich selbst kann dazu nichts
sagen, denn diese beiden sind mir weder zugänglich noch bekannt.



In unseren Sprachen
sprechen wir gerne, wenn wir die Welt und ihr Dasein positiv
überhöhen, von Schöpfung, was nichts anderes bezeichnet als
entweder von Gott gemacht oder aus sich selbst entstanden, je nachdem
welche Religion oder Weltanschauung der These zugrunde liegt. Im
Gegensatz zur Schöpfung ist die Welt meist schlecht und
unvollkommen, entweder durch den Menschen selbst gemacht [5.
Sündenfall im Christentum] oder durch den Einfluss von Stimmungen
wie Habgier, Hass und Neid [6. Buddhismus], die scheinbar aus dem
Nichts plötzlich auftauchen und die Welt vergiften. Die Schöpfung
selbst ist meist vollkommen und wird nur durch falsches Denken,
falsches Benehmen, durch falsche Geschichten oder Erzählungen
verdunkelt und muss daher nur befreit werden, um wieder ein Paradies
zu sein. Besonders große Organisationen berufen sich gerne auch die
Schöpfung und geben vor, Verwalter und Befreier derselben zu sein.
In der Historie erleben wir diese meist so in Szene gesetzt, das sie
durch den Glauben an diesen Anspruch große Macht gewonnen hatten und
haben und diese stets zu missbrauchen verstanden. Ich selbst halte es
daher mit Krishnamurti, der eine Organisation als Träger von
Weisheit als nicht vereinbar/machbar verstand.

Und dann müssen wir
noch über unser Verständnis von Zeit reden. Zeit, das sind
sich sogar die Wissenschaft und die Esoterik einig, gibt es nicht.
Zeit ist ein Konstrukt des Menschen, eine Erfindung des Menschen.
Nicht umsonst hat die Wissenschaft die Zeit erst an der Bewegung und
dann an dem Raum festgezurrt. Die Natur kennt nur einen Wechsel der
Jahreszeiten, die durch den Abstand zur Sonne und durch dies daraus
resultierenden Klimaveränderungen und Lebensbedingungen
gekennzeichnet sind. Weiterhin entsteht unterschiedlich in der uns
zugänglichen Welt ein Wechsel der Hell-Dunkel-Zeiten. Die Zeit, die
wir meinen zu kennen und die 24 Stunden und 3600 Minuten pro Tag in
einem 365 Tage usw. dauernden Jahr enthält ist ein künstliches,
nicht am Leben orientierten Produkt der Technik. Wir erinnern uns an
die Vergangenheit. Diese erstellt Regeln und Handlungsweisen, die
sich bewährt haben und die uns eine Fortsetzung eines Lebens
ermöglichen. Diese Vergangenheit wird ständig gefüllt mit einem
kontinuierlichen Strom von Erlebnissen aus der Gegenwart. Aus diesen
erinnerten Erlebnissen konstruiert und erschließt sich der Mensch
eine Idee der Zukunft, in dere er sich Fortschritt erhofft und die
eine möglichst angenehme Fortsetzung des Lebens ermöglicht. Ein
eigentlich genialer Schachzug, der das eben sichert, aber auch mit
Risiken behaftet. Denn die mögliche Zukunft, so sie denn nicht die
erhoffte Qualität besitzt, erzeugt auch Angst und Negativität,
erzeugt über den Wunsch nach Sicherheit auch Gier, Hass und Neid.
Und hier entstehen auch die Leiden, die das menschliche Leben so
reichhaltig ausfüllten und die eigentlich unsinnig und unerwünscht
sind. Was für diese Lage wichtig wäre und was mir im europäischen
Denken oft fehlt sind daher Begriffe, die eine Dauer in der Gegenwart
auszudrücken imstande sind und die eine Neigung beschreiben können,
eine Neigung, die positive und negative Motive in Bewegung zu bringen
imstande ist. Nun ist in meiner Anschauung Negativität nicht
grundsätzlich schlecht, aber sie sollte mit der Freude, die ich
jetzt mal Positivität nennen möchte, zumindest in einer
ausgeglichen Balance stehen. Meiner Ansicht nach sind Freude und Leid
die Würze des Lebens. Beide in Balance zu halten ist Lebenskunst,
sie durch Erfahrung ineinander zu verweben aber ist Weisheit. Angst
und Leid zu überwinden geschieht durch das Bewusstsein ihrer
Beschaffenheiten, die Kenntnis über die Ursachen und die unendliche
Neuausrichtung der Neigungen, die einen Ausgleich, eine Balance
ermöglichen. So wird im Thema Freude und Leid für mich ein Schuh
daraus.



Es gibt viele
weitere Worte und Redewendungen die in diesem Rahmen gerne und oft
Verwendung finden und gebraucht werden, um etwas zu beschreiben, was
nahezu unbeschreiblich erscheint. Die hohe Anziehungskraft dieser
Beschreibungen drückt die Sehnsucht der Menschen aus, zurück in
einen wie immer auch geartetes paradiesischen Zustand zurückzukehren,
wo das Leben und das Sein vollkommen und leicht und jeglicher
Gefahren enthoben ist. Dafür dann sind Menschen bereit, zu üben, zu
sitzen, zu singen, zu tanzen, zu praktizieren oder zu kämpfen, um
nur einige Techniken zu nennen, und sie wenden viel Zeit und Energie
auf, um dabei sein zu dürfen bei der großen Befreiung.

Nun könnte
man aus meiner Wortwahl schließen, das ich das alles ganz
entsetzlich finde und empfehlen würde, dass man das dringend
abstellen müsse. Nun, das oder zu Gegenteil ist der Fall. Ich
schätze Menschen sehr, die sich um ihr Seelenheil bemühen und
bereit sind, dafür Opfer zu bringen. Und ich wünschte mir, das es
mehr und mehr werden.

Was ich mit meinen
Zeilen erreichen möchte ist aber die Einsicht, das es nicht die
Wortbedeutungen sind, die in der Spiritualität eine Rolle spielen.
Es sind auch nicht die unzähligen Aktivitäten und Bemühungen, die
für Veränderungen aufgewendet werden, die ich hier beschreiben
möchte. Was mir am Herzen liegt ist die Ansicht, das es vor allem
nicht allein darum geht, andere Menschen zu überzeugen, einen von
mir favorisierten Weg zu gehen, sondern das jeder einzelne Mensch
selbst und für sich zu der Überzeugung gelangen muss, seinen
eigenen spirituellen Weg zu gehen. Und dafür können gerne
Gleichgesinnte helfen, können unterstützen, können sozusagen
helfen, bei der Sache zu bleiben, aber letztlich ist jeder für sich
auf dem spirituellen Weg allein unterwegs. Seinen Weg erst einmal für
sich selbst zu gehen ist die Bedingung, in der Entwicklung überhaupt
möglich ist. Und dabei sind die Worte und Beschreibungen anderer, so
gut sie auch gemeint sein können, eher hinderlich als förderlich.
Der eigene Weg ist immer ganz neu, wird an jedem Tag neu sein, und
ist immer verschieden vom Weg der anderen. Das ist meine Überzeugung.
Und daher ist es auch sehr schwer und sehr verwegen, große
Organisationen zu gründen, die die Lehre einer wie immer gearteten
Freiheit in die Welt hinaustragen. Die Freiheit kann immer nur die
Freiheit des Einzelnen sein. Es geht einfach nicht anders. Und jeder,
der darüber lange genug nachgedacht hat, wird wie ich irgendwann zu
diesem Punkt kommen müssen. Ob dieser danach noch überwunden werden
kann, ist für mich ungewiss.



In vielen
spirituellen Texten wird mit den Bedeutungen von ich, sein, selbst,
Geist und Seele dialektisch gespielt. Ihr Verwendung bezieht sich auf
Bedeutungen und Schlussfolgerungen, die genau betrachtet einen in
sich geschlossenen Kreis bilden. In unzähligen Verkettungen werden
diese Begriffe ineinander verwoben, werden zu Argumentationsketten
verbaut, die letztlich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führen.
Dieses Ergebnis kann wie folgt beschrieben werden: „Du tust nicht
genug, daher…“. „Du musst mehr tun, damit…“ ist auch ein
schönes Ergebnis dieser Ketten. Gemeint ist damit aber nur, das du
etwas tun musst für andere, für die Organisation zum Beispiel, für
den Guru, den Meister, für die Gemeinschaft und, und, und. Mehr tun,
größer wirken, mehr investieren, ist das Ziel dieser Dialektik.
Dabei sprechen alle Traditionen und besonders der Buddhismus davon,
das unser Leiden daher kommt, das wir eben immer mehr wollen. In
meiner Anschauung ist Freiheit nur in sich selbst verwirklichbar. Nur
ich selbst kann für mich und damit auch für meine Umwelt frei sein.
Mein einziges Wirken besteht dann darin, für andere ein Vorbild zu
sein. Viele große Meister waren unscheinbar, wurden oft verkannt
oder zogen sich in die Einsamkeit zurück, da sie ihr
„nicht-wie-alle-anderen-zu-denken“ für sich und andere als
Gefahr empfanden. Sokrates wurde gezwungen, den Giftbecher zu leeren,
Laotse zog sich in seiner bekannten Geschichte in die Einsamkeit der
Berge zurück und ward nie mehr gesehen, und unzählige Andere werden
ebenso gehandelt haben, von denen daher nie etwas bekannt werden
konnte. Anders zu sein war und ist immer noch gefährlich, und der
Weise erkennt das auch und handelt entsprechend.

Wie kann ich mich
also verhalten, meiner Meinung nach, gegenüber den oben
beschriebenen Wortschöpfungen und Gefahren, die darauf basieren?
Unsere Sprache verwendet nun einmal ich und sein, verwendet Selbst
und Seele, und die Schöpfung ist auch, wie im letzten Satz zu sehen,
nicht gerade selten. Ich helfe mir so, das ich Sprache generell als
unvollkommen empfinde, ich Kommunikation insgesamt als unvollkommen
empfinde, und das schließt so vielfältige Dinge mit ein wie
Rituale, Gesten, Zeichen, Musik, Kunst, Literatur, Offenbarungen und
die vielen anderen wortlosen Ausdrucksformen ebenso. Wir Menschen
können eben nicht nur ausdrücken, was in uns vorhanden ist, sondern
auch das, was wir gehört haben und nur vermuten, was uns suggeriert
wurde, was uns Angst zu machen droht oder sich durch geschickte
Manipulation in uns verfestigt hat. Und da wir zur Zeit erleben, das
Kommunikation überhand nimmt und wir sozusagen fast erschlagen
werden von der Vielfalt und dem Reichtum an Bedeutungen, empfehle ich
einem alten Sprichwort gemäß: „Fragen zu stellen ist wichtiger
als Antworten zu finden!“. Ich frage mich zum Beispiel immer
häufiger, was ich meine oder gemeint habe, wenn ich einen Satz im
Gespräch oder im Artikel wieder mal mit „Ich“ begonnen habe,
frage mich, was für mich das Wort „selbst“ bedeutet, wenn es bei
mir Verwendung fand, und vermeide Worte wie Schöpfung oder Seele in
meinen Beschreibungen, da sie alles und auch nichts bedeuten können.
Das Verb „sein“ allerdings und das Verständnis von Zeit sind in
unserer Sprache unverzichtbar, und ich muss mir sehr bewusst darüber
sein, was genau sie bedeuten und wie ich sie entsprechend verwenden
sollte.



Wie gerne würde ich empfehlen, in eine Sprache zu wechseln, in der diese dialektischen Verfahren nicht bekannt sind und keine Bedeutung gewinnen konnten. Neben einigen Sprachen von Naturvölkern ist heute allerdings die Wahl dazu sehr beschnitten. Es gibt nur eine alte, nicht dialektisch vergorene Kultursprache, die diesem Anspruch meiner Meinung nach gerecht wird, und diese kommt auch heute schon im eigenen Volk immer seltener zum Tragen. Gemeint ist das klassische Chinesisch, die Sprache Chinas aus der Zeit von Laotse und Konfuzius. Und daher möchte ich gerne eine kleine Kostprobe anhängen, wie diese Sprache aussah, die ohne Verkettung in Dialektik auskam, und die doch eine Hochkultur begründet hat.

Himmel, Erde,
tief-dunkel, gelb
Welt, Zeit, fluten, brach-liegen
Sonne,
Mond, anfüllen, Abendstrahlen
Gestirne, Sternbilder, aufreihen,
ausbreiten
Kälte, kommen, Hitze, gehen
Herbst, ernten,
Winter, horten

(Unter dem) unergründlichen (tief-dunkeln) Himmel (die) gelbe Erde,
(in der) Welt (die) Zeit, (das eine) flutend, (das andere) brach(liegend),
Sonne (und) Mond füllen an (die) Strahlen des Abends,
Gestirne (und) Sternbilder reihen (sich auf und) breiten (sich) aus,
(Die) Kälte (des Winters) kommt, (die) Hitze (des Sommers) geht,
(Im) Herbst (wird) geerntet, (im) Winter gehortet.

Der aus den
Tausend-Zeichen-Klassiker stammende Text, den jeder Gebildete seiner
Zeit auswendig zu lernen hatte, drückt aus, was wichtig ist zu einer
bestimmten Zeit zu tun im ewigen Wechsel der Jahreszeiten:

Wenn Sonne und Mond
am unergründlichen Himmel (tief-dunkel) den Abend über der gelben
Erde bestrahlen, wenn die neue Jahreszeit sich wandelnd (flutend)
über die unberührte (brachliegende) Welt ergießt, wenn die
Gestirne und Sterne sich aufreihen, wenn die Hitze des Sommers sich
in die Kälte des Winters zu wandeln ankündigt, ist Herbst und die
rechte Zeit zu ernten und die Nahrung für den Winter zu horten.

In beginnenden Herbst erscheinen Sonne und Mond am Abend gemeinsam am Himmel in wunderbaren Sonnenuntergängen. Die meist klaren Herbstnächte erlauben erstmals wieder den Sternen, anders als in den warmen Jahreszeiten, sich am Himmel zu zeigen. Die Jahreszeit erlebt erneut einen Wandel, aus Hitze wird Kälte werden und die Menschen sind angehalten, zu ernten und Nahrung für den Winter zurückzulegen.

Wie klar und ausdrucksvoll wird hier beobachtet, wie ein Jahreszeitenwechsel sich ankündigt. Und ganz klar wird den Menschen ans Herz gelegt, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. Keine Pflicht und kein Sollen erfüllt die Zeilen. Alle Worte erscheinen wie selbstverständlich. Und niemand wird sich widersprechend gegen diese Zeilen erheben wollen. Könnten doch unsere europäischen Sprachen sich auch so klar ausdrücken…, der Fluss würde dann wieder fließen.