Angst, Sorge, Macht, Moderation und Spiritualität

Wenn wir verstehen wollen, warum die europäische Kultur und Wirtschaftsweise so fatale Folgen für die Welt verursacht, müssen wir auf die Grundlagen, besser gesagt auf die Setzungen zurückgehen, die diese Kultur begründen. Viele unserem Denken zugrunde gelegten Motive stammen aus der griechischen Antike, wurden im Weltreich der Römer weiter ausgeformt und dann durch die christliche Lehre weiter verdichtet. Sie beruhen nahezu vollständig auf der Bereitschaft, einen Seins-Grund anzunehmen und über diesem ein System zu errichten, das auf Kausalität beruht. Vom Feuer über das Wasser gingen diese möglichen Urgründe über in Ideen und Monaden 1, Archetypen 2 und Existenzialien 3 und enden im Religiösen mit dem Gefüge eines transzendenten Gottes, der über die Welt wacht und der den eine Seele tragenden Menschen als Hüter seiner Schöpfung eingesetzt habe. Soweit eine mehr als grobe Aufzählung der europäisch-geistigen Entwicklungsgeschichte. Fundamental daran ist die Annahme eines Urgrundes, der das Denken in die Lage versetzt, die Kausalitätsreihe, die stets als gegeben angenommen wird, zu einem Ende zu bringen, die sonst als unendlich gesetzt werden müsste. Dafür wird dann jeweils ein gesetzter Urbegriff als eine Wirkung begriffen, die sich selbst als Ursache zugrunde gelegt sieht. Das kann ein Gott sein, die Seele, das Selbst, das Sein oder einfach auch der nur Urgrund. Dieses Postulat ist sozusagen „der Fixpunkt im All, der das Universum aus den Angeln zu heben versteht“, den Archimedes immer wieder ironisch betonte und zu finden oder zu erklären versuchte. Er war sich aber klar darüber, das dieser Fixpunkt nicht existiert, ja sogar, niemals existieren kann.

Kommen wir auf die Grundlagen westlich-europäischen Denkens zurück. Die Sätze dazu stammen aus der Feder von Aristoteles. Es sind deren vier, die alles bestimmen:

  • Den Satz von einem Grund, der ausreichend fest sein muss (Fixpunkt).
  • Den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Es gibt nur Seiend oder Nicht-Seiend).
  • Den Satz vom der zwingenden Widerspruchsfreiheit (Seiend kann nicht Nicht-Seiend sein).
  • Den Satz der Identität (Jedes Seiende ist sich selbst).

Den Satz von Grund wurde bereits beschrieben. Wenn wir Kausalität beibehalten, müssen wir irgendwo und irgendwann den Punkt finden, in dem alles endet. Das muss dann eine Wirkung sein, die sich selbst Ursache ist. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sagt aus, das man nicht gleichzeitig etwas sein und etwas nicht-sein kann. Das Glas ist entweder gefüllt oder leer? Da wird es schon schwierig. Was ist mit halb-gefüllt oder halb-leer? Oder es heißt, der Würfel ist rot. Aber es gibt Lichtverhältnisse, wo bestimmtes Licht einen sonst roten Gegenstand andersfarbig aussehen lässt. Oder nehmen wir den Gegensatz Mann-Frau. Da sind wir heute bereits weiter. Der Satz der Identität sagt aus, das sich zwei materialisierte Gegenstände oder Wesen sich mindestens in einer Eigenschaft oder einem Bezug unterscheiden müssen. Zwei vollkommen gleiche Dinge können nicht auf exakt dem gleichen Punkt im Raum stehen, sonst wären sie nicht Zwei. Das soll zunächst einmal genügen, um zu beschreiben, worum es bei der Betrachtung geht. Schon Klaus Heinrich 4 fragte nach, wofür diese Formeln eigentlich stehen sollen, wogegen sie sich eigentlich wehren. Warum sei das Gegenteil nicht zulässig, warum muss das Dritte ausgeschlossen sein und was könne dieses Dritte eigentlich sein. Warum muss/soll ich Widerspruch vermeiden und was wäre, wenn ich das zuließe? Und warum man Identität behaupten müsse, erschloss sich ihm wie mir auch nicht. Diese vier Sätze sind gesetzt, wie der Name schon sagt. Was bedeutet „setzen“ in diesem Sinne?

Gehen wir kurz in die Mathematik. Bei einer Iteration, die zur Auflösung von Gleichungen mit drei Unbekannten herangezogen werden kann, wird stets eine Unbekannte gesetzt. So werden aus drei Unbekannten zwei und die Auflösung kann erfolgen. Der gesetzte Wert stimmt aber nicht. Aus dem Ergebnis der Auflösung mit zwei Unbekannten aber kann ersehen werden, wohin sich der gesetzte Wert bewegen muss, um zu einem möglichen Wert zu kommen. Durch ständige Wiederholung und Korrektur des Setzwertes kann dann eine größtmögliche Annäherung an das „richtige“ Ergebnis erzielt werden. Wie gesagt war das eine Setzung und zwei verbleibende Unbekannte. In der Welt der Dinge aber gibt es zumindest schon vier Setzungen (s.o.), die unsere Logik begründen, und der Dinge gibt es Unzählige. Sind Dinge feste Gegenstände mit einer Erscheinungsdauer, bleibt es noch einfach. Wenn wir aber in die Philosophie eintauchen und uns mit Erscheinungen des Lebensgefüge von Menschen auseinandersetzen (Zu beachten ist das Setzen in der Auseinandersetzung…), werden die zu befragenden Dinge und mehr noch die Setzungen mehr und mehr ungreifbar (Niemand kann sie ergreifen…) Zu diesen gehören Gott, Vernunft, Sein, Seele, Unbewusstes, u.s.w. Nun ist doch erst mal die Frage zu klären: Stimmen diese Setzungen?“ Nehmen wir den christlichen Glauben. Gäbe es keinen Gott in der Transzendenz 5, bräche das ganze christlich-theologische Gerüst zusammen. Um das Gerüst zu erhalten, müssen wir glauben, dürfen wir nicht zweifeln, ist es nicht erlaubt zu hinterfragen. Ist das aber mit dem Begriff der Freiheit der Menschen und seiner Würde vereinbar? Und was beschreiben Freiheit und Würde eigentlich? Auch hier werden wir von Definition zu Definition gelangen, werden Setzungen die Basis des Befragen-Könnens bilden. Was würde denn erscheinen, wenn wir alle Setzungen in Frage stellen oder sie im Nachdenken sogar weglassen? Könnten wir dann noch unsere Sprache beibehalten? Gäbe es Sprache noch? Gäbe es weiterhin Ortungsprinzipien, nach denen wir uns richten können? Gäbe es Schutz vor Gewalt, Verbrechen, Macht? Ist Gewalt und Verbrechen nicht auch Machtausübung, und weiter gefragt, kann Machtausübung vor Macht schützen?

Vielleicht halten Sie jetzt inne und kommen zu der Frage, ober der Schreibende hier nicht einfach nur frech, kindlich oder sogar zersetzend unterwegs ist. Wo bliebe die Sicherheit, die Ordnung, die Orientierung, wenn wir dieses alles aufgeben? Die Antwort darauf ist sehr einfach und stellte sich schon oben in den Fragen ein: Etwas „in Frage stellen“ und „im Nachdenken etwas aufgeben“ heißt doch nicht, eine Revolution einzuleiten, alles umzustoßen und das Neue sogleich in die Realität umzusetzen. Nehmen wir die Gewalt im Alltag, die sich in vielen Formen höchstwahrscheinlich einstellen würde, wenn es keine Polizeigewalt gäbe, die das zu verhindern versteht. Wir setzen also Gewalt gegen Gewalt ein. Aber Gewalt/Macht auf der einen Seite erzeugt immer Ohnmacht auf der anderen Seite. Wie viel Ordnungsmacht ist also wirklich notwendig? 6 Macht aber wird nicht nur durch Polizei ausgeübt. Auch Vorgesetzte haben Macht, Amtsträger verfügen über Macht, Geldbesitz erzeugt Macht, Wissenschaft verfügt über Macht und die meisten Menschen weichen einer auf sie gerichteten Machtausübung gerne aus, auch wenn sie als gerechtfertigt daher kommt. Ich behaupte, sie fühlen ihre Ohnmacht, und das erzeugt Angst. Oder nehmen wir die Straßenverkehrsordnung. Ohne diese würde Chaos und Willkür auf den Straßen herrschen? Ein Ort in Deutschland hat den Versuch gemacht, in der Innenstadt alle „Regeln durch Schilder und Ampeln“ abzuschaffen 7, und siehe da, es wurde langsamer gefahren, es kam zu weniger Unfällen und der Verkehr lief trotzdem flüssiger, weil weniger Wartezeiten auftraten. Sogar Fußgänger fühlten sich sicherer. Das hat eine Untersuchung der Hochschule dort sogar wissenschaftlich belegt. Wir müssen erfragen oder hinterfragen, ob unsere Ordnungsprinzipien wirklich sinnvoll sind oder nicht. Schauen sie in Bilder einer indische Großstadt. Der Verkehr dort ist unerträglich dicht, es bestehen wenige Regeln und es funktioniert irgendwie doch.

Nun kann dieses Thema immer weiter ausgeführt werden und wir kämen auch in der Größe einer Enzyklopädie nicht zu einer Lösung, die Grundlage der Umgestaltung einer Gesellschaft werden könnte. Nun beabsichtige ich das auch gar nicht. Ich frage eher nach dem was falsch ist in den Grundzügen unseres Denkens. Die Frage ist doch nicht zuerst: Was macht uns Angst? Die Frage ist doch eher so zu stellen: Was ist Angst? Und eine andere Frage ist nicht: Was will ich (für ein Leben führen)? Die Frage ist zunächst: Was ist Leben? Die Frage ist auch nicht: Wer bin ich? Die Frage ist: Wer stellt diese Fragen? Damit muss ich mich beschäftigen, bevor ich nach Lösungen suche. Nun könnte ich einfach sagen, diese Fragen stellt mein Selbst, meine Vernunft, meine Seele oder die Monade, und sie richtet sich an Gott, den Schöpfer oder das Universum. Und ich harre der Dinge und warte auf die Antwort, die sich mir irgendwie und irgendwann erschließt. Ich höre eine Predigt, lese ein Buch, höre eine Anleitung, habe eines Geistesblitz (Intuition, Führung) und die Antwort erscheint. Wirklich? Wie viele Setzungen waren in der Antwort enthalten? Sind diese Setzungen richtig? Und ich stelle meine Fragen erneut und bekomme andere Antworten, die wiederum Setzungen enthalten. Und so dreht sich die Scheibe immerzu und nach Monaten und Jahren habe ich mich nicht von der Stelle zu bewegen vermocht. Bei mir zu Hause stehen hunderte möglicher Antworten auf ebenso viele Fragen in Billy-Regalen und die Bücher dazu füllen Listen, die ich mittlerweile elektronisch verwalten muss, da mir längst der Überblick verlorengegangen ist. Haben sie mich weitergebracht? Ich fürchte: Nein. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, das sie mir halfen, Fragen zu stellen, besser, konkreter, genauer, die an mich selbst gerichtet Setzungen aufspüren und sodann hinterfragen. Ich fand unzählige davon, und ich fürchte, ebenso viele oder mehr stehen mir noch bevor.

  1. Der Terminus Monas (von altgriechisch μονάς monás „Einheit, Einfachheit“) oder Monade bezieht sich naturphilosophisch auf eine gedachte Einheit von zugleich physischer und psychischer Bedeutung. Die Monadenlehre unterscheidet sich von der Urstofflehre der Vorsokratiker durch die Anwendung mathematischer Methoden auf die sich ergebenden Fragen, insbesondere hinsichtlich der seit René Descartes vollzogenen begrifflichen Trennung von Res extensa und Res cogitans und erscheint damit als holistischer Aspekt des Leib-Seele-Problems. In der Geschichte der Philosophie wurden unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs Monade entwickelt, deren Grundaspekte aber erstaunlich konstant blieben. Sie beginnen bei den Pythagoreern und entfalten sich insbesondere im Neuplatonismus, in der christlichen Mystik, der jüdischen Kabbala sowie in der hermetischen Tradition. Später bündeln sich dann fast alle in der Leibnizschen Monadologie, bevor sie im 19. Jahrhundert in Spezialbedeutungen auseinanderfallen. Wikipedia DE
  2. Archetypen sind definiert als psychische (auch psychophysische) Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten und das Bewusstsein beeinflussen. Auch zum Bewusstsein selbst und zu seiner Entwicklung zeige die Kulturgeschichte archetypische Bilder, wie zum Beispiel die Himmelslichter, besonders auch die Sonne als Tagesgestirn (auch in Verbindung mit Vorstellungen von lichtbringenden, also symbolisch verstanden bewusstseinsbringenden Gottheiten). Einige Archetypen entsprächen zentralen kollektiven Ur-Erfahrungen der Menschheit wie z. B. weiblich/männlich, Geburt, Kindheit, Pubertät, Wandlung und Tod. Auch die Vielfalt religiöser Erfahrung könne angesehen werden als nach archetypischen Mustern strukturiert, welche interreligiös (religionsübergreifend) anzutreffen seien. Das tiefenpsychologische Konzept der Archetypen geht auf den Schweizer Psychiater und Psychologen Carl Gustav Jung zurück, der die Analytische Psychologie erfand. Es ist ein offenes Konzept, das keine exklusiven Definitionen von Archetypen und keine bestimmte Anzahl derselben enthält.
  3. Existenzialien sind neben den Kategorien eine Möglichkeit, wie sich Sein beschreiben lässt. Der Begriff der Existenzialien, durch Martin Heidegger geprägt, ist dabei dem menschlichen Sein, dem Dasein im Sprachgebrauch Heideggers, vorbehalten. Er ist wesentlich mit Heideggers Programm der Fundamentalontologie verbunden.
  4. Klaus Heinrich (geb. 23. September 1927 in Berlin; † 23. November 2020) war ein deutscher Professor für Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage. Er gehörte zu den Mitbegründern der Freien Universität Berlin. Seine Vorlesungen gelten als Großversuch der Selbstaufklärung über das Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt. Tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, hrsg. v. Wolfgang Albrecht u. a., Frankfurt am Main und Basel 1981
  5. Transzendenz beschreibt den Bezug auf einen Gegenstandsbereich, der jenseits möglicher Erfahrung bzw. vorfindlicher Wirklichkeit liegt. In Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft wird damit auf ein metaphysisches Wesen des Wirklichen an sich selbst Bezug genommen, das sich in der philosophisch-theologischen Tradition mit dem Begriff eines göttlichen, unendlichen Grundes erfahrbarer, endlicher Wirklichkeit verbindet.Wikipedia (DE)
  6. Das Phänomen RAF begann zu einer Zeit, als polizeiliche Gewalt eingesetzt wurde, um politisch Andersdenkende zu unterdrücken. Erst kamen Knüppel und Wasserwerfer, dann Tränengas und Pistolenschüsse…, und dann wehrten sich die Ohnmächtigen…
  7. siehe Drachten und Umgebung, H-ttps://www.deutschlandfunk.de/stadt-ohne-schilder-100.html, Der Schilderwald wurde von 100 auf 4 Schilder reduziert. Es wurde Kreisverkehr eingeführt.
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