Spiritualität ist ein fragendes Fortschreiten in die Ungewissheit

Wo immer der Mensch an seinem In-Der-Welt-Sein arbeitet, also etwas zu regeln, zu verändern, zu berichtigen oder zu erweitern sucht, wird er mit den Grundfragen des Lebens konfrontiert, und die heißen erstens „wozu/warum/wofür das alles?“ und anderseits „was/wer bin ich?“. Diese Fragen, der sich jeder Mensch in seinem Leben irgendwann stellen müsste, um befriedet alt werden zu können, sind so oft diskutiert und unterschiedlich beantwortet worden wie keine anderen Fragen, dreht sich doch die Philosophie, Theologie, Psychologie und Soziologie im Grunde um nichts anderes als um das.

Sehr unterschiedlich sind die Perspektiven, Vorgehensweisen und Ausgangsbeschreibungen für die Behandlung dieser Fragen, und wir müssen, wenn wir in der Reflektion erfolgreich bestehen wollen, uns immer wieder fragen, ob die Wahl, die wir zu Beginn dafür getroffen haben, ausreichend und zielführend war. Meine Ansicht dazu ist die, das wir uns niemals richtig für einen Ausgangspunkt entscheiden können und daher aufgefordert sind, immer wieder neu zu beginnen, immer wieder neue Perspektiven zu suchen. Im Grunde führt erst das Scheitern und Neubeginnen zu Erfahrung und damit zu der Sicherheit, die durch stetige Wiederholung die Angst vor dem nächsten Scheitern auf ein Minimum reduziert. Diese minimale Angst, man könnte sie auch Lampenfieber nennen, ist dann die Spannung, die ein erfülltes und gelassenes Leben ermöglicht und zu Freude führt, Freude am lebendig sein, Freude am Leben selbst.

Philosophie und Theologie beschäftigen sich seit 2500 Jahren und mehr mit diesen Fragen und haben sehr reichhaltige Antworten hervorgebracht, die letztlich immer, wenn sie von den Mächtigen der Welt vertreten wurden, zur Grundlage einer Gesellschaftsform weitergeformt wurden. Beherrschten in früheren Jahrhunderten überwiegend Religionen diese Gestaltungsebene, so herrschen heute Wirtschaftsstrukturen und Weltanschauungen. Drei davon sind heute für unser Leben wichtig. Sie sind bekannt als Positivismus, Idealismus und Lebensphilosophie. Diese drei bilden den Kern der möglichen Anschauungen in der westlich geprägten Welt.

Der Positivismus ist eine Richtung in der Philosophie, die fordert, Erkenntnis auf die Interpretation von „positiven“ Befunden, Mathematik oder Logik zu beschränken, also solchen, die im Experiment unter vorab definierten Bedingungen einen erwarteten Nachweis erbringen. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Positivismus]

Idealismus bezeichnet unterschiedliche Strömungen und Einzelpositionen, die hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist bzw. dass Ideen bzw. Ideelles die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Idealismus]

Lebensphilosophie ist eine Strömung der Philosophie, die als Gegenentwurf zu einseitiger Betonung der Rationalität nach Art der Naturwissenschaften das Werden des Lebens, insbesondere seine Ganzheitlichkeit allein mit Begriffen und Logik nur unzureichend erfassen und beschreiben würden. Zu einem umgreifenden Leben gehörten ebenso nicht rationale, kreative und dynamische Elemente. [soweit ein Eintrag in Wikipedia.org/wiki/Lebens-philosophie]

Wenn wir uns diese drei Strömungen genauer ansehen werden wir feststellen, dass alle drei in unserem Leben eine Rolle spielen, obwohl sie sich grundlegend widersprechen. Der Positivismus, der dem Materialismus nahesteht und beweisbare, belegbare Nachweise einfordert, bestimmt unsere praktische und wirtschaftliche Lebensweise mit einer Ausnahme, nämlich einer Ausrichtung auf den freien Markt, der als Grundidee eine idealistische Vorstellung vertritt. Moralisch fühlen wir uns überwiegend ebenfalls dem Idealismus verpflichtet, zu leben und anzuwenden pflegen wir aber eine mehr positivistische Sichtweise, was im Grunde einer Lüge gleichkommt. Bei Gestaltung und Ausfüllung des persönlichen Lebensinhaltes greifen wir dann gerne auch auf lebensphilosophische Ansichten zurück, weil die Befriedung der Triebe und die Fähigkeit zur Intuition so attraktiv sind. In der Summe ist unser In-Der-Welt-Sein von einer subjektiven Auswahl aus diesen drei Möglichkeiten geprägt, wobei wir bei der Wahl im Grunde stets egozentrisch den eigenen Vorteil in den Mittelpunkt stellen. Wir wählen also einfach gesagt stets die Sichtweise, die uns am bequemsten erscheint.

Mit Yoga und Meditation arbeiten wir neben der Herstellung von körperlicher Gesundheit und Kraft auch an den zwei Fragen, die eingangs so einfach in den Raum gestellt wurden. Um hier aber Perspektiven finden zu können, in denen ein Üben (was immer auch ein Scheitern-Können beinhaltet) stattfinden kann, müssen wir uns unserer Position bewusst werden, aus der heraus wir jetzt beginnen. Wir müssen sehen, dass wir uns in Denken und Handeln in Konstruktionen der Wirklichkeit bewegen, die von Ausstattung und Handhabung her nicht von uns selbst stammen können, sondern Produkte von wissenschaftlich arbeitenden Disziplinen sind. Diese als Denkstruktur zu verwenden verhindert eine realistische Positionserfahrung, denn Wissenschaft lebt von Verifikationen (einerseits belegbare, messbare und wiederholbaren Gesetze, andererseits Theorien, wo etwas belegbares nur begrenzt möglich ist) Ohne eine Position können wir aber nicht beginnen, an uns selbst zu arbeiten. In der alltäglichen Lebensbewältigung mögen allgemeine Gesetze und überzeugende Theorien zwar angenehm und nützlich erscheinen, für die Arbeit am Selbst allerdings bedarf es wesentlich mehr Klarheit und Ehrlichkeit. Man kann Bequemlichkeiten nicht abstellen, wenn man sie nicht wahrnimmt. Man kann Vorurteile nicht erkennen, wenn man sie nicht in Frage stellt. Man kann Praktiken und Übungen nicht beurteilen, wenn man sie nicht erprobt und durchlitten hat. Man kann Fragen nicht so beantworten, weil scheinbar alle sie so zu beantworten pflegen. Man kann nicht so handeln, weil alle so handeln. Man kann nicht zur Wahrheit vordringen, wenn man Anschauungen und Dogmen glaubt und sie unhinterfragt gewähren lässt. Was wir tun müssen, um voranzukommen, ist selbst Fragen stellen. Nicht die Antworten, sondern die Fragen sind entscheidend, nicht das Wissen (das meist von anderen stammt), sondern die Erfahrung ist wichtig. Und dafür müssen wir zumindest uns selbst gegenüber ehrlich sein. Ehrlich sein bedeutet in diesem Sinne, unsere wahre Kondition zu erkennen, uns nicht weiter selbst zu belügen. Was wir können muss uns bewusst sein, was wir nicht können ebenfalls. Was wir können ist dauerhaft zu erhalten, was nicht gekonnt wird ist zu üben, um es verfügbar zu machen. Üben bedeutet auch immer ein Scheitern-Können zu riskieren, und dafür sind Mut und Selbstvertrauen wichtige Eigenschaften. Diese beiden Eigenschaften werden im Zirkelschluss genau durch stetes Üben erarbeitet. Das erfordert Ausdauer  und manchmal auch Leidensfähigkeit, vor allem aber erfordert es, gegen den inneren Widersacher anzukämpfen. In meiner Vorstellung kann man nicht zu einer Veränderung vordringen, ohne jetzt eine Position zu haben und diese mit Mut und Ausdauer auch wieder verlassen zu wollen. Spiritualität (das ist die immerwährende Suche nach der Antwort auf die beiden Fragen) ist daher ein Fortschreiten in die Ungewissheit.

Fragen zu stellen ermöglicht sich zu entwickeln, sich weiter zu bewegen.  Fertige Antworten zu haben erzeugt immer nur Stillstand.




Wenn wir Yoga üben werden Fragen auftauchen…

…irgendwann, und auf diese Fragen sollten Antworten gegeben werden. Da ist zum Beispiel die Frage, warum meiner Schultern immer wieder fest und geschlossen sind, warum bei vielen Übungen Schmerzen auftauchen im Rücken, in den Füssen, in Bauch und Brustkorb. Und es tauchen Fragen auf wie, was mache ich falsch, was ist an mir nicht in Ordnung, warum passiert mir das und folgend die Frage, ob das jemals wieder in Ordnung kommt?
Alles diese Fragen sind folgerichtig gestellt und auch verständlich, aber nicht wirklich zielführend und daher nur so zu beantworten: Das sind nicht die Fragestellungen, die sinnvoll und angebracht sind und die daher selten zu Ergebnissen führen. Ich würde die Frage gerne anders stellen wollen, und zwar in der Richtung: Was kann ich tun, um Abhilfe zu schaffen? Was brauche ich dafür? Wie komme ich weiter? Das sind die Fragen, mit denen ich mich als Yogalehrer beschäftigen kann. Diese Fragen kann ich beantworten, hier kann ich Hilfe anbieten.

Natürlich wollen wir gerne wissen, woher unsere Anlagen kommen.  Und eine gute und richtige Antwort würde dafür auch hilfreiche Motive bringen. Aber seien wir mal ehrlich: Was in dieser Welt ist einfach ableitbar? Wofür können wir klar und präzise Ursachen und deren Wirkungen beschreiben und ableiten. Das gelingt zwar in der Mechanik meistens, das gelingt in der Physik noch oft, in der Chemie aber bereits seltener, in der Philosophie und im Menschsein eigentlich nie. Wir spekulieren und legen uns einfache Antworten zurecht. Das ist die Realität. Und diese Antworten sind bereits durchsetzt mit Vorstellungen, Wünschen und Selbsteinschätzungen, die die Ebene der Wahrheit nur noch spärlich berühren. Es ist, wissenschaftlich gesprochen, nicht einfach, Klarheit in nicht messbaren Bereichen zu finden. Und messbar ist im Menschen nur Gewicht und Schuhgröße. Schon bei der Körpergröße wird es variabel, bei Spannung, Tonus, Muskel-und Nervenaktivität fängt das Raten an. Vom Geist will ich hier gar nicht erst schreiben.

Yoga ist anders als die Wissenschaft ein System zur Intervention an und mit mir selbst. Und Yoga funktioniert mit Erfahrungen und der Methode Versuch und Irrtum. Da ist nichts klar und abgegrenzt. Jeder Mensch ist anders. Und letztlich ist es nicht wichtig, wo ein Problem herkommt, sondern wichtig ist, wie jeder Einzelne zu Linderung, Abschwächung und Lösung seiner Problemchen kommen kann. Dafür gibt es Übungen, und dafür gibt es Yogalehrer, die helfen können, die richtigen Formen zu finden. Dazu ist es manchmal notwendig, den Finger in die Wunde zu legen. Eine Schwäche offen anzusprechen ist immer mühsam für beide Seiten, den Hilfesuchenden und den Hilfegebenden gleichermaßen, aber notwendig.

Festzuhalten ist: Jeder Mensch hat seine Schwächen und Stärken.  Und jeder vernunftbegabte Mensch weiß das auch. Auch Yogalehrer haben Schwächen, auch Yogalehrer arbeiten an sich selbst. Und ganz ehrlich gesagt wissen diese Lehrer meist mehr über sich selbst als ihnen lieb ist, denn sie haben viele Gelegenheiten und viele Wahrnehmungen genossen, die ihnen aufzeigen konnten, wie wenig perfekt ein Menschsein im Allgemeinen so ist. Perfektion ist ja auch nicht Ziel der Übungen. Ziel der Übungen ist es, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, der für ein Leben tragend sein kann, für ein Leben ohne Schmerz und Not, für ein Leben ohne Leiden.

Alternativ dazu kenne ich nur die Versprechungen der Chemie und das Messer des Chirurgen. Passive Interventionen wie Massagen und dergleichen sind hilfreich für den Moment, für dauerhaften Frieden mit mir selbst aber kann nur ich selbst verantwortlich zeichnen. Und dazu muss ich üben, um so zu versuchen,  immer wieder zurück ins Gleichgewicht zu schwingen. Dafür genügen schon ein paar Minuten eines Tages, das sind vielleicht nur 1% meiner Zeit. Das ist ungefähr so viel wie für einen Kaffee trinken, einen Post abzusenden, ein „gefällt mir“ zu bestätigen  oder einen Plausch zu halten. Ich kenne keinen sinnvolleren Einsatz von Zeit!




Exkurs über „das Üben“ in Yoga und Meditation

Nach Wikipedia ist Üben „… eine Praxis, die auf Können bzw. besseres Können gerichtet ist. Geübt werden Praktiken, die man nicht unmittelbar durch Wille oder Entschluss ausführen kann, wie elementare und leibliche Lebens- und Weltvollzüge wie Gehen und Sprechen, komplexe Fertigkeiten und Fähigkeiten künstlerischer, sportlicher, handwerklicher und geistiger Art sowie individuelle Haltungen und Einstellungen.“
Im Umkehrschluss müssen also Handlungen etc. dann nicht mehr geübt werden, wenn ihre Aneignung für einen bestimmten Zeitraum ausreichend oder sogar nahezu abgeschlossen ist. Von einem vollständigen Aneignungsvollzug spricht man in Verbindung mit Üben aber nicht, da diese Fertigkeiten nur dann dauerhaft zur Verfügung stehen, wenn sie entweder regelmäßig ausführt oder aber nach längeren Pausen wieder einübt werden. Berücksichtigt man diese Aussagen, erschließt sich der Begriff „Übungspraxis“, der gerne für die Beschreibung von Yoga und Meditation verwendet wird, auf einfache Weise.

Schauen wir auf die Übungsinhalte im Yoga, so fallen zunächst die körperlichen Fähigkeiten ins Auge. Viele Übungen des Yoga erfordern schon für die Grundhaltung einen gut ausgearbeiteten Muskelaufbau und begleitende Fertigkeiten, die meist mit Balance und „know how“ beschrieben werden können. Selten erwähnt, aber nicht weniger wichtig, sind Fertigkeiten, die mit Konzentration, Aufmerksamkeit und Gelassenheit zu tun haben. Auch diese Motive sind mit Üben und regelmäßigen Tun ausgestaltbar. Dazu kommt in meiner Vorstellung von Yoga eine Zielgerichtetheit, in der das Gehen auf dem Weg auf das vorgestellte Ziel hin optimierend gestaltet wird. Dazu gehören besonders Intensionen in Haltung, Art und Übungsweise sowie ergänzende Maßnahmen, die nicht dem Yoga zugehörig sind wie Massagen und evtl. auch Psychotherapien. Zusammenfassend würde ich sagen, dass der wirksamen Ausführung von Yoga eine Übungszeit vorgelagert sein muss, in der zunächst einmal Voraussetzungen geschaffen werden müssen.

Ähnlich ist die Ausführung von Meditation ebenfalls an Voraussetzungen gebunden. Sitzen können, Kraft und Wille vereinen können und ein hohes Maß an Gelassenheit sind hier die benötigten Motive. Auch diese fallen nicht vom Himmel und müssen eingebracht und ausdauernd geübt werden.

Ein Großteil der Zeit für Yoga und Meditation wird also zwangsläufig mit Vorübungen ausgefüllt sein. Das Halten der körperlichen Fähigkeiten, das Schaffen von Gelassenheit und Konzentrationsfähigkeit sowie die Ausgestaltung eines persönlichen Weges sind elementare Schritte in der Übungspraxis. Ohne diese Motive ist Yoga nur Turnen, Meditation nur Abhängen. Sind die Voraussetzungen aber geschaffen und werden diese regelmäßig gepflegt, kann Yoga zu einer energiereichen Weitung des Lebensgefüges beitragen, kann Meditation gelingen und in die Stille des Da-Seins führen.

Kommen wir noch einmal zur Beschreibung in Wikipedia: “ Jede Übung hat auch bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung eine ästhetisch-sinnliche, eine methodisch-kognitive und eine praktisch-ethische Dimension. In der Neuzeit trat der methodische und kognitive Aspekt immer mehr in den Vordergrund. Die ästhetisch-sinnliche und die praktisch-ethische gingen weitgehend verloren.“ Diese Tendenz ist ganz prägnant in Yoga- und Meditationsangeboten der Neuzeit zu beobachten. Hunderte von Schulen, ausgrenzende Schwerpunkte und besonders der Ausschluss dringend benötigter mentaler Fertigkeiten aus der Praxis sprechen eine mehr als deutliche Sprache.

Beide Methoden, richtig ausgeführt, wirken aber in ein Lebensgefüge hinein, das sich nicht auf zwei Stunden Matte und Kissen begrenzen lässt, sondern dem 24 Stunden an jedem Tag zur Verfügung stehen, und das jahrzehntelang. Angebracht ist daher etwas mehr Sorgfalt, etwas mehr Geduld, und nicht zu vergessen etwas mehr Bescheidenheit. Das gilt für Übende, Teilnehmer an Veranstaltungen und ganz besonders für die unterrichtenden Lehrer und Vortragenden!