Spiritualität ist für mich immer „der Weg in der Mitte“

Wo immer ich heute diskutiere
[1. Diskussionen sind notwendig, auch
und besonders über Politik und Gesellschaft im globalen Maßstab, da
der Verdacht nicht wirklichkeitsfremd erscheint, dass zunehmend mehr
und mehr Regionen der Welt aus den Fugen geraten und der allgemeine
Trend der zu beobachtenden Akzeptanz mehr und mehr den Krieg als
Mittel der politischen Auseinandersetzung wieder mit einschließt.]
sehe ich mich mit der oft auch ungestellten Frage konfrontiert, warum
ich mich selbst eigentlich so umfangreich mit Spiritualität befasse,
wo die Welt und deren Konstruktionen doch viel mehr der
Aufmerksamkeit bedürften. Die Frage ist berechtigt, ist
nachvollziehbar und in der Wichtigkeit der Beantwortung auch hoch zu
priorisieren. Aber sie geht von der Annahme aus, dass Spiritualität
(Geist, Geisteswissenschaft, Religion) zur Weltlage keinerlei Beitrag
leisten könne. Diese Annahme ist falsch, und daher möchte ich
nachfolgend verständlich versuchen, diese Annahme zu begründen und
für ihre Beachtung zu werben.



Spiritualität beschäftigt sich mit dem
Mensch-Sein an sich, beschäftigt sich mit der Frage, was der Mensch
sei, warum er das ist und wohin die Reise gehen könne, allerdings
betrachtet der fragende Mensch diese Aufgabe nicht aus einer
objektiven, sondern vielmehr aus einer subjektiven Sicht oder
Perspektive. Daher lautet die objektiv perspektivierte Frage „Was
ist der Mensch?“, aus der subjektiv perspektivierte Sicht aber „Wer
oder was bin ich?“ und folgerichtig in
der Erweiterung „Was ist mein Weg jetzt
und hier?“. Des Weiteren wird auch im
Beantwortungsversuch nicht die Perspektive eingenommen, was muss sich
in der Welt, in anderen Menschen ändern, sondern die Antwort wird
immer lauten müssen, „Was und wie kann ich mich verändern?“, um
damit auch die mich umgebende Welt in die Veränderung (Verbesserung)
einbinden zu
können. Richtig ausgesprochen beschäftigt sich Spiritualität heute
mit dem Subjekt, das je nach Tradition „Nicht-Ich“,
„Selbst“ genannt wird oder sogar unbenannt bleiben oder
nur „Leere“ heißen kann. Daher ist die
Beschäftigung mit Spiritualität auch schwierig, besser gesagt
abstrakt und erschließt sich erst nach ausgiebigem Studium. Viele
Schriften der Vergangenheit sind auch in ihrer Sprache ungewohnt
facettenreich, bedienen sich Bildern und Aphorismen [2.
Ein Aphorismus ist ein Gedanke oder ein
Urteil, das aus
wenigen Sätzen selbständig bestehen kann.],
was darauf zurückzuführen ist, das in der Zeit ihres Entstehens die
wissenschaftlich Begrifflichkeit der heutigen Zeit noch nicht
erfunden oder gebräuchlich war. Für den
Leser sollte daher die Kultur ins Studium der Schriften einfließen,
in der die Zeilen entstanden sind. Das ist leider nicht immer ganz so
ganz einfach, weil nicht alle Schriften eindeutig in eine Epoche
eingeordnet werden können und der/die Autoren nicht immer klar
benannt werden können.

Spiritualität fragt also danach, wer ich selbst
als Fragender wirklich bin. Da ich selbst als Subjekt nicht mich
selbst als Objekt beobachten kann, muss ich die Perspektive der
gebräuchlichen Beobachtung (Ich
als Subjekt sehe
ein Objekt)
aufgeben und bin gefordert, einen
für die Aufgabe bessere, brauchbareren Blickwinkel zu finden. Alle
Techniken der Spiritualität (Meditation, Zen, Yoga, TaiChi)
bearbeiten diesen Schritt, diesen Sprung, der zu einer anderen
Sichtweise auf die Welt, nicht nur auf
die uns umgebende, sondern die uns immer
auch beinhaltende Welt, führt. Dabei
erfahren wir (Spiritualität baut, da tiefe und innere Vorgänge und
Verbindungen nicht belegt, nicht bewiesen werden können, auf
Erfahrung auf und nicht auf Wissen), wie vernetzt wir in Wirklichkeit
sind, wie verstrickt und wie verbunden wir ins Netz des Lebens
eingewoben sind. Diese Erfahrung (Wir haben erfahren, dass es so ist;
daher wissen wir, wie es ist.) letztlich bewirkt, dass es uns nicht
gleich sein kann und darf, was um uns herum geschieht. Wir sind in
jedem Fall betroffen. Nichts
geschieht ohne Rückkopplung auf uns selbst.
Für das Leben in
der Gemeinschaft, dazu gehört, da das Netz des Lebens nicht an der
Grundstücksgrenze, an der Ortsgrenze und der Landesgrenze aufhört
und neu beginnt, der ganze Globus, ergeben sich ungewohnte und
bedeutende Schlussfolgerungen, in denen „interessiert mich nicht“
oder „ist für mich weit weg“ nicht mehr vorkommen können.
Unsere Verantwortung weitet sich auf das ganze Lebensgefüge aus. Es
gibt keine Schubladen mehr. Alles was Leben trägt, unterstützt,
möglich macht oder beeinflussen kann wird wichtig. Das aber sollte
dann nicht ins andere Extrem (Von „der Mensch darf alles
tun, weil…“
bis „ich darf gar nichts mehr tun, weil…“)
ausgedehnt werden, wo nahezu alles profan
oder heilig wird. Die Natur und die sie
bildende Evolution besitzen auch den Grundsatz „Fressen und
gefressen werden“. Darüber kann, darf und sollte man sich nicht
erheben wollen. Es ist das Maß, das hier eine Rolle spielt, es ist
das Gefühl von Gerechtigkeit, von richtig und falsch, das hier mit
in die Betrachtung einfließen muss. Der Weg liegt für
mich mehr oder weniger in der Mitte der
Extreme. Er fordert Balance und
Neuausrichtung zu jedem beliebigen Zeitpunkt, ist immer in Bewegung,
ist immer neu.

Der
Unterschied von Wissen und Erfahrung ist der, das Wissen festgefügt
ist und Erfahrung sich allgegenwärtig anpasst. Diese Mitte, die wie
eine Schlangenlinie sich vorwärts bewegt, ist der Weg der Erfahrung.
Dieser Weg ist nicht ausgeschildert, ist nicht bekannt, ist nicht
lern- oder planbar. Er kann nur erfahren werden, wenn er gleichzeitig
gegangen wird. Daher ist Erfahrung die Grundlage von Spiritualität.
Soweit die Theorie. Wie aber geschieht so etwas in der Praxis?



Zunächst
einmal ist wichtig zu verstehen, wie Glaubenssätze und -inhalte
entstanden sind und wie sie ihre Bedeutung wechseln. Nehmen wir die
oft publizierte und vertretene Ansicht, echte Yogi(ni)s ernähren
sich selbstverständlich vegetarisch. Nun ist es sicherlich gut und
gültig, sich so zu ernähren, nur, mit Yoga hat diese Ansicht
ursprünglich nichts zu tun. Keine der wichtigen Schriften des Yoga
(Hatha Yoga Pradipika, Patanjali Sutras, Upanischaden) schreiben eine
Ernährungsweise vor. Ernährung muss die Lebensumstände
berücksichtigen, unter denen Menschen leben. Dazu sind die
Belastungen der Menschen im Alltag, die sie umgebende Natur samt
Klima, Vegetation und Temperatur heute auch Infrastrukturen zu
berücksichtigen. In den Großstädten der Welt kann jeder
Ernährungsstil, so man ihn sich leisten kann, verfolgt werden, in
der Trockenheit einer Wüste, im Sumpf der Tropen wird das deutlich
schwieriger, auf der Hochebene von Tibet, vielleicht noch abseits der
großen Handelswege, ist das schier unmöglich. Weiterhin sind
Menschen untereinander verschieden geprägt und ausgestattet. Manche
können z.B. essen was sie wollen, ohne anzusetzen, andere werden
satirisch gesagt schon beim Gedanken an Essen zunehmen…, so dass
immer von Fall zu Fall entschieden werden müsste, was für die
Gesundheit des Einzelnen jetzt und hier notwendig ist und auf dem
Tisch stehen sollte. Zu berücksichtigen ist auch, ob und welche
Ernährungsweise über Jahrzehnte gefahren wurde, denn eine
überschnelle Umstellung hat dann immer auch Konsequenzen in den
Stoffwechselaktivitäten, die Entzugserscheinungen ähnlich sind. Im
Grunde finde ich es vernünftig, die Entscheidungen darüber nicht
vorzufertigen, sondern sie jedem selbst zu überlassen. Das heißt
auch, als Yogalehrer oder –schule nicht für eine ganz bestimmte
Art sich zu ernähren zu werben.

Dann,
als weiteres Beispiel, sind alle Schriften immer in den Lebenskontext
eingebunden, in dem der Schreiber lebte und arbeitete. Zum Kontext
gehören gesellschaftliche Organisationsformen, gelebte Religiosität
einschließlich deren Tabus und auch die Möglichkeiten von Zeit- und
Machtmanagement. Diese Motive, als Kultur zusammengefasst, bestimmen
stark die Lebensumstände, denen auch der Schreiber der Schriften
unterworfen ist. Dieses Alles kann mit dem Zustand heute einerseits
nichts mehr zu tun haben, kann andererseits auch vollkommen falsch
oder immer noch richtig sein. Weil viele Menschen eine bestimmte
Meinung vertreten, muss sie aber nicht zu jeder Zeit und immer für
alle gültig sein. Hier sind Übersetzungen und oft auch
Neuausformungen wichtig, um die Umstände für jetzt und hier
einzubetten. Sehr schön ausformuliert ist dieses Prinzip in den
Kalama Sutta, einem Brief Buddhas an eine seiner Gemeinden:

Kâlâma-
Sutta (Anguttara Nikâya III. 66)

Geht nicht nach Hörensagen, nicht nach
Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität
heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen
Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen,
nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der
Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber selber erkennt: diese Dinge
sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt,
und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und
Leiden, dann möget ihr sie aufgeben.

Die
beiden Beispiele (Ernährung, Kontext des Schreibers) machen
deutlich, dass wir alles Wissen, alle Ansichten, Meinungen und auch
die Auswahl, die wir getroffen haben, immerzu und jederzeit alles
infrage stellen dürfen und dieses, wenn wir ehrlich sind, auch
müssen. Das genau ist ja Spiritualität, das ist der Weg in der
Mitte. Nichts gilt für immer, denn: was heute richtig ist, kann
morgen falsch sein, was heute super funktionierte, kann morgen in
einer Katastrophe enden. Nichts ist endgültig, fertig oder
abgeschlossen. Nichts existiert für sich allein und ist getrennt vom
Ganzen. Alles ist Eines und Vieles zugleich.

Frei übersetzt und zusammengefasst, kann man sagen, dass diese
Ausrichtung nicht nur für Spiritualität gilt, sondern das ganze
Leben durchziehen sollte. Auch in den vielen anderen Bereichen des
Alltagslebens, von der Arbeitswelt bis zum Urnengang bei politischen
Wahlen, sollte geprüft und immer wieder hinterfragt werden. Es
gelten fast immer die nachfolgenden und daher zu Recht berühmten
Sätze:


„Nichts ist so beständig wie der Wandel.“

-Heraklit von Ephesus-


„Um klar zu sehen genügt oft (schon) ein Wechsel der
Blickrichtung (Perspektive).“

-Antoine de Saint-Exupéry-




Fragen, Freiheit und der bevorstehende Lebensabend

Mich haben seit meiner Jugend viele Fragen beschäftigt, von denen einige zu den grundlegenden Fragen der Philosophie gehören. Allerdings war meine Ausgestaltung dieser Fragen nicht auf einen theoretischen Ablauf ausgerichtet, sondern meist durchaus praktischer Natur. Trotzdem heißt „praktisch“ nicht immer auch oberflächlich, denn auch Praxis verlangt in letzter Konsequenz gedankliche Tiefe und Gründlichkeit. Über einige dieser Tiefenfragen möchte ich jetzt in diesen Zeilen für mich eine Frage beantworten, die seit einiger Zeit mein Denken beherrscht: Was mache ich mit und in meinem Ruhestand, der mit jedem vergangenen Tag immer näher heranrückt. Wo befinde ich mich dann, was wird sein und was wird mich dann noch erfüllen? Das ist die Fragestellung dieser Zeilen.

Wer bin ich?
Das ist im normalen Umfeld und unter normalen Bedingungen eine unsinnige Frage. Die Antwort lautet meist: Du bist der Hansi Peter oder einfach nur ein einzelner Mensch, ein Mann oder bei antwortenden aufgeklärten Menschen ein konkreter Mitmensch. Allerdings ist der Name, der Mensch nur ein Wort. Bereits der anders sprachige Mitmensch wird dieses Wort schon nicht verstehen. Hinter dem Wort steht eine Idee, eine Kategorie [1. Gattung, Klasse, Gruppe], ein Teil der beschreibbaren Welt oder ein Gegenstand, wobei das neue Wort wie das alte nur ein weiteres Wort darstellt. Wir können dieses Spiel immer weiterführen und werden selten bzw. nie ein Ende finden. Unser Denken benutzt Wörter, die etwas bezeichnen, um andere Wörter, die etwas bezeichnen, zu bezeichnen. Wenn wir also eine sogenannte Aussage machen wie ich bin ein Mensch, und das ist ein Wesen, das denkt und auf dieser Welt wandelt, benutzen wir Wörter, um ein Wort zu beschreiben. Da wir so aber immer im Relativen bleiben, können wir auch nur relative Aussagen machen. Relative Aussagen gelten aber nur in einem bestimmten Rahmen, den wir dann ebenfalls zu setzten haben, wobei wir auch hier immer in der Relation bleiben müssen. Zurückkommend auf die Ausgangsfrage können wir daher in der Relation viele Aussagen machen, im Absoluten aber  keine.

Was bin ich?
Wenn ich diese Frage beantworte und dabei etwas Mühe hineinlege, wir ein Satz herauskommen, der mich als Mensch begreift, ein Wesen, das sich aus der Masse der Wesen abhebt durch Eigenschaften und Fähigkeiten, die in dieser Formation nur dieser Gattung aufzufinden ist. Meist wird der Mensch in diesem Kontext beschrieben als bewusst, also als ein Wesen, das denkt und sich dieser Fähigkeit auch bewusst ist. Eine etwas kompliziertere, aber auch genauere Beschreibung würde lauten, das der Mensch ein Wesen ist, das denkt, sich dessen bewusst ist und sich dieses Bewusstseins auch  vergegenwärtigen kann, wobei das „kann“ ein wirkliches kann ist, Menschen können das, müssen es aber nicht und können es auch lassen, was, wenn man Mitmenschen genau beobachtet, auch oftmals genauso zu geschehen scheint. Ich bin also ein Mensch mit dieses Fähigkeiten und Anlagen. Und ich bin frei sie zu nutzen oder auch nicht.

Warum bin ich hier?
Jetzt und mit dieser Frage beginnt eine gewisse Spannung in die Fragestellungen zu geraten, denn hier  können, je nach Art, Tiefe  und Neigung der Betrachtung sehr unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Hier sind der Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt. Grundlegend unterscheide ich hier zwei Kategorien, wobei ich der Ersten eine Grundannahme anheimstelle und der Zweiten eine Grundannahme grundsätzlich verwehre. Diese Grundannahme stellt die Existenz einer Autorität oder Ursache nicht in Frage, die Absolut genannt werden kann. In unserer Alltagssprache heißt das dann Gott, Atman, das Universum, der Ursprung, das Schicksal, die Vorsehung oder ähnlich. Hier wird ein Absolutes zugrundgelegt, das außerhalb der Relativität unseres Denkens steht und Macht oder etwas Unabänderliches besitzt. Alle Religionen, nahezu alle Kulturen und Organisationsformen der Menschen besitzen ein solch Absolutes oder bestimmen einen oder etwas aus ihrer Mitte, um dieses Zentrum zu schaffen. Die andere Kategorie verzichtet gänzlich auf die Existenz oder Installation eines Absoluten und findet sich somit ab in der Ungewissheit des Relativen, wobei auch hier Regeln und Kulturformen entwickelt werden, die folgerichtig  als bewusst-relativ verstanden werden. Diese kategorische Form ist sehr schwierig zu beschreiben, da das Kreisen in der Relation andere Formen der Autoritäten notwendig macht. Als Beispiel der letzten Form seien der  Advaita Vedanta und der Buddhismus des Mahayana genannt. Unzählige Antworten gibt es also auf die Ausgangsfrage und es gelingt nicht, diese Frage zu einem Abschluss zu bringen. Sie bleibt offen und verlangt damit vom Fragenden eine Entscheidung, die immer wieder neu bekräftigt werden muss.

Habe ich hier auf der Welt eine Aufgabe zu erfüllen?
Nahezu alle Kulturen, Religionen und Ansichten in und über die Welt beantworten diese Frage mit ja, und im gleichen Kontext würde eine Antwort nein stets als eine krankhafte Geistesstörung angesehen. Was ist oder kann also Aufgabe eines Lebens sein. Da wir auch hier in Relationen denken müssen sind viele Antworten möglich. Die grundlegendsten davon beinhalten immer die Fortsetzung, den Erhalt der Art, des Lebens und damit der uns bekannten Welt. Es ist bezeichnend für diese Fragestellung, das eine Antwort nein auch das Erlöschen der Frage bedeuten würde. Setze ich die möglichen Rahmen der Betrachtung enger, könne eine Antwort möglich sein, das Leben auf der Welt zu verbessern (Hunger, Armut, Not abzuschaffen) oder über eine Öffnung und Weitung des Bewusstseins neue Möglichkeiten zu erschließen.

Was ist wichtig?
Diese Frage fragt nach einem Rahmen, in den ich künftige Entscheidungen einbetten kann und mir eine Hilfe dabei gibt, die mir Sicherheit vermittelt. Doch wie wir gesehen haben in der Argumentation oben, gibt es keine richtige, keine einzige Antwort auf diese Frage außerhalb der Relativität. Auch hier ist der Rahmen von mir selbst zu setzen, und innerhalb dieser Konfiguration dann sind Entscheidungen sicher möglich. Es gibt sehr weite Rahmen, sehr enge Rahmen, beide mit der Möglichkeit großer Autoritäten oder auch, wie in den bereits genannten Weltanschauungen, der Verzicht auf Setzungen. Wichtig auf jeden Fall ist die Annahme, dass unser Leben als Art erhaltenswert ist und weitergeführt sollte. Damit verbunden ist auch die Sorge um die Erde, die zumindest heute noch die einzig mögliche Lebenswelt darstellt. Wichtig wäre also zu leben, das Leben und somit auch die Erfahrungen und Wissen darüber weiterzugeben an künftige Generationen.

Wie wir bisher sehen konnten kreisen die Fragen nach dem Grund und der Gestaltung eines Lebens immer um die gleichen Punkte, und wie immer die Fragen auch umgestaltet werden, die möglichen Antworten handeln von sich wiederholenden  Motiven:

  • Meine Antworten können immer nur relativ gestaltet sein, benötigen eine Rahmensetzung
  • Solche Rahmen werden Weltbild, Religion oder Kultur genannt. Sie regeln das Zusammenspiel einzelner Wesen.
  • Wichtig erscheint einzig die Weiterführung der lebendigen Welt, die zurzeit nur auf diesem Planeten bestehen kann.
  • Wir haben auf jeden Fall eine Aufgabe.

In den grundlegenden Fragen gibt es nicht Gerechtigkeit, nicht definierte Besitzstände, nicht Macht, nicht Status und nicht Notwendigkeit. Was wir leicht erkennen können ist die übermächtige Wirksamkeit der fortgesetzten Relativität aller Annahmen und die Notwendigkeit, sich für seine Person zu entscheiden. Was wichtig wird, ist in welchem Rahmen ich leben möchte: selbstbestimmt oder aus einer Nicht-Entscheidung heraus, indem ich fraglos akzeptiere, was gerade so ist. Letzteres bedeutet, in eine Kultur und Religion hineingeboren zu sein, dort ein durchgeregeltes Leben zu leben ohne Wenn und Aber, ohne Fragen und … ohne Unsicherheit, denn genau diese Sicherheit ist ja der Kern jeder kulturellen Anbindung. Seltsam für mich ist, dass die meisten Menschen die letztgenannte Möglichkeit wählen. Wenn ich so in die Runde meiner Gespräche schaue geht es überwiegend um Status (wie denken andere über mich, und ich über andere), geht es um die Bewältigung des Alltags in einer Kultureinbettung, die nicht hinterfragt wird, geht es um Gerechtigkeit (andere haben etwas, was mir vorenthalten wird…), geht es um Besitz (Haus, Familie, Boot, Besitz) und nicht zuletzt um Macht (wer bestimmt, was jetzt und morgen Alltag ist und wird). Wie aber sollen Antworten oder Möglichkeiten von Antworten zu Fragen gefunden werden können, wenn die Basis, der Hintergrund und das Fundament nicht ausgeleuchtet wurden. Und daher möchte ich jetzt eine weitere grundlegende Frage einfügen, die aufgrund der letzten Zeilen doch unabkömmlich zu sein scheint: Sind die Rahmen und Rahmenentscheidungen, die ich einmal getroffen habe, über ein ganzes Leben gültig, und muss ich nicht, zumindest wenn ein neuer Abschnitt des Lebens bevorsteht (Entscheidung für Familie, für ein anderes Umfeld, für einen Ruhestand), diese nicht von Grund auf neu zu setzen? Und muss ich vor allen anderen Fragen nicht dabei wieder mit der allerersten Frage [2. Wer bin ich oder spekulativ: wer will ich sein?] beginnen.

Geht es mir und anderen weiterhin gut mit meinen Entscheidungen?
Für die neue Frage, die hier etwas knapper formuliert ist, benötige ich neue Kriterien der Beurteilung, neue Hilfestellungen und Karten, die aus dem Dickicht führen helfen. Anders ausgedrückt, müssen zu den Kriterien, die ich bisher zugrunde gelegt habe, neue hinzukommen, um die alten Rahmen und Entscheidungen überprüfen zu können und erweiternd, um neue Inhalte überhaupt auffinden zu können? Was könnten das für Kriterien sein?
Doch betrachten wir zunächst einmal ein paar mögliche Lebensabschnitte, die andere oder spezielle Rahmenentscheidungen benötigen. Als Kind sind wir, wenn es gut läuft, von Eltern umsorgt, deren Augenmerk darauf gerichtet ist, uns das nötige Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem ein Leben gestartet werden kann. Dann kommt die Zeit des Lernens, in der ich die Fähigkeit entwickle, in der mich umgebenden Welt zurechtzukommen und zu bestehen. Dann gründe ich eine Familie und erziehe und bilde den Nachwuchs aus, was die Aufgabe der Sicherung der Art konsequent verfolgt. Parallel dazu schaffe ich für mein Leben die Sicherheiten, die ich brauche, um gestaltend weiterzugehen und alt werden zu können. Und dann kommt der letzte Abschnitt, der Ruhestand. Wenn es gut läuft, sollte spätestens dann alles getan sein und das Leben sollte frei werden dürfen, denn die Aufgaben sind erfüllt, die Notwendigkeiten sind erledigt und die Sicherheiten sind gegeben. Muss der neue Lebensabschnitt, das sei zu bedenken, nicht aus diesem Grunde schon auf neue Fundamente, neue Rahmen gesetzt werden? Und welche Kriterien helfen bei der Neuausrichtung?

Wohin kann/wird mein Weg mich führen?
Der Ruhestand baut auf einer Einbettung in die kulturellen Sicherheiten auf, in der wir unser bisheriges Leben gestaltet haben. Da sind die Sozialkontakte, die mich einerseits unterhalten und die andererseits für die vielen kleinen Hilfestellungen notwendig sind, die für mich als älterer Mensch notwendig werden. Dann ist die materielle Sicherheit zu erwähnen, die mir ein unbeschwertes Leben ohne Not ermöglicht. Sind beide vorhanden, kann die Zeit mit sinnvollen, darunter durchaus auch nutzlosen Tätigkeiten und Ideen gefüllt werden. Dazu helfen die konventionellen Rahmenbeschreibungen nicht mehr weiter, es sei denn, man ignoriert den Beginn des neuen Lebensabschnitts und macht einfach weiter wie bisher. Haus und Garten pflegen, die Enkel versorgen und fernsehen ab dem frühen Abend würde ich in diesem Rahmen erwähnen wollen. Hat man sich aber mal mit grundlegenden Fragen beschäftigt, wird das einfach nicht ausreichen, um dem weiteren Leben Sinn und Fülle zu verleihen. Dann sind zumindest für mich die Fragen nämlich neu zu stellen, neu zu untersuchen, auf was denn das Leben beruht. Denn erst jetzt, in fortgeschrittenem Alter, wird für diese Sisyphus-Aufgabe genügend Zeit zu Verfügung stehen. Seit Menschengedenken sind es die Alten, die, von der Plage des Alltags entlastet, als Ratgeber der jüngeren Generationen fungierten. Ohne Aufgabe und offenen Auges durch die Welt schlendernd, sehend, wozu anderen die Zeit fehlt, fragend dort, wo andere durch Aufgabenerfüllung zu tief im Alltäglichen verstrickt sind, gelingt ihnen diese segensreiche Arbeit ohne Mühe, denn Zeit und Freiheit sind die grundlegenden Motive für das Gelingen von Weisheit, wie diese Gabe seit alters her genannt wird. Das Menschen weise sein und werden können scheint aus unserer Kultur fast vollkommen verschwunden zu sein. Das ist in meinen Augen ein großer Verlust, denn das Spezialistentum, das wir an seine Stelle gesetzt haben, mag zwar über reichlich Wissen und Systematik zu verfügen, aber Erfahrung haben diese gehetzten Menschen oft nicht, auch verfügen sie nicht über nutzlos verbrachte Zeit und schon gar nicht über die Freiheit, auch ungesetzte Gedanken verfolgen zu können.
So die Fragestellung verfolgend, komme ich jetzt wieder zu den Kriterien zurück, die zu dem Gedankengebäude geführt haben. Denn die Rahmenbedingungen, die möglich sind und die zu weiteren Aktivitäten und Öffnungen führen können, heißen Freiheit, Zeit haben und unbeschwert in den Tag hineingehen zu können sowie unbeschwert und ohne Ziel sein Denken vertiefen zu können. Das Ziel, kurz genannt, sei Weisheit. Das ist für mich die Aufgabe eines erfüllten Ruhestandes, die Tätigkeit im alt und frei sein. Um Weisheit zu entwickeln muss der Fokus auf das Leben, auf den neuen Tag, auf den Restbestand an Tagen sich ändern dürfen. Hierzu ist nicht „immer weiter so“ gefragt, sondern gefragt sind vielmehr anhalten, schauen, wirken lassen, offen bleiben und alles und jedes hinterfragen zu dürfen.
Ich für mich werde dieses Ziel verfolgen, wenn mein letzter Arbeitstag vergangen ist. Ich für mich habe vor, weise zu werden. Und wenn es denn gelingen sollte, sehe ich weiter und dann schreibe ich auch darüber, wenn Finger und Augenlicht dies noch zulassen. Und ich bin genauso gespannt auf das Ergebnis wie der Leser dieser Zeilen.  So stelle ich mir den Abschluss vor, den Lebensabend, und so werde ich ihn hoffentlich auch bestreiten!