Vedanta vs. Buddhismus?

Ist Vedanta wirklich das Ende des Denkens? Nicht wenige auf dieser Welt sind ja der Ansicht, dass der Materialismus mit seiner Gewohnheit, alles zu differenzieren und zu zerteilen die Grundlage allen Übels sei. Diesen gibt und gab es nicht nur in Europa, sondern auch und schon sehr früh auch im asiatischen Raum. 

Und so wird proklamiert, dass die Aufhebung der Vielheit und die Rückkehr zum Einen die Lösung aller Probleme darstellt. Erst verschleppten Mönche ihr neues Wissen in die Wälder, dann versuchten Buddha und Shankara diese Denkweise wieder den Menschen nahe zu bringen.[1. Der Materialismus aber, der vor Buddhas Erscheinen vorherrschte, war eine ganz rohe Art von Materialismus, der lehrte. „Iss, trink und sei fröhlich; es gibt weder Gott, noch Seele, noch Himmel, und Religion ist eine Erfindung verruchter Priester. Versuche glücklich zu leben, so lange du lebst; iss, auch wenn du das Geld dafür borgen musst und mach’ dir keine Sorgen wegen des Zurückzahlens.“ Das war die Moral jenes alten Materialismus, und diese Art der Philosophie fand eine solche Verbreitung, dass man sie auch heute noch die „populäre Philosophie“ nennt. (Vivekananda)]

Sie kann leicht in einen Satz zusammengefasst werden: Alles ist Eines. Und dies mit der Konsequenz, dass es ein Zweites neben dem Einen nicht geben kann.[2. Die Vedanta-Philosophie betrachtet das empirische Wissen als Nichtwissen. Dem wahren Wissen enthüllt sich die Vielheit der Dinge und Individuen als Schein, als Illusion (Schleier der Maja).In Wahrheit existiert nur das Eine, das göttliche Allwesen, das Brahman. Die Welt ist nichtig, wesenlos (Akosmismus), keinesfalls eine Emanation des Göttlichen. Das Brahman ist ewiges, unwandelbares, reines Sein, übersinnlich, immateriell. Die Körperwelt ist ebenso Schein wie die Welt der einzelnen Ichs, die nur in der Erscheinung verschieden, an sich aber eins, das göttliche Selbst (Atman) sind. Es wird also ein monistischer Pantheismus gelehrt. Höchstes Ziel ist die, alle Seelenwanderung, alle Wiedergeburt (mit den Folgen des früheren Lebens, dem Karma) aufhebende Eins-Werdung mit dem Einen. (Vivekananda)]

Was aber bedeutet das:  Es gibt nur Eines!? Was dir gehört, gehört auch mir. Ich könnte es dir wegnehmen und dabei ein Vedantin sein oder ich könnte zu der Ansicht gelangen, dass das ja nichts nutzt, da dein Schmerz über den Verlust ja auch mein Schmerz sein wird und dabei Vedantin sein. Auch hast du einen  Schmerz darüber, dass ich nicht habe, und daher wirst du mit mir teilen wollen.  Ich könnte allerdings auch mein Nicht-Haben als Illusion verklären und mich freuen, das du hast und mir vorstellen, auch zu haben, da du und ich ja Eines sind, und dabei Vedantin sein. Die Schlussfolgerung aus dem Beispiel, so profan wie es auch sein mag, könnte wie folgt aussehen:

Vedanta funktioniert scheinbar nur dann, wenn alle Menschen dem Vedanta-Gedanken angehören. Ein Vedantin in einer Welt voller Materialisten wird wahrscheinlich ein Leidender oder Nur-Gebender sein. Der einzige Ausweg daraus ist das Bilden einer Gruppe Gleichgesinnter, die sich nach außen abschließt und die sich selbst versorgt (Kloster). Selbst in naturwissenschaftlichen Worten erläutert Wissenschaftler wie der Physiker Schrödinger diese Problematik gerne und kommen auch nur zum Schluss, es gäbe nur ein „entweder / oder“.[3. Der Grund dafür, dass unser fühlendes, wahrnehmendes und  denkendes Ich in unserm naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auftritt, kann leicht in fünf Worten ausgedrückt werden: Es ist selbst dieses Weltbild.  Es ist mit dem Ganzen identisch und kann deshalb nicht als ein Teil darin enthalten sein.  Hierbei stoßen wir freilich auf das arithmetische Paradoxon: Es gibt scheinbar eine sehr große Menge solcher bewussten Iche, aber nur eine einzige Welt.  Das beruht auf der Art der Entstehung des Weltbegriffs.  Die einzelnen privaten Bewusstseinsbereiche überdecken einander teilweise.  Der ihnen allen gemeinsame Inhalt. in dem sie sich sämtlich decken, ist die „reale Außenwelt“.  Bei alledem bleibt aber ein unbehagliches Gefühl, das Fragen auslöst wie: Ist meine Welt wirklich die gleiche wie die deine? Gibt es eine reale Welt, verschieden von den Bildern, die auf dem Weg über die Wahrnehmung in einen jeden von uns hineinprojiziert werden? Und wenn es so ist, gleichen diese Bilder der realen Welt, oder ist diese, die Welt „an sich“, vielleicht ganz anders als die Welt, die wir wahrnehmen? Solche Fragen sind sehr geistreich, aber nach meiner Meinung sehr dazu angetan, in die Irre zu führen.  Es gibt keine angemessene Antwort auf sie.  Sie sind durchweg Antinomien oder führen auf solche, und diese entspringen aus einer Quelle, die ich das arithmetische Paradoxon nenne: den vielen Bewusstseins-Ichen, aus deren sinnlichen Erfahrungen die eine Welt zusammengebraut ist.  Die Lösung des Zahlenparadoxons würde alle solche Fragen beiseiteschaffen und sie nach meiner Überzeugung als Scheinprobleme entlarven. Aus diesem Zahlenparadoxon gibt es zwei Auswege, die beide vom Standpunkt unsres heutigen naturwissenschaftlichen Denkens (das sich auf altes griechisches Denken gründet, also rein westlich ist) reichlich unsinnig aussehen.  Der eine ist die Vervielfachung der Welt in Leibniz’ schrecklicher Monadenlehre, in der jede Monade eine Welt für sich ist, es ist keine Verbindung zwischen ihnen.  Die Monade „hat keine Fenster“, sie ist „incomunicado“.  Dass sie dennoch alle miteinander in Einklang sind, nennt man die „prästabilisierte Harmonie“. Es gibt wohl nur wenige, denen diese Lösung zusagt oder die darin auch nur eine Milderung des Problems der numerischen Antinomie erblicken. Offenbar gibt es nur einen anderen Ausweg: die Vereinigung aller Bewusstseine in eines.  Die Vielheit ist bloßer Schein; in Wahrheit gibt es nur ein Bewusstsein.  Das ist die Lehre der Upanishaden, und nicht nur der Upanischaden allein.  Das mystische Erlebnis der Vereinigung mit Gott führt stets zu dieser Auffassung, wo nicht starke Vorurteile entgegenstehen; und das bedeutet: leichter im Osten als im Westen.]

Können  Sie Erläuterungen wie die von Schrödinger verstehen? Viele einzelne Bewusstseine stehen gegen ein einziges Bewusstsein?  Ist diese Gegenüberstellung nicht das Gleiche in Grün wie am Ausgangspunkt schon, nur  in wissenschaftlichen Zinnober gekleidet, aber doch nicht wirklich beantwortet, nur so undeutlich und überflügelnd formuliert, das man erschrocken und erstaunt erst einmal zustimmt aus Angst, sich durch Unwissenheit und Unverständnis zu blamieren?

Die hier geschilderten Weltbilder (Materialismus, Vedanta) erscheinen zunächst wie unvereinbare Gegensätze. Und doch möchte ich behaupten, dass sie so fremd sich nicht sein können, da sie sich doch in ihrer Lebensweise so ähnlich sind:  Beide horten nicht, der eine aus Genussgründen (jetzt genießen, weil morgen könnte es zu spät sein), der andere aus Mitgefühl; da es immer Bedürftige gibt, beide leben das Jetzt und Hier aus selbigen Gründen und beide hängen nicht, zumindest aus der theoretischen Anschauung heraus, am Leben. Warum also ist unvereinbar, was doch in seinem Ergebnis so gleich daherkommt? Stimmt es wirklich, dass jede Handlung sich nur aus ihrem Motiv heraus wertet? Ist Handeln an sich nicht schon egoistisch? Und ist Nicht-Handeln angesichts der Welt nicht auch egoistisch?

Bedingen sich so der beschriebene grobe Materialismus und Vedanta, die zu ihrer Hoch-Zeit ja immer erbitterte Gegner waren, gegenseitig?  Bilden sie vielleicht Pole, in deren Vereinigung sich die Wahrheit des Seins offenbaren kann, so der Sehende zu sehen bereit ist? Könnte so sich eine geschlossene Sichtweise bilden, die Materialismus mit Vedanta vereint? Oder sind all die Fragen, die Ausgangspunkte und die Zielvorstellung nicht schon vollkommen falsch gewählt? Vergleichen wir hier vielleicht Äpfel mit so etwas wie einer Rasierklinge?

Tatsächlich muss doch die Frage heißen und sich mit der noch immer offenen Anwort beschäftigen, wer oder was und wieso wir sind und  was wir sind oder zu sein scheinen. Und wir haben bis zum heutigen Tag darüber nur Theorien und Ableitungen zu bieten, die auf irgendeinen Grundstock sich aufbauen, der meist in einer dogmatischen Grundanschauung mündet. Da gibt es dann eine Moral und eine Ethik, da gibt es eine Dogmatik und eine Dialektik, manch krude Theorien und Glaubensvorstellungen, Sichtweisen und Perspektiven und welche anderen Ideen noch genannt werden könnten. Tatsache ist, das keines dieser durchformten und geadelten Theorien auf  lange Sicht hinweg einer Hinterfragung standhalten wird. Und genau das nämlich ist wirklich ein Fakt. Wir wissen es einfach nicht und daher sollten wir auch nicht darauf bestehen, irgendwie Recht haben zu wollen.

Im Gegensatz zum Vedanta und dem asiatischen Materialismus geht der Buddhismus einen anderen und weniger ausgetretenen Weg. In all seinen Formen und Ausschmückungen steht er doch immer auf der Basis des „wir wissen es nicht“, und er gibt daher keine besonderen, keine festen Leit- und Glaubenssätze heraus. Der von Buddha, Nagarjuna und vielen anderen beschriebene Grundstock ruht stets darauf, dass der Mensch wie alle anderen Wesen immer nur seinen eigenen Weg gehen kann, einen Weg, der stets und wieder hinterfragt werden muss. Glaube nicht, wisse nicht, sondern gehen deinen Weg, den eigenen Erfahrungen folgend immer weiter und entscheide stets neu, an jedem Tag, in jeder Stunde, das ist die Grundlage des Buddhismus. Sie nannten das daher den mittleren Weg, dessen konträre Eigenschaften nicht „richtig oder falsch“, sondern „heilsam oder unheilsam“ sind. Vermeide das Unheilsame, suche das Heilsame und folge dem sich daraus abzeichnenden Weg. Dazu gehört, des Öfteren mal stehen zu bleiben und zu schauen, sich so selbst und die Welt drum herum wahrzunehmen und dann neu zu entscheiden. Buddhismus ist daher von der Grundidee her keine Religion, keine Wissenschaft und keine Philosophie, da diese immer entweder feste Dogmen oder feste Grundannahmen voraussetzen. Buddhismus in seiner Grundidee ist einfach nur das Zeigen eines Weges aus dem Leiden heraus, das immer aus der Unsicherheit des Lebens entsteht, wenn dieses sich nicht weiter entfalten kann. Die Lehre der Entfaltung, des Wachstums im Geiste, der Evolution des Lebens, welche sich ungehindert in den leeren Raum ergießen, sich öffnen, sich  weiten und zu dem Licht entwickeln, aus dem Sehen und Wissen und in der Folge große Sicherheit wachsen können, das ist die Grundidee des Buddhismus, und dabei es ist gleich, welche Prägung  [4. Theravada, Mahayana, Hinayama, Tibetisch] dieser sich auch gibt. Beten kann heilsam sein, ein Opfer gestalten kann heilsam sein, glauben kann heilsam sein, singen, tanzen können heilsam sein und selbst dem Zweifel kann noch eine heilsame Wirkung innewohnen. Die Frage ist doch, ist es jetzt und hier und für mich heilsam, ist das, was ich jetzt will und jetzt  tun werde, für andere heilsam, und nicht, „ist es für alle Zeit richtig oder falsch“. Auch das Heilsame verändert sich, wächst und entwickelt sich, ist einer Evolution unterworfen, kann morgen schon ganz anders sich gestalten wie heute noch. Was einzig unveränderlich sich zeigt ist der leere Raum, in den jedes Leben und Gestalten sich ergießt. Die Religionen nannten es Schöpfung und schrieben das einem außenstehenden, übermenschlichen Wesen zu. Im Buddhismus würde es anders heißen:  schöpfen (unendlich und unbegrenzt). Wir Menschen sollten das begreifen lernen und die Chance sehen, mit der Entfaltung der Welt auch sich selbst zu befreien. Freiheit im Geiste ist, ohne Grenzen und ohne Halt zu sein, und diese Bedingung erfüllt einzig der leere, unendliche Raum, in dem es weder ich noch du noch Welt zu geben braucht.

Sind wir, fragt der Buddhismus, also in der Lage, freien Geistes im Körper eines Menschen zu sein und dabei das Leben sich immer weiter schöpfen zu lassen und dabei dieser Entfaltung nicht immerzu im Wege zu stehen? Sind wir in der Lage, das bereits Geschöpfte zu lassen wie es ist und das noch Ungeschöpfte bedingungslos sich entfalten zu lassen? Können wir die Kontrolle aufgeben, die Angst überwinden, den Stolz zurückfahren und uns weiten, um uns über alle Grenzen hinaus ins unendlich Ungewisse vorzuwagen?