Verstand/Denken vs Intuition/Gefühl in der Spiritualität

Wer sich jemals mit Spiritualität, Esoterik oder den vielen Theorien und Methoden des Yoga und der Meditation beschäftigt hat, kann eine für unser Lebensgefühl im 3. JT seltsame Entdeckung machen: Es wird stets deklariert, das unser Verstand, unser Denken die Ursache allen Übels sei und wir diesen misstrauen und mehr Aufmerksamkeit dem Gefühl widmen sollten. Diese Überlegung halte ich durchaus für richtig, aber sehr oft ist die Absolutheit, mit der diese Aussage getätigt wird, mehr als deutlich überzogen und daher für den der Tradition folgenden Übenden gefährlich. Warum sehe ich das so?

Zunächst einmal hat uns schließlich erst unser Verstand in die Meditationsräume geführt, weil er dem Gefühl, das es mehr geben müsse als dieser Verstand uns normalerweise zugesteht, Rechnung trug. Mit anderen Worten: Der Verstand und sein Denken haben uns erst ermöglicht, uns Gedanken zu machen über die Kunst und Möglichkeit, den Verstand in seine Grenzen zu weisen und führt das dann auch in der Praxis aus. Absolut gedacht sagt uns also unser Verstand, folgten wir den übertriebenen Aussagen der Spiritualitätsliteratur, das wir auf ihn verzichten sollten und hilft uns auch dabei, sich selbst ruhig zu stellen. Das Gefühle und Intuitionen trügen können, ist aber doch allgemein bekannt und auch bewiesen. Die Scheidungsraten in freiheitlichen Gesellschaften sorgen da für ein mehr als deutliches Bild. Das aber auch der Verstand zu vollkommen unsinnigen Entscheidungen fähig ist, können wir ebenfalls tagein und tagaus in den Nachrichten erfahren. Wie also lösen wir dieses allzu offensichtliche Dilemma?

Wenn wir der Lösung auf die Spur kommen wollen müssen wir nicht die Spiritualität oder den Rationalismus, mit anderen Worten die Gegensätze des Problems, die sich scheinbar nicht in Einklang lassen, befragen, sondern uns zunächst einmal die Voraussetzungen der Dilemmabildung anschauen. Das Dilemma entsteht doch nur dann, wenn wir schon vor unseren Überlegung beschlossen haben, das sich Gefühl und Verstand unversöhnlich gegenüberstehen, wir also einen Gegensatz voraussetzen und diesen als Setzung absolut gültig zu verstehen gedenken. In unserer Logik, die meist ein Entweder-Oder verlangt, ist eine dritte Möglichkeit scheinbar nicht vorgesehen. Gerne berufen wir uns dabei auf den Dualismus und die Gesetze der Logik, denen wir folgen, aber: Erstens stimmt das mit dem Dualismus nicht, denn auch der Taoismus und andere spirituelle Traditionen folgen einem Dualismus (Yin – Yang), denn der hat per Definition…

Als Dualismus werden vor allem philosophische, religiöse, gesellschaftliche oder künstlerische Theorien, Lehren oder Systeme zur Deutung der Welt bezeichnet, die von zwei unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Grundelementen ausgehen, beispielsweise zwei Entitäten, Prinzipien, Mächten, Erscheinungen, Substanzen oder Seh- und Erkenntnisweisen. Beide Elemente stehen häufig in einem Spannungsverhältnis oder sogar Gegensatz zueinander, können sich aber auch als Polarität ergänzen. Wikipedia (DE)

…nichts mit Gegensätzen zu tun, und zweitens: Warum um alles in der Welt werden diese beiden denn als Gegensätze verstanden? Was wäre so schlimm daran, wenn die beiden, wie Dualität es zulässt, sich polar verhalten und vielmehr ergänzen statt trennen würden?

Denken wir den letzten Satz des vorherigen Absatzes einmal zu Ende. Dazu müssen wir uns den Begriff bzw. die Definition von Polarität in der Philosophie einmal genauer anschauen:

Polarität ist ein Ausdruck der Philosophie für das Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen. Sie unterscheidet sich vom Dualismus, bei dem die Größen als antagonistisch gesehen werden. Bei der Polarität geht es nicht um einen unvereinbaren Gegensatz, sondern um ein komplementäres Verhältnis. Eine Polarität besteht aus einem Gegensatzpaar und der Beziehung zwischen den Polen: hell – dunkel, kalt – heiß, schwarz – weiß, Mann – Frau, Liebe – Hass, arm – reich, krank – gesund usw. wobei einem einzelnen Pol nie eine Wertung zukommt. Die Pole sind die zwei gegenüberliegenden Enden derselben Sache, untrennbar zu einer Einheit verbunden und bedingen einander. Wikipedia (DE)

Wenn wir den Text richtig lesen und verstehen, sind die Pole lediglich die beiden Enden ein- und derselben Sache und darum keine Gegensätze. Sie sind komplementär 1. Wenn ich diese Konfiguration annehme und entsprechend verfahre, entsteht das oben genannte Dilemma einfach nicht, da sich die Pole sowohl ergänzen als auch gegensätzlich zueinander stehen. Es entsteht umgangssprachlich die logische Folgerung „sowohl als auch“. Ich sollte also aus einen jedem verständlich zu machenden Beispiel heraus der Tatsache, total „verliebt zu sein und für immer bei jemanden sein zu wollen…“ verbinden mit der Warnung des Verstandes, der erkennt: „Ich bin zwar verliebt…“, der aber auch die Folgen des „…für immer…“ abschätzen kann und dann die Warnung ausspricht, das die Chance des Gelingens im 3. JT. statistisch bei 50:50 steht. In Analogie dazu wäre die Aufforderung der spirituellen Literatur, den Verstand und das Denken aufzugeben und nur noch aus dem Bauchgefühl heraus zu leben, durchaus mit dem Hinweis zu verbinden, das der Mensch dabei eine wichtige, notwendig und auch brauchbare Erkenntnisweise verlieren würde, ohne die ein Bestehen in der heutigen Zeit gar nicht mehr machbar wäre.

  1. aus dem Franz.: (sich) ergänzend
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