Der freilebende Hirsch ist ein Vorbild/Symbol für Aufmerksamkeit. Während seines ganzen Tages sondiert er die Umgebung und reagiert bei der geringsten Möglichkeit einer Bedrohung oder Störung.
Das Wort „Aufmerksamkeit“ bedeutet doch in seiner Wortfülle, das ich plötzlich (Auf…, wie bei Aufschrei) etwas zu Merken verspüre, und dieses Merken wie ein Baum aus seinem Samen, der für mich nicht (…sam…) bewusst anwesend war, hervor sprießt. Und die letzte Silbe mach dieses Geschehen zu einem Substantiv, einem Hauptwort. Ich könnte im übertragenen Sinne also sagen, das da plötzlich aus dem Nichts ein Baum hervor kommt, von dem ich zuvor keinerlei Ahnung hatte und mich spontan berührt.
Was sagt Wikipedia.de zu Aufmerksamkeit:
Aufmerksamkeit ist die Zuweisung von (beschränkten) Bewusstseinsressourcen auf Bewusstseinsinhalte. Das können z. B. Wahrnehmungen der Umwelt oder des eigenen Verhaltens und Handelns sein, aber auch Gedanken und Gefühle. Als Maß für die Intensität und Dauer der Aufmerksamkeit gilt die Konzentration. Aufmerksamkeit, die auf das Eintreffen bestimmter Ereignisse gerichtet ist, bezeichnet man als Vigilanz.
Wenn unsere Wissenschaften dieses Wort als Zuweisung von Ressourcen auf Bewusstseinsinhalte beschreiben, haben sie wohl nicht verstanden, warum das „Auf…“ am Anfang steht und haben ihre Definition wohl von der englischen Bedeutung von „attention“ abgeleitet, was so für heißt wie „Aufgepasst, jetzt geht es gleich los…“1, es ist ja heute auch in der Wissenschaft Gang und Gebe, sich aufs Englische zu beziehen. Ich finde das schade, da die deutsche Sprache, die früher mal die Sprache der Wissenschaften war, dabei viel an Variationen verliert. Auch wird die Silbe „…sam…“ im Text der Definition seinem Inhalt nicht gerecht. Eine Zuweisung ist immer gewollt, getan oder beabsichtigt, kommt also nicht wie der Baum aus dem Samen ganz unerwartet hervor. Auch ein auf Wahrnehmungen oder eigenes Verhaltet gerichtetes Beobachten ist doch wohl nur möglich, wenn sich das Denken in das Geschehen eingeschaltet hat und bereits Namen und Ziele gebildet wurden. Bei Gedanken und Gefühlen ist das ebenso nur unter Einbeziehung des Denkens möglich, da Gefühle und Gedanken ebenso interpretiert werden müssen, um ins Bewusstsein treten zu können. Und zu guter Letzt auch noch bewusst auf bestimmte Ereignisse sich zu richten ist bestimmt nicht Aufmerksamkeit, sondern tatsächlich Konzentration. Und Konzentration als Maßeinheit für Aufmerksamkeit zu betrachten, ist wohl nur ein Ausdruck von verbohrtem Materialismus, der nur noch Substanzen kennt und sie als Einheiten von Etwas zu akzeptieren bereit ist. Vigilanz, wenn als „leere Wachheit“ definiert, was nicht üblich ist, würde ich aber noch stehen lassen können, obwohl diese für mich eher eine Voraussetzung zur Aufmerksamkeit ist als eine Folge. Also so wie oben definiert geht Aufmerksamkeit für mich gar nicht. Das ist Unsinn.
Wie bereits geschrieben ist eine leere Wachheit eine Voraussetzung für Aufmerksamkeit. Und das heißt doch wohl, nicht in Gedanken versunken, verwickelt oder eingebunden zu sein. Wenn ich zum Beispiel am Tisch mit Freunden sitze und plötzlich ohne jede Vorwarnung ein Glas umgeworfen wird, dann auf die Tischkante zu rollt und ohne Zeitverzug und bewusste Steuerung meine Hand nach unten schießt und das Glas auf halber Fallhöhe aufzufangen in der Lage ist, dann war ich wohl aufmerksam. Da gab es keine Zuweisung, keine Entscheidung, keine Konzentration oder sonst irgend etwas dieser Art. Das ich das Glas gefangen habe, wurde mir erst bewusst, als es schon in meiner Hand lag und der Schreck darüber mir in die Knochen fuhr.
Jon Kabat-Zinn, der Pionier der Achtsamkeitspraxis in der westlichen Welt, beschreibt Achtsamkeit als: eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit, die absichtsvoll, im gegenwärtigen Moment und nicht wertend ist.
Im Buddhismus war lange Zeit Aufmerksamkeit die gebräuchliche Übersetzung für die siebte Stufe des achtfachen Pfades. Heute übersetzt man das gerne als Achtsamkeit, weil Aufmerksamkeit zu viele andere Bedeutungen gewonnen hat. Und es müsste daher heißen: Rechte Achtsamkeit bzw. recht Aufmerksamkeit oder rechtes Bewusstsein ist die siebte Stufe des achtfachen Pfades. Aber wie schon angedeutet, das alles sind Wortspielereien.
Achtsam zu sein ist für mich keine Form, die ich einnehme. Und sie setzt auch nicht Aufmerksamkeit oder leere Wachheit voraus. Aufmerksamkeit, leere Wachheit und Achtsamkeit sind nicht voneinander verschieden, sondern untrennbare Anteile einer Haltung, zu der sowohl Menschen als auch alle sinnesbegabten Tiere fähig sind. Diese Haltung denkt im Moment ihres Seins nicht unter Verwendung von Namen, Ereignissen oder Vorstellungen, sondern stellt sich einfach nur als ein waches Da-Sein dar, bei dem so viel Platz im Fenster der Wahrnehmung bleibt, das ein Auf-Merken möglich ist. Und wenn das geschieht, praktisch sozusagen aus dem Nichts heraus und ohne Denken, Nachdenken oder gar Planen zu müssen eine Reaktion geschieht. Diese Reaktion aus dem Nichts heraus ist so etwas, was man in der Sportphysiologie gerne als „variable Verfügbarkeit“ 2 kennt. Nur ist hier nicht eine Bewegung, sondern die allgemein gültige und sinnvolle „richtige“ Reaktion (z.B. Scherben/Glasbruch vermeiden…) unter Ausschluss von Absicht und Ziel variabel. Ich kann daher für mich sagen, das ich im oben beschriebenen Zustand mich unter den Aspekten Wachheit, Achtsamkeit und/oder Aufmerksamkeit beschreiben kann, meine dabei aber immer das Selbe. Achtsam-Sein ist nämlich immer wach und aufmerksam, Aufmerksam-Sein ist immer wach und achtsam, und „in leerer Wachheit-Sein“ ist immer aufmerksam und achtsam. Die Worte unterschiedlich zu verwenden ist für mich erst dann sinnvoll, wenn der Zustand, den ich beschreibe, eben nicht (mehr) die oben beschriebene Haltung ist. Zum Beispiel kann ich einem müden Krieger zurufen: „sei und bleibe wach“. Oder ich fordere einen Autofahrer, der gerne mal die grüne Ampel nicht bemerkt, auf: „sei aufmerksam“. Oder ich ermahne einen Freund, der mit Mitmenschen gerne mal rüpelhaft umgeht, auf: „sei achtsam“ im Umgang mit Menschen. In der Beschreibung von Meditation, Yoga und anderen spirituell wirksamen Praktiken kann sowohl das erstgenannte als auch das letztgenannte gemeint sein, je nachdem, ob ich eine wache/aufmerksame/achtsame Haltung detektiere oder ich das erkenne, was ich zuvor als müde, dösig oder unachtsam beschreiben habe.
- Besser wäre meiner Ansicht nach der englische Begriff mindfullness (Geistesgegenwart) für Achtsamkeit oder auch Aufmerksamkeit. ↩
- Variable Verfügbarkeit äußert sich im beständigen Erreichen von Handlungsziel bzw. -ergebnis auch unter schwierigen, ungewohnten, mitunter ständig wechselnden Bedingungen, die beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem sportlichen Gegner oder durch unterschiedliche Einflüsse des Umfeldes entstehen können. Variabel verfügbare Bewegungen zeichnen sich durch ein bestimmtes Maß veränderlicher Bewegungscharakteristika und durch Stabilität der ergebnisbestimmenden Bewegungsparameter bzw. -relationen aus. Spolex.de ↩