Erwachsen-Sein

Ausgehend von den Ideen Wilber‘s (Meditation) und Pfaller‘s (Erwachsenensprache), die zumindest in der Thematik, was erwachsen zu sein bedeutet, weitestgehend einig sind, möchte ich hier kurz zu beschreiben versuchen, warum diese Systematisierungen zwar hilfreich sind, aber in meiner Anschauung auch einschränken, wenn sie allzu wörtlich, allzu systemgetreu gedacht oder sogar umgesetzt werden. Und es geht darum, was eigentlich Erwachsen-sein für mich und für andere bedeutet oder bedeuten könnte. 
Ich finde Systeme des Denkens und Seins, wie sie Wissenschaftler und Philosophen produzieren, äußerst hilfreich und nützlich. Wenn ich im Lesen und im Studium dieser Systeme versinke, finde ich immer und nahezu jederzeit das gerade zu verarbeitende System vollkommen logisch, umfassend und stimme mit dem Autor überein, dass er hier die absolute Beschreibung der Wirklichkeit gefunden habe. Mit etwas Abstand jedoch, spätestens beim Lesen der nächsten interessanten Lektüre, erkenne ich das zuvor als vollkommen angesehene System zunehmend lückenhaft, manchmal in der Ausprägung zu eng gedacht und in der Praxis zu starr konstruiert. Das System hakt dann bei neu eingebrachten Perspektiven und zeitigt keine einfachen Antworten mehr, sondern bedarf, um treffend zu bleiben, zunehmend Einschränkungen, gebiert Ausnahmen und fordert zu Gedankensprüngen auf, die wesentliche Teile des Besehenen ausgrenzen.
Ken Wilber beschreibt in seinem Werk über Meditation zwei Linien, denen die Entwicklung des Menschen folgt. Neben der Linie des Erwachsen-Werdens gibt es noch die Linie des Erwachens, wie sie verschiedenste spirituelle und religiöse Theorien seit Menschengedenken produzieren. Beide Linien gehen nebeneinander und doch ineinander verwoben durch die Zeit, und ich kann mit Abstand zum Gelesenen mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier durch diese Trennung (von Erwachsen und Erwachen) wieder genau der Dualismus produziert wird, der dem Denken des Abendlandes so eigen ist. Das betrachte ich nicht als Kritik und ist kein Vorwurf, sondern zeitigt wie alle Systeme nur die logische Einsicht, dass es viel zu viel Ungewusstes, zu viel nicht-entwickeltes und noch immer eingefaltetes Wissen gibt, als das ein System des Denkens auf alle vorstellbaren Perspektiven passen könnte.
Pfaller‘s Kritik des zeitgemäßen Erwachsen-Seins beschreibt vier Motive der Sprache, die mit den Farben Weiß und Schwarz und den Begriffen Wahrheit und Lüge beschrieben werden. Weiß sind dabei kulturell gewünschte und akzeptierte Aussagen, schwarz unerwünschte Aussagen. Wahrheit und Lüge als Gegensatzpaar werden hierbei erweitert um ein kulturelles Motiv. Er versucht damit die Entwicklung der Neuzeit in Worte zu fassen, die in Politik und Gesellschaft zunehmend solche Phrasen produziert, wie sie jeden Tag in den Veröffentlichungen zu lesen sind. Das sind Worte aus einer narzisstischen, kindhaften oder einer typischen Opferperspektive. Auch hier wird ein sehr enges System geschaffen, das viele dieser Motive zu beschreiben vermag, aber ebenfalls keinen Anspruch erheben kann, alle Perspektiven korrekt abdecken zu können.
Wie bereits geschrieben: Ich finde Systeme dieser Art sehr hilf- und lehrreich. Das empfinde ich deshalb, weil diese Systeme mich aufmerksam machen können auf bisher unberücksichtigtes, unhinterfragtes und meist falsch verstandenes Wissensgut. Wenn ich mich also mit einem solchen System beschäftige, ist es immer auch meine Aufgabe, mich einerseits voll einzulassen auf die darin beschriebene mir fremde Ideenwelt, andererseits aber aufzupassen, dass ich in dieser nicht verlorengehe und mich zu eigenständigem Denken weiterhin in der Lage sehe. Mit anderen Worten gesagt ist es die Aufgabe, nicht Anhänger zu werden, sondern mich im Lesen als eigenständig zu behaupten.
Was also ist die Aufgabe des Erwachsen-Seins?
Der oft gehörte und immer wieder neu interpretierte Leitspruch:
1. Verstehe, was zu verstehen ist;
2. Verändere, was veränderungswürdig ist;
3. Akzeptiere, was nicht veränderbar zu sein scheint;
4. Schaue morgen erneut nach, ob die Entscheidung von gestern noch gilt,
…hilft mir zumindest hier wie schon so oft weiter. Die entscheidende Neuinterpretation darin ist der vierte Satz, der aussagt, dass nichts als endgültig, alternativlos und festgelegt angesehen werden kann. Wir Lebewesen hier auf der Erde sind einem Entwicklungsprozess unterworfen, der nicht abgeschlossen ist. Auch wir Menschen entwickeln uns immer weiter, und wir sind noch lange nicht am Ende einer möglichen Entwicklung angekommen [1. Warum sollte sie gerade heute aufhören, wo sie sich doch seit Millionen von Jahren konstant entfaltet?] und wir wissen nicht, wo wir morgen, in hundert oder auch tausend Jahren stehen werden. Die Zukunft ist offen. Auch die Vergangenheit zeigte zu allen Zeiten Entwicklungen, und daher ist es Unsinn, Techniken und Praxen aus alter Zeit als abgeschlossen, voll entwickelt oder endgültig zu betrachten. Der sogenannte und weit verbreitete Fundamentalismus sowie unser aktuelles Wirtschaftssystem [2. Der Neoliberalismus, der sich selbst als alternativlos betrachtet und von maßgeblichen Vertretern aus so beschrieben wird: z.B. Angela Merkel], der ein einmal aufgeschriebenes System als „endgültig“ erklärt und daher die Entwicklung als abgeschlossen betrachtet, irrt hier meiner Ansicht nach gewaltig.
Als erwachsen betrachte ich daher einen Menschen, der sich verschiedenster Gedankenwelten aufgeschlossen zeigt und, wie schon Sokrates so schön formulierte, „weiß, dass er nichts weiß“. Nur ein solch offener Verstand ist und bleibt daher entwicklungsfähig. Seien wir ehrlich: Wir werden uns nicht zu Superkörpern entwickeln, die was auch immer für magische Kräfte entfachen können, wie uns viele Filme (SF) suggerieren wollen, sondern unsere Entwicklung wird sehr viel wahrscheinlicher in der fortschreitenden Ausformung des Geistes liegen. Dieser mag zwar manch körperlichen Zerfall und Ungemach künftig zu vermeiden wissen, aber allmächtig, allwissend, unendlich und allgegenwärtig werden wir als Lebewesen wahrscheinlich nie sein können.
Erwachsen sein ist für mich daher der Wille und die Einsicht, sich als Mensch weiter entfalten zu müssen: innerlich, äußerlich, gesellschaftlich und gerne auch kosmisch. Es gibt für mich hier wirklich keine andere Aufgabe. Aufzugeben ist hierbei die Illusion, bereits an einem Ende angekommen zu sein, fertig zu sein und sich ausruhen zu dürfen. Das Leben geht weiter, solange es lebt, und daher ist auch lebenslang eine Entwicklung möglich und wir wissen nicht, wohin diese führen wird. Bereits morgen könnten fremde Lebewesen auf unserem Planeten erscheinen und uns ganz neue Perspektiven aufzeigen. Bereits morgen kann es Entdeckungen und Erfindungen geben, die ganze Zivilisationen zu verändern vermögen. Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Das ist für mich und mein Denken Hoffnung und Ernüchterung, die schnell zu Demut gerinnt, zugleich, Aufgabe und Losung meines Lebens. Die Richtung ist vorwärts, ist sich zu entfalten, weiterzugehen, und nicht stehenzubleiben, oder gar zurückzublicken und lange zu fragen: Warum habe ich nur… oder: So ist das eben, oder…
Es gibt genau betrachtet, und da bin ich Fundamentalist, keinerlei Alternative zum Vorwärtsschreiten. Alles fließt, hieß es einst, und nichts ist so konstant wie die Veränderung. Es geht im Leben darum, wach zu sein und wach zu bleiben. Alles andere wäre nur den Tod vorauszuleben! Daher lebe ich nach Möglichkeit beobachtend in dieser Welt, und Ziel der Beobachtung ist nicht nur mein Körper, sondern auch mein Geist, wobei letzterer nicht nur aus Denken und Fühlen, sondern auch aus Verstehen, Phantasieren, Idealisieren und der Fähigkeit, etwas zusammenzureimen sich zusammensetzt. Da wird es sicher Rückschläge, Unfälle und Stürze geben, aber es ist doch auch interessant, sich danach erneut aufzuraffen, sich von mentalen Verletzungen zu heilen und erneut aufzustehen, um weiterzugehen, immer weiter, bis die allerletzte Erfahrung uns… ja, wohin eigentlich, …führt.