Das Problem der Übersetzung an sich
Viele Meditationsweisen, die heute im Westen modern und beliebt sind, entstammen einem östlichen Kulturkreis. Nur wenige Europäer haben aber das Glück, bei oder mit einem Meister zu üben. Die meisten sehen ihren oder einen Meister nur ein- oder zweimal im Jahr, und dann auch nur als Mitglied einer sehr großen Gruppe. Häufigstes Lehrmittel ist und bleibt daher die Schrift oder das Buch, und genau hier beginnen die Schwierigkeiten der Übertragung von einem Kulturkreis zum anderen. Weiterhin entstammen viele Schriften nicht nur diesem anderen Kulturkreis, sondern stammen zusätzlich noch aus einer anderen Epoche und sind meist mehrfach aus nicht mehr gesprochenen Sprachen übersetzt. So entstammt zB. die Bhagavat Gita dem brahmanischen Kulturkreis Indiens aus einer Epoche vor dem Buddhismus, als also die Brahmanen noch nicht über die Machtfülle verfügten, die sie in späteren Jahrhunderten besaßen. Die Kriegerkaste herrschte in dieser Zeit, und der Brahmane war nur Priester und der Armut verpflichtet. Die Originalsprache ist Sanskrit, und zwar das Sanskrit der damaligen Zeit. Jeder indische Philosoph oder Meister von Bedeutung hat diese Schrift in eine lebende Sprache übertragen und schreibt zu diesem Originaltext Kommentare oder Interpretationen, die natürlich von seiner Persönlichkeit gefärbt sind. Für einen heute lebenden Deutschen ist diese Schrift dann in der Übersetzung aus dem englischen erhältlich. Als mögliche Hauptfehlerquellen schleichen sich ein:
- Übersetzung aus Sanskrit ins Englische
- Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche
- Das Problem des kulturellen Hintergrundes
- Verständnis einer nicht gesprochenen, nicht lebenden Sprache
- Verständnis einer längst vergangenen Epoche
- Interpretationen jedes an der Übersetzung beteiligten Autors
Doch damit nicht genug. Die Übertragung aus der indischen in die europäische Kultur bietet eine Fülle von weiterführenden Schwierigkeiten. Auch hier mögen ein paar Beispiele zur Verdeutlichung beitragen:
- Jede Kultur pflegt ihre eigenen Tabuzonen. Wurde ein Buch oder Text zB. für den hinduistisch geprägten Menschen geschrieben, kann eine wortgetreue Übersetzung durchaus Tabuzonen eines Europäers verletzen.
- Sprachliche Wendungen wie zB. ”die Übertreibung” oder ”das auf die Spitze treiben” werden in anderen Kulturkreisen nicht als Wendung betrachtet, sondern werden wörtlich verstanden.
- Jeder Autor setzt in der Regel (Ausnahme: Philosophen) sein Weltbild als selbstverständlich voraus und schreibt in diesem Sinne. So fließt im indischen Sprachgebrauch die unendliche Vielzahl der Götterwelt nahezu selbstverständlich in die Alltagssprache ein. Kennt der Leser die Bedeutung (Symbolisierung) der verwendeten Gottheit nicht, kann er mit dem Satz nichts anfangen oder versteht ihn falsch.
- Verwendet ein Autor oder ein verehrter Meister die direkte Sprache im Sinne ”du sollst…”, so wird dies im östlichen Kreis eine dem Vater oder Guru erlaubte und geachtete Form zuerkannt. Im westlichen Sprachgebrauch klingen solche Sätze ”pathetisch” und werden bereits vom Gefühl her abgelehnt.
- Während der östliche Kreis die bildhafte Sprache besonders schätzt, pflegt der Europäer eher die abstrahierende Sprachform. Viele bildhafte Darstellungen aus Japan, China oder Indien kann ein Europäer einfach nicht nachvollziehen oder verstehen und sie verpassen dann den Sinn, denen diese Bilder dienen sollen.
Das zweite Problem mit der Sprache
Alle Sprachen drücken sich aus auf dem Hintergrund der Kultur, die der Sprache zugrunde liegt. Wortwörtliche Übersetzungen (zB: von indischen ins deutsche) können niemals die enthaltenen Aussagen in ihrer vollkommenen Inhaltlichkeit wiedergeben. Dies ist die bereits beschriebene erste Problematik. Eine weitere stellt sich aus der beschränkten Sichtweise und Erkenntnis unseres Seins. Auch ein überbewusster Mensch (Meditationsmeister, Gurus oder Erleruchtete) stehen vor dem Problem, ihren Schülern Weisheit in einer ungeeigneten Sprache vermitteln zu müssen, in der für Erleuchtungserfahrungen weder Worte, Symbole noch Grammatik zur Verfügung steht
PD Ouspensky, Tertium Organum, über das Wesen der Zeit
Ouspensky, der in seinem Buch die Zeit als das undefinierbare des Raumes einer vierten Dimension betrachtet und beschreibt, sieht als Schlussfolgerung dieser Sachlage nachfolgende Zeilen als wesentlich an:
Neue Teile der Sprache sind notwendig, eine unendliche Anzahl neuer Wörter. Gegenwärtig können wir in unserer menschlichen Sprache über die Zeit nur durch Hinweise sprechen. Ihr wahres Wesen ist für uns unausdrückbar. Die Unausdrückbarkeit sollten wir niemals vergessen. Diese ist das Zeichen der Wahrheit, das Zeichen der Wirklichkeit. Was man ausdrücken kann, kann nicht wahr sein.
Alle Systeme, die die Beziehung der menschlichen Seele zur Zeit behandeln – alle Ideen der Existenz nach dem Tode, die Theorie der Wiederverkörperung, jener der Seelenwanderung, des Karmas – sind Symbole, die Beziehungen vermitteln versuchen, die nicht direkt ausgedrückt werden können wegen der Armut und der Schwäche unserer Sprache. Man sollte sie genauso wenig wörtlich verstehen, wie es möglich ist, die Symbole und Allegorien der Kunst wörtlich zu verstehen. Es ist nötig, nach ihren verborgenen Bedeutungen zu suchen, nach dem, was nicht in Worten ausgedrückt werden kann.
Das wörtliche Verständnis…entstellt den inneren Gehalt dieser Formen vollständig und beraubt sie ihres Wertes und ihrer Bedeutsamkeit.
Wenn bereits die Zeit, eine für uns doch relativ klare Erscheinung (?) eine solche Beurteilung notwendig erscheinen lässt, um wieviel schwieriger stellt sich dann die Beschreibung der Wahrheit dar, mit ihren Funktionen ”Unendlichkeit” und ”Zeitlosigkeit” und anderen, die wir nicht kennen.
Was kann ein europäischer Leser tun?
Sich bewusst zu sein, dass es solche Schwierigkeiten gibt, bietet die eigentliche Lösung an. Der Leser muss sich mit Geschichte, Kultur und Zeitepochen der Entstehung intensiv beschäftigen, um Originaltexte zu verstehen. Der Leser kann auch versuchen, auf Autoren zurückzugreifen, die speziell für den europäisch geprägten Kulturkreis ihre Werke verfassten. Radhakrishnan (Hinduismus) und Vivekananda (Yoga) sind solche Autoren aus Indien, Suzuki (Zen) ist ein solcher aus Japan. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Autoren europäischer Abstammung zu wählen, die diese fremden Kulturen studiert und gelebt haben wie Brunton, Sacharov (Yoga) oder Enomiyo Lassalle (Zen), und diese als Basis für weitere Studien zu verwenden. Dieser Ratschlag klingt aufwendig und er ist es auch. Aber wenn wir zB Yoga oder Zen praktizieren, damit die Grundlagen unseres Lebens und Denkens berühren und verändern, sollte uns auch dieser Aufwand nicht schrecken.