Narrativ vs. Spiritualität

Und was kann heute wirklich schon als Humbug betrachtet wird oder zu der Aussage „der spinnt…“ Anlass geben. Für den Psychologen heute ist jede Wahrnehmung, jede Äußerung, jeder Glaubensinhalt eines Menschen ein ernst zu nehmendes Erkenntniskonstrukt. Da gibt es so ohne weiteres kein richtig und falsch, gesund und krank, sondern jeder Inhalt, so absurd er auch dem man –Narrativ- erscheinen mag, ist eine wirkmächtige Kraft. Wir alle haben doch die wunderschönen Dokumentationen gesehen, die die Glaubensinhalte und Antriebe uns vollkommen fremder Völker darstellen. Da sind doch, wie im Voodoo zum Beispiel, keine Spinnereien am Werk, sondern Kräfte, die mächtige Wirkungen entfachen. Dass sie bei dem einen wirken, beim anderen aber nicht, ist nicht Zufall, sondern beruht auf der Erzählung, nach der im Einzelnen gelebt wird. Und so belegt sich auch die Wirkkraft jeder Erzählung, im kleinen (Familie) wie im großen (Volk, Religion) Zusammenhang.

Kommen wir zurück zur Spiritualität, und fragen, was ist das überhaupt? Begrenzt sich das wirklich auf das Tragen von bunten Klamotten, symbolischen Zeichen, einer bestimmter Ernährung, des Ausübens besonderer Praktiken, der Durchführung und Beiwohnung von Ritualen, dem Singen von Liedern und Mantras und des jeweiligen Bekennens dazu? Oder ist das nicht doch etwas ganz anderes? Wie kommt es eigentlich dazu, sich zu spiritueller Überlegung aufzuraffen, und wohin soll denn die Überlegung in ihrer Erfüllung eigentlich hinführen? Die meisten spirituell aktiven Menschen treibt entweder eine Sehnsucht oder eine Notlage (auch mentale Probleme können Notlagen sein…) zur spirituellen Überlegung. Und oftmals werden darin nicht konkret nach Ursache und Lösung geforscht, sondern die Überlegung führt meist zu einer Hinterfragung des Narratives, das gerade mal wieder versagt hat. Man kann sagen, dass hier eine Wahl stattgefunden hat, die Wahl nämlich, statt durch sein Versagen in der Gemeinschaft mit Hass und Ablehnung zu reagieren, das Narrativ dieser Gemeinschaft in Frage gestellt wird. Oder um es treffender auszudrücken: Nicht ich habe versagt in der Gemeinschaft, sondern das Narrativ der Gemeinschaft ist falsch und wird jetzt von mir angezweifelt oder sogar abgelehnt. Auch die Sehnsucht nach Veränderung, nach einer anderen Welt(sicht), ist ein vor die Wahl gestellt sein, nur mit einer, zumindest für den betrachtenden Außenstehenden, geringer empfundenen Wucht.

Was in der Spiritualität immer in Frage steht ist das Narrativ des vergangenen und des künftigen Lebens aus heutiger Sicht. Es geht um die Fragen, „wie will ich leben…“, „wie gestalten sich meine Tage…“, „wie vermeide ich in mir Schmerz, Unheil, Hass und Angst“ und „wie komme ich zu einem glücklichen, erfüllten Leben…“? Dazu gehören, wie in allen spirituellen Traditionen zu finden, Praxis, Studium, Erfahrung und eine tiefgreifende Wandlung in Bezug zu gesellschaftlichen Regeln, Gewohnheiten, Ansichten und Bildern, mit anderen Worten eine Veränderung des gelebten Narratives. Und gleich, ob Zen, Yoga, Thai Chi, Schamanismus oder religiöse Anschauung, immer hat diese Wandlung eine Veränderung des Alltäglichen zur Folge. Nur Veränderung kann Sehnsucht stillen, nur Veränderung kann Hass, Gier und Verstrickung auflösen, nur Veränderung kann die Verblendung besiegen. Neue Perspektiven erfordern andere Standorte. Das gilt im körperlichen, im geistigen und auch im gesellschaftlichen Kontext. Der Glaube, sich nicht (mehr) verändern zu können, ist mit gelebter Spiritualität nicht vereinbar.

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