Angst, Sorge, Macht, Moderation und Spiritualität

Ich beginne neu. Das bisher geschriebene steht für die Welt, die ich vorfinde, ja vielleicht sogar schaffe mit meiner vorgegebenen Wahrnehmung, meiner immerzu trennenden Sprache und den Setzungen einer, nein, heute sogar mehrerer Traditionen, die weit über das mir Bekanntgewordene hinausreicht. Sie alle suggerieren mir Begehren, verschreiben mir Tun-müssen, beschreiben mir Denken-müssen, verpflichten mich aus einer Angst heraus zur Sorge. Aber wovor soll Angst herrschen, wovor soll Sorge schützen? Ist Begehren wirklich das Maß aller Dinge, leben wir, um zu begehren? Leben wir, um die Früchte unseres Begehrens zu ernten, zu genießen oder zu erdulden? Oder macht unser Begehren, durch die Angst, die es erzeugt durch die Möglichkeit des Nicht-Gelingens, nicht erst das sichtbar, was in spirituellen Praktiken herausgekitzelt, hervorgebracht oder entborgen wird? Gehen wir also doch einmal davon aus, das Begehren die menschliche Neigung ist, die ihn genau zu dem befähigt, was mit der spirituellen Praxis hervorgehoben werden soll. Muss dann nicht, um den Spiralen und Kreisen, die oben beschrieben wurden, zu entgehen, nicht noch etwas dazu kommen, noch etwas wirken, um die Wiederkehr des Ewig-Selben zu vermeiden? Was könnte das sein? Welche Neigung, welche Fähigkeit, welche Gabe könnte das bewirken? Es dürfte nichts absolut Neues sein, dürfte die eingeschworenen Besitztümer und Gewohnheiten nicht allzu sehr bedrohen, dürfte in allen Traditionen nur mit überwiegend positiv besetzten Inhalten gefüllt sein, dürfte aber hier und da die Negation nicht ausschließen. Und das Gesuchte sollte fähig sein anzuknüpfen an die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse gleich welcher Art diese auch sein mögen. Das einzige geflügelte Wort dazu, das mir einfällt, ist Maß halten oder „maßvoll“ im Sinne von moderat und/oder „nicht übertrieben“. Leider hat unserer deutscher Wortschatz das Maß halten nicht mehr in seiner Liste stehen. Ich nehme daher für künftige Beschreibungen das Wort „moderat“, das im Duden für gemäßigt und maßvoll steht.

Was bedeutet moderat vorgehen im oben genannte Sinne, wenn wir über Kausalität, also das Ursache-Wirkung-Prinzip sprechen, wie es am Anfang im ersten Kapitel beschrieben wurde? Dementsprechend muss alles, was wir einer Wirkung zuschreiben, aus einer Ursache erwachsen. Nun gibt es aber als Ursachen meist viele Möglichkeiten und Menschen haben die Neigung, uns die uns gefügigste herauszusuchen.

Exkurs: Nehmen wir das Ergebnis einer Analyse als Beispiel. Ein Ergebnis zeigt Daten, die ungewöhnlich sind und so eigentlich nicht auftreten dürften, wenn das geprüfte Material „in Ordnung“ (…spricht für sich…) sein soll. In einer sachgerechten Analytik wäre es daher notwendig, alle Möglichkeiten durch Versuchsanordnungen zu überprüfen, bis der Fehler gefunden wurde. Das können in der Summe sehr viele werden. In der Regel der Wirtschaftlichkeit wird das vermieden, indem das gesamte Material entweder verworfen wird (…, da überprüfen meist teurer als ersetzen ist…) oder aber irgend eine Möglichkeit der Prüfmethode in einem Fehlerprotokoll einfach gesetzt wird und somit das Ergebnis aus der Reparatur/Studie, zu der die Analyse diente, herausgelöst und ignoriert werden kann (willkürliche Setzung). Nun wird jeder vermuten, das die erste Lösung der Standard sein sollte? Weit gefehlt, in meiner Erfahrung ist die willkürliche Methode eher als Standard anzusehen. Wie oft, frage ich, hat man ein Gerät zur Reparatur gebracht und nach dem erstmaligen Anschalten stellt sich heraus, das es noch immer genau so klappert wie zuvor. Ein Teil wurde zwar ersetzt, aber eben gerade das nicht, der das unsägliche Klappern verursachte. Halten wir fest: Menschen neigen bei komplexen Problemlösungen gerne und oft zu willkürlichen Setzungen.

Des Weiteren sind/neigen kausale Wirkungsketten, die Menschen nachzuvollziehen sich bemühen, ein hochgradig verzweigte und verwickelte Gebilde. Eine wahrgenommene Wirkung kann viele Ursachen haben, nicht nur die eine, die wir vordergründig als gegeben wahrnehmen. Schon kleine und eher winzige Beigaben können große unvorhersehbare Wirkungen entfalten. Der mythische Schmetterlings-Flügelschlag, der ein Erdbeben auslöst, ist dafür sozusagen das narrative Maximum. Was aber wäre denn gegeben, wenn wir auf die grundsätzliche Verwendung der Kausalität verzichten würden und sie als einen Sonderfall ansehen würden, der nur bei rein praktischen und technischen Dingen hier und da zu Anwendung käme? Das Lebendige sozusagen, das Organische würde nur zum Teil, das psychische aber nur selten diesem Prinzip unterworfen sein. An dessen Stelle würde das Prinzip des Prozesses stehen, der nirgend wo und nirgend wann anfing und endet? Und Lebewesen sind Teil und Ganzes dieses Prozesses zugleich, wie das im Taoismus als gültig angesehen wird. Dann gäbe es keine Ereignisse mehr, die sich in Ursachen und Wirkungen unterteilen ließen. Dann gäbe es nur den Strom des Lebens, der Tendenzen und Neigungen zeitigt und nur darüber beeinflusst oder geglättet werden könnte. Und darin sollte/müsste sich der Mensch moderat verhalten, sollte Handlungen und Methoden meiden, die zu Ohnmacht, Hass, Ablehnung und dergleichen beitragen können und sollte sich eher im Sinne von Nicht-Tun, Nicht-Handeln oder Wu Wei bewegen, wobei dieser Begriff geklärt werden muss. 1 Die Frage stellt sich, ob nicht erwogen werden sollte, das Prinzip, das Wu Wei zugrunde liegt, doch hier und da auf das menschliche Denken auch in Europa anzuwenden.

Gemeinschaften bilden sich aus vielen, oftmals sehr unlogischen Gründen. Der gemeinsame Feind lässt Feinde auch schon mal zu Verbündeten werden, sagt ein Sprichwort.

Exkurs: Oftmals verbinden sich Menschen in Familien zu einer Gemeinschaft, die eben gerade nicht auf Mitgefühl und Vertrauen beruht. Das ist kein modernes Phänomen, das gibt es seit den Anfängen der Geschichtsschreibung. Auch heute noch wird einer Freundschaft oftmals weniger Bindung zugetraut als einer Blutsverwandtschaft. Ehen wurden zum Beispiel lange Zeit aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Motiven gestiftet. Liebe und gegenseitiges Vertrauen sind sehr modernen Phänomene und stehen noch nicht lange in hohem Kurs. Auch bilden sich Gemeinschaften heraus, ohne das diese irgendwie beabsichtigt oder begründet werden. Ehe sich der Einzelne versah, wird er einer Gemeinschaft zugehörig und kann sich aus dieser auch nicht mehr befreien. Viele Filme der Neuzeit befassen sich mit diesem Thema. Auch Staatsangehörigkeiten, Hautfarben, gemeinsames Erleben oder gemeinsame Interessen führen zu Gemeinschaften.

  1. Der Begriff Wu wei, auch Wuwei, stammt aus dem Daoismus, erstmals wird er im Daodejing erwähnt. Er wird definiert als Nichthandeln im Sinne von Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns. Der Begriff Wu Wei begründet sich aus der daoistischen Auffassung vom Dao, dem umfassenden Ursprung und Wirkprinzip, das die Ordnung und Wandlung der Dinge bewirkt, so dass es nicht weise wäre, in das Walten dieses Prinzips einzugreifen. Die letzte Wahrheit ist gemäß dieser Lehre eins und handelt spontan, ohne dass der Geist des Menschen in sie eingreifen müsste. Die Rückkehr zum Ursprung kann nur erfolgen, wenn das dualistische Denken aufgegeben wird und die Handlungen natürlich und spontan erfolgen. Wu Wei bedeutet nicht, dass man gar nicht handelt, sondern dass die Handlungen spontan in Einklang mit dem Dao entstehen. Dadurch wird das Notwendige leicht und mühelos getan und sowohl Übereifer als auch blinder Aktionismus (die als hinderlich betrachtet werden) vermieden. Es ist ein Zustand der inneren Stille, der zur richtigen Zeit die richtige Handlung ohne Anstrengung des Willens hervortreten lässt. Das Vollkommene wird im Daoismus als leer, weich und spontan gedacht und entsprechend sollte auch das Handeln sein, d. h. ohne ein Eingreifen des dualistischen Intellekts, sich der Situation anpassend und intuitiv. Das vollkommene Handeln erkennt intuitiv das beste Mittel und es erscheint als sinnlos, seine Energie in unfruchtbaren Handlungen um der Handlung willen zu erschöpfen, sondern das Handeln sollte sich auf die geeigneten Umstände und Mittel beschränken. Die beste Übersetzung des Begriffes Wu Wei wäre somit „Nicht-Eingreifen“, „tätiges Nichthandeln“ bzw. „Handeln durch Nicht-Handeln“, und es handelt sich um eine Art von kreativer Passivität. Aus dieser Haltung des Geschehen-Lassens resultieren auch Gewaltlosigkeit und Widerstandslosigkeit als natürliche Folge. Wikipedia DE
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