Zeit und spirituelle Praxis

Was wir heute in der Arbeitswelt erleben und was viele Menschen krank macht ist ein falsches Verständnis dessen, was Spiritualität bewirkt. Diese Praxis führt uns nicht in ferne Welten mit großen und alles überragenden Fähigkeiten und Potentialen, sondern führt zuerst einmal zurück zu uns selbst, zur Wahrnehmung unseres Selbst, um genau zu sein. Und wir selbst sind ein ungeteiltes Ganzes, bestehend aus der polaren Beziehung von Geist und Körper. Und was als erstes geschehen und zugelassen werden muss in einer spirituellen Praxis, ist diese beiden wieder in Beziehung zueinander zu bringen, sie miteinander kommunizieren, miteinander sein zu lassen. Bereits in der Sprache trennt hier „mein Körper“ sich vom Ich ab. Das ist im Grunde genommen schon falsch, denn ein Ich besteht aus Ich in Symbiose mit diesem Körper, der selbst ebenfalls Ich ist. Ich bin ein Körper und ich bin ein Geist und auch die Beziehung der beiden zueinander ist Ich. Da ist keine Trennung. Da ist nur ICH.

Wenn ein Geist mit seinem Körper kommuniziert, wird er verstehen, dass ohne sein „Gegenüber“ nichts geht. Und daher wird er, der ständig denkt, zuhören lernen müssen, was sein Körper ihm erzählt. Und wenn diese Erzählung von Müdigkeit spricht, von Hunger, von Überforderung, mangelnder Ruhe und manch anderen Missständen dann wäre es angebracht, darauf auch zu reagieren und um Abhilfe bemüht zu sein. Und genau da setzt, richtig verstanden, eine spirituelle Praxis wie Yoga und Meditation auch an. Der Geist muss zuhören lernen, und dafür braucht er Zeit ohne Aktivität, chillen, gammeln, vor sich hin sinnieren, herumsitzen und Zeit vergeuden. Wenn man sich einen Meditierenden anschaut sieht man genau das: Das sitzt ein Mensch nichts tuend herum und hört in seinen Körper hinein, und er wird sogar von Lehrern angewiesen, das auch noch vollständig zuzulassen.

Mit und in seinen Körper zu leben heißt nicht, diesen zu verwöhnen und zu beschützen oder jeden Wunsch aus dem Befinden auszulesen. Ein Körper ist eine systemisch funktionierende Einheit aus  lebenden Zellen, die automatisch auf Umweltreize reagiert,  sich anpasst auf die Gegebenheiten des Moments, in dem wir uns gerade befinden. Der Körper plant nicht in die Zukunft, aber er reagiert auf die Vergangenheit, was nichts anderes heißt, als das er beständig bekannt schöne Umstände sucht und schlechte Umstände zu meiden versucht. Und bei letzteren wird er Widerstände aufbauen, die Kraft und Energie einsetzen, um etwas Ungewolltes zu verhindern. Diese Widerstände zeigen sich in Form von Unwohlsein bis hin zu kleinen als auch großen körperlichen Reaktionen, was wir schlicht und einfach dann Krankheit nennen. Auch schöne Momente des Lebens äußern sich körperlich, und das geht vom einfachen erröten bis zu euphorischen Wohlgefühlen, die fast schon einer Trance nahestehen. Nun ist es so, das zum Beispiel Yoga nach Patanjali sagt, das beide genannte Formen, Widerstand als auch Euphorie, zu meiden sein. Das erklärt sich bei der Euphorie aus der einfachen Tatsache, dass sie immer nur ein vorübergehendes Phänomen sein kann, daher nicht anhalten wird und in der Folge zu einer Stimmungslage führen muss, in dem deren Abwesenheit als Verlust erlebt werden wird. Der einfache Widerstand erklärt sich eigentlich von selbst. Wer hat schon gerne Ungewolltes? Ein ausgeglichenes, von Höhen und Tiefen verschontes Alltagserleben ist somit ein erklärtes Ziel des Yoga. Nun werden einige erschrocken fragen: Ist das nicht langweilig?
Die Antwort ist einfach: Nein, definitiv: nein!

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