Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Unentschiedenheit

Die Wahl der Verwendung setzt also voraus, das ich zunächst einmal eine Haltung erkenne oder nicht. Und erkenne ich eine Haltung, so ist noch nicht gesagt, ob sie wach… ist. Ich erkenne das auch nicht daran, wie sie aussieht oder sich anfühlt, sondern daran, was im Moment jetzt und hier geschieht. Bin ich fähig, spontan und aus dem Nichts heraus das richtige zu Tun, dann bin ich wohl wach/aufmerksam/achtsam gewesen. Ich erkenne das aber immer erst nach einem Ereignis und hatte mir darüber weder Gedanken, Pläne oder Vorgaben gemacht und war auch gar nicht vorbereitet, war also unentschieden im Sinne von nicht-vorgeprägt-sein, offen und daher fähig, spontan zu sein.

Um das letztlich zusammen zu fassen gibt es für mich zwei unterschiedliche Formen von Aufmerksamkeit: Da ist die gewöhnlich im Alltag gebräuchliche Form, die mit dem Zuruf „Hallooo…“ eingefordert wird und dann gibt es Aufmerksamkeit im spirituellem Sinne, wie sie für die Meditation Verwendung findet. Letzteres findet zum Beispiel Anwendung in der Technik der Vipassana- oder Zen-Meditation. Hier ist Aufmerksamkeit gleichzusetzen mit Achtsamkeit oder „Leerer Wachheit“, ist also mehr eine innere Haltung als ein Tun. Eine innere Haltung ist aber nicht einstellbar, erreichbar durch… oder eine Technik der Konzentration, sondern ein Sich-Befreien von Störungen des denkenden Systems wie zum Beispiel planen, nachgrübeln, Sorgen wälzen und dergleichen.

Exkurs: Unter Unentschiedenheit, die ich bisher in fünf unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten versucht habe, fallen so Neigungen wie „keine vorgefassten Sinn im Leben zu verfolgen“, in der Meditation weder etwas zu erwarten noch zu beabsichtigen, weder einem Glauben noch einer anderen Dogmatik zu vertrauen noch eine Technik, ein Rezept oder ein vorgegebenen Konzept anzuwenden, sondern als Mensch vollkommen frei und spontan zu agieren, wie das auch in der Achtsamkeit, der leeren Wachheit oder der Aufmerksamkeit geschehen wird.

Wir haben in unserer Kultur die Neigung, alles, was ein Leben ausmacht, in vorgezeichneten Bahnen zu sehen, teils, weil sich diese aus der Religion ergeben, sich aus der als erkannt vorausgesetzten Weltsicht zwingend anbieten und/oder weil wir gewohnt sind, den Dingen prinzipiell auf den Grund zu gehen. Wir fragen nach dem Warum, dem Woher, dem Wieso und dem Weshalb und haben daher oft keine Zeit, dem Ist zu begegnen. Wenn ich dann aber die Frage stelle, wozu denn diese Voransichten und Hintergrundsichtweisen gut seien, ernte ich stets verwirrte Blicke: „Aber wir müssen doch wissen, was…“ und „erkennen, warum das so ist…“ und „woher das kommen mag, was…“. Ja schon, sage ich dann, aber „muss das gerade jetzt im Vorfeld von… geschehen“, wo die Problemstellung doch akut ist und es gefordert wäre, spontan das Richtige zu tun. Verhindert dieses Herumfragen gerade nicht die Spontanität, die intuitive Intelligenz, die gerade jetzt so hilfreich wäre? Wenn das Glas die Tischkante verlassen hat, ist es schon längst zu spät, nach dem Warum zu fragen. Hier kann nur der noch reagieren, der zumindest etwas Platz in seinem Bewusstsein frei gelassen hat, um direkt reagieren zu können, der einen unbestimmten Teil seines Wesens dem „Ist Jetzt und hier“ überlassen hat, einem Anteil also, der unentschieden bleibt. Ich bin häufig mit Menschen konfrontiert, die sozusagen ständig ihren Bewusstseinsstrom auf eine Handlung ableiten, sei es der Mund, der unaufhörlich redet und die Themen wechselt, sei es zu einem Gehen irgendwohin, wo etwas Belangloses und Unwichtiges erledigt werden muss. Und dieser Impuls entsteht zum Beispiel mitten in einem Gespräch, wo leere Wachheit erforderlich wäre, um zuhören zu können. Wenn ich doch über etwas nachdenken möchte, suche ich einen Schutzraum auf, der mich für eine Dauer in die Lage versetzt, konzentriert einem Gedankengebäude zu folgen, ohne gestört zu werden. Wenn ich ein Gespräch führe, möchte ich doch erkennen können, was der Gesprächspartner denkt über das Thema, das wir gerade beackern. Da sind doch Alltagstätigkeiten, Wechsel zu anderen Themen oder gar eine beschreibende Versunkenheit in meinen Gedankenstrom gar nicht gefragt. Und wenn ich für das Gespräch gerade keine Worte finde, die zu einem Ergebnis führen, dann sage ich doch: „Ich denke darüber nach…und melde mich, wenn…“ oder werde ganz still, um erkennen zu können, ob da etwas aufsteigt oder hervor kommt aus meinem Inneren, was einer Lösung nahe kommt.

Was ist eigentlich so schlimm daran, zu sagen oder zu denken: Ich weiß es nicht. Was ist so schwierig daran, solange Unentschieden zu bleiben, bis Entschiedenheit gefragt ist? Und was spricht dagegen, zugeben zu können, das wir sehr viele Fragen gar nicht werden beantworten können. „Was ist Leben?“ ist so eine Frage, „Woher kommen und wohin gehen wir?, und „Wie werde ich glücklich?“ und „Was ist richtig?“, und „Was ist gesund?“, und „Was ist spontan?“ und so weiter und so weiter. Ich bin als Mensch mit einem begrenzten Auffassungsvermögen ausgestattet. „Ich kann nicht alles…“ ist der somit richtige Anfang einer Antwort auf viele solcher Fragen und das sollte ergänzt werden durch „Ich gebe mir Mühe…, aber…“. Mehr kann ich nicht tun. Daher plädiere ich in vielen Fragen für den bewussten Einsatz der Unentschiedenheit und vertraue mehr auf meine mir selbst unbewusste (?) Intelligenz, die sich oft, aber auch nicht immer dann als Intuition zeigt, wenn ich bereit bin „still zu sein“.

Ein weiteres Problemfeld, mit dem ich nicht konform gehen, ist die Fragestellung nach den logischen Prinzipien, du uns durch die Kultur vorgegeben werden. Ich habe den Eindruck, das wir mehr und mehr auf einfachste logische Prinzipien wie „entweder… oder…“ ausgerichtet sein sollen. Das ist nachweislich ein sehr bescheidener Spielraum, wie ich finde. Da gäbe es noch das „sowohl… als auch…“, das „weder… noch…“ und auch das „…ist gerade jetzt nicht wichtig…“ oder auch „die Frage stellt sich mir nicht“ und/oder „das … möchte ich prinzipiell nicht angehen/wissen müssen.“ Und auch frage ich mich, warum ich eine einmal geäußerte Ansicht/Meinung nicht ändern darf? Bin ich ein Leben lang verantwortlich für jeden schwachen Moment der Vergangenheit. Sicherlich kann man das nicht auf alle Themenkreise anwenden, auf geäußerte Meinungen aber schon. War, wenn ich im christlichen Kontext sprechen darf, nicht Petrus ein Verbrecher, bevor er „Erleuchtung“ fand und heute Namensgeber ist für den Vertreter Gottes auf Erden? Er hat seine Ansicht geändert. Und? Das kann jedem passieren, oder etwa nicht? Auch diese Beobachtung spricht für die Verwendung der Unentschiedenheit, zumindest nach außen hin. Bleibe ich unentschieden, werde ich nicht festgenagelt werden können. Und? Was machen der Mob und die Zugehörigkeitsfanatiker jetzt, die stets nach entweder/oder fragen? Sie sind verwirrt, nehme ich an, und vielleicht begreifen sie jetzt zu ersten Mal, das es eine dritte Möglichkeit zu geben scheint, von der sie keine Ahnung hatten.

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