Narrativ vs. Spiritualität

In vielen spirituellen Traditionen sind Gier, Hass und Verblendung als die Grundübel allen Seins benannt, verursacht durch die wirkkräftige Macht des Denkens und der Vorstellungskraft, und der Verstrickungen in beiden. Diese Ansicht, diese Beschreibung greift in meiner Vorstellung aber immer noch etwas zu kurz.

Die Ursachen von Gier und Hass benötigen immer eine Erzählung, an der ich mich, mein Leben, meinen Erfolg und mein Selbstbild messe. Diese Erzählungen, wissenschaftlich Narrative genannt, sind Bilder, die dem Menschen im Mythos-Zeitalter, das wir zwar technisch überwunden zu haben glauben, aber dem wir meiner Meinung nach immer noch in der breiten Masse anhängen, eine Vorstellung davon gibt, wie ein Leben und Erleben auf dieser Welt zu sein habe, welche Gefühle und Wahrnehmungen wir brauchen, welche Fertigkeiten wir besitzen, und , sehr wichtig, welchen sozialen Status wir anstreben, halten oder erreichen müssen, um dieser Welt und seinen Bewohnern zu genügen. Und hier setzt dann die Verstrickung ein, die nicht neben, sondern mit Gier erfolgreich verläuft, oder durch Misserfolg Hass gebiert. Die Verblendung, die dritte verfehlende Kraft, die ich oben genannt wurde, sehe ich als eine Grundvoraussetzung an, durch die Gier oder Hass erst ermöglicht wird. Denn diese Verblendung erst setzt den Standard, der mich alsbald verstricken wird, und zwar durch eine Erzählung, die mir das notwendige Wissen und das notwendige Ideal einflößt, das die Gier im Gelingen entfacht oder das Scheitern begründet, das Hass erst möglich macht.

Betrachten wir zunächst einmal das Narrativ, die Erzählung ganz allgemein. Wir erkennen ein Narrativ besonders gut dann, wenn Empörung laut wird, wir oder wer auch immer also etwas tut, was man -der Normalfall im gelebten Narrativ- eben nicht tut. Ein einfaches Beispiel mag das belegen. Ein unbeliebter Nachbar ist gestorben, ein Mann, der mit nahezu allen im Streit gestanden hat und gerade zu Grabe getragen wird. „Über Tote nur Gutes zu reden…“ ist eine Anforderung unseres zurzeit in Deutschland (2018) gelebten Narratives. Ob ich mich nun über den Tod dieses Menschen freue, ob ich, christlich korrekt, ihn bedaure und mich um seine Seele sorge oder ob es mir egal ist, das er gegangen ist, ändert nichts an der Anforderung, zusammen mit den Hinterbliebenen zu trauern oder zumindest auf der Beerdigung so zu tun und kein hoch erfreutes Gesicht oder eine diesbezügliche Bemerkung  zu machen. Das ist so, weil die Trauer, und das ist weithin relativ unbekannt, den Hinterbliebenen, nicht den Toten, gilt. Sie soll den Verlust zu verarbeiten und die Lücke schließen helfen, die der Verstorbene hinterlässt. Sie ist Zuspruch und ein Versprechen auf Hilfe durch die Gemeinschaft. Sie gilt nicht, zumindest wie im Narrativ gedacht, dem Verstorbenen. Wieviel anders würden Sterbefälle sein, wenn alle Menschen der betroffenen Gemeinschaft diese Narrativ-Anforderung verstehen würden und entsprechend handelten.

Was wichtig ist und aus dem Beispiel klar wird, ist das die Erzählung, auf der unsere Gemeinschaften beruhen und die sie tragen, auch verstanden werden müssen. Sehr viele Details diesbezüglich aber werden besonders heute nicht mehr richtig verstanden, weil einerseits der Rahmen des Lebens sich verändert hat und andererseits es aus der Mode zu kommen scheint, sich über solch grundlegenden Fragen noch Gedanken zu machen. Anders ist es meiner Ansicht nach nicht zu erklären, das neben den wirtschaftlichen und politischen auch die spirituellen Fragen des Lebens, die nebenbei gesagt heute wichtiger sind als je zuvor, mit einer so dünnen Oberflächlichkeit behandelt werden. Warum sind spirituelle Fragen aber heute so wichtig?

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